Mit der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers im Januar 1933 und der nachfolgenden Gleichschaltung der Gemeindevertretungen kam die NSDAP auch in Crailsheim in eine beherrschende Stellung. In einem Vortrag unter dem Titel „Die `Machtergreifung´ in Crailsheim und die NSDAP vor Ort“ befasste sich der Satteldorfer Historiker Giselher Technau am 25. November 2009 in der Crailsheimer Volkshochschule mit den lokalen Geschehnissen Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre.
Zusammengestellt von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert
Vorträge über „Machtergreifung lokal – Crailsheim 1933“ erscheinen 2010 als Buch
Hohenlohe-ungefiltert dokumentiert unten wichtige Passagen aus Giselher Technaus Vortrag. Die Quellen für die hochgestellten Ziffern sind am Ende jedes Abschnitts angegeben.
Bis zu seiner Pensionierung arbeitete Giselher Technau als Geschichtslehrer am Crailsheimer Albert-Schweitzer-Gymnasium (ASG). Alle Vorträge des Themenschwerpunkts „`Machtergreifung´ lokal – Crailsheim 1933“ erscheinen im Jahr 2010 in einem Buch, das vom Crailsheimer Stadtarchiv herausgegeben wird.
NSDAP im Huckepack-Verfahren in den Gemeinderat
Im Herbst 1931 standen in Crailsheim Bürgermeisterwahlen an, und es war für die NSDAP aussichtslos, einen geeigneten Kandidaten zu finden, der dem seit zwanzig Jahren amtieren-den Amtsinhaber, Friedrich Fröhlich, gewachsen gewesen wäre. Deshalb richtete Ortsgruppenleiter Häfner ein Schreiben an den Bürgermeister, „das er als Anerkennung und Vertrauensbeweis für sich“ gebucht habe. Nach der Auffassung von Heinrich Schöller habe der Brief aber nur “Höflichkeitsfloskeln“ enthalten, „denen keine Bedeutung beizumessen ist“.1 Während das Verhältnis zum Bürgermeister in der Nazi-Partei umstritten war, herrschte bezüglich der Gemeinderatswahlen am 6. Dezember 1931 Konsens: Um für das Bürgertum wählbar zu sein, wurde eine gemeinsame Liste der rechten Gruppierungen – Stahlhelm, DNVP und NSDAP – aufgestellt, die ihrer „Kampffront“ den zugkräftigen Titel <Deutsche Zukunft>2 gaben. Auf diese Weise brauchte die NSDAP keine zehn Kandidaten3, sondern nur drei, die dann per Huckepack auch mit den Stimmen der Koalitionsparteien in den Gemeinderat gelangen konnten.
Bäckermeister Fritz Scheck erster Handwerksmeister in der Crailsheimer NSDAP
Bäckermeister Fritz Scheck war der erste Handwerksmeister, der sich von den Überredungskünsten des Ortsgruppenleiters überzeugen ließ und am 1. Juli 1931 der Partei beitrat.4 Als populärer Vertreter des bürgerlichen Mittelstands war er für die Crailsheimer NSDAP ein großer Gewinn. Scheck war geschäftlich gut situiert, hielt sich aber auch gerne in geselliger Vereins-Runde auf, war leutselig und zu Scherzen – auch auf Kosten anderer – aufgelegt, außerdem ein großer Sänger vor dem Herrn. Als weiteren Kandidaten konnte Häfner den Hauptlehrer Eugen Kübler aufbieten. Kübler, dem gleichen Jahrgang 1898 wie Scheck angehörig, war am 1. Dezember 1931 wieder in die Partei eingetreten. Als Schwerkriegsbeschädigter sah er „die Möglichkeit, durch seine Mitarbeit zu zeigen, dass er trotz seiner Verwundung noch etwas für die Allgemeinheit leisten konnte“.5 Außerdem habe er „die Überzeugung gewonnen (..), dass nur eine große Partei, die sowohl national wie sozial ist, Deutschland retten kann. (…) Die beiden Programmpunkte hatte aber nur die NSDAP in sich vereinigt.“ Dritter im Bunde war ein Neubürger, der Kürschner und Präparator Emil Gärtner, der das Gebäude des ehemaligen Textilgeschäfts Landauer am „Schwanenplatz“ in der Stadtmitte erworben hatte, in dem er einen Pelzhandel betrieb. Gärtner wurde ebenfalls am 1. Dezember 1931 Parteimitglied und avancierte zum Truppführer der neugegründeten „Motor-SA.-Einheit“, die etwa 30 Mann umfasste. Während der zahlreichen Wahlkämpfe des Jahres 1932 erhöhte sie die Mobilität der NSDAP, da sie in den Oberämtern hohenloheweit eingesetzt werden konnte.
Die Crailsheimer NSDAP, die einen dritten Weg – die gemeinsame Liste – gewählt hatte, fühlte sich durch die Haller Großveranstaltungen ermutigt, beim Turnverein Crailsheim vorstellig zu werden: man wolle den noch im März verweigerten Zutritt zur Turnhalle wie andere bürgerliche Vereine auch. Der Vorsitzende des Turnvereins, Otto Hilpert, gab gegenüber der Aufforderung der NSDAP nach. So konnte am 5. Dezember „neben anderen Rednern Pg. Schwede, der damalige 1. nationalsozialistische Bürgermeister von Coburg“1, sich über die „deutsche Zukunft“ auslassen. Wie in Crailsheim war Franz Schwede in Coburg eine Listenverbindung mit bürgerlichen Parteien eingegangen, wodurch er eine Mehrheit im Gemeinderat erhielt. Er wurde bereits 1929 dritter Bürgermeister, 1931 zunächst zweiter, dann erster Bürgermeister, da sich sein Vorgänger „den nervlichen Belastungen, die die ständigen Angriffe von Seiten der NSDAP mit sich brachten, nicht gewachsen zeigte“.2 Der Aufwand, den die Nationalsozialisten vor Ort betrieben, lohnte sich: „die Parteigenossen Kübler, Gärtner und Scheck zogen auf dem Crailsheimer Rathaus ein“.3 Sie schlossen sich der „bürgerlichen Fraktion“ an, was den Stadträten nach Küblers Ansicht einige Unannehmlichkeiten mit sich brachte: „Gleich, nachdem ich in den Gemeinderat gewählt wurde, wurde ich von einigen Pg. angeödet, weil ich mit dem Juden Stein an einem Tisch saß“.4
Die Wahlerfolge 1932
In Crailsheim gab es nur wenige Personen, die bereit waren, vor 1933 Führungsaufgaben innerhalb der NSDAP zu übernehmen. Dies zeigte sich besonders dann, wenn ein Personalwechsel anstand. Im August 1931 verließ Robert Walter, der Kassier der Ortsgruppe, Crailsheim und kehrte nach Wiesenbach zurück, weil er arbeitslos geworden war. Doch seine Kontakte zu Crailsheim rissen nicht ab, weil er die Kassengeschäfte der Ortsgruppe bis 1933 weiterführte. Im September 1931 ging der Führer der Ortsgruppe, Oskar Häfner, aus Crailsheim fort, da seine Firma, die Motorenfabrik Keidel, infolge der Weltwirtschaftskrise in Konkurs gegangen war. Häfner blieb auch nach seinem Umzug nach Stuttgart „seinem SA-Sturm“ verbunden, indem er „jede Woche noch einmal nach Crailsheim“ kam.1 Aber inzwischen hatte die Führung des SA-Sturms 13/121 Ulrich Veil, Oelhaus, übernommen, der zum Sturmführer befördert worden war. Die Leitung der Ortsgruppe wurde einem „alten Kämpfer“ übertragen, Heinz Schöller. Den Wegzug des Führers der Hitlerjugend, Karl Faber, im Februar 1932 konnte die NSDAP nur verkraften, weil sich Hermann Reinhardt als HJ-Gefolgschaftsführer und Unterbannführer zur Verfügung stellte. Die Zusammenarbeit des neuen lokalen Spitzentrios, zu dem sich noch als weiteres Mitglied der Führer der NSDAP-Gruppe im Gemeinderat, Eugen Kübler, gesellte, ging nicht reibungslos vonstatten. Besonders Heinz Schöller entwickelte eine sehr eigenwillige Auffassung von Parteiarbeit.
Zustimmung der Crailsheimer Bürger zur NSDAP im Frühjahr 1932 überwältigend hoch
Abgesehen davon war die Zustimmung der Crailsheimer Bürger zur NSDAP im Frühjahr 1932 überwältigend hoch: Vom ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl im März 1932 bis zum zweiten im April 1932 steigerte sich der Anteil der Stimmen für Adolf Hitler im Oberamt von 41,9 Prozent auf 53,6 Prozent, so dass Crailsheim unter den 64 Oberämtern des Gaues Württemberg-Hohenzollern eine Spitzenposition einnahm. Nur die hohenlohischen Nachbarkreise Gerabronn und Öhringen hatten eine größere Zustimmung aufzuweisen, während Gaildorf und Hall knapp hinter Crailsheim lagen. Bezeichnend ist, dass in den Oberämtern Mergentheim und Künzelsau wegen ihres hohen katholischen Bevölkerungsanteils bedeutend weniger Stimmen für Hitler abgegeben wurden.2
Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 entschieden sich in der Stadt Crailsheim 43,9 Prozent für die NSDAP, im Oberamt Crailsheim bereits mehr als die Hälfte: 51,3 Prozent. Weitaus an der Spitze stand allerdings das Oberamt Gerabronn, wo die NSDAP fast eine 2/3-Mehrheit verbuchen konnte: 64 Prozent. Für den Mittelstand gab es nun kein Halten mehr; im August konnte die Gauleitung in Stuttgart einen regelrechten Ansturm registrieren. 13 Handwerksmeister traten in die Partei ein, darunter befanden sich sowohl Handwerke mit starrem Bedarf wie Bäcker, Metzger, Frisör, aber mehr noch mit elastischer, also konjunkturbedingter Nachfrage wie Schneider, Maurer, Zimmerer, Schreiner und technische Berufe wie Elektromonteur, Mechaniker.1 Dagegen meldete sich nur ein Kaufmann an. Denn den Parteibeitritt „konnte man sich aus Geschäftsgründen nicht leisten“2, wenn nicht jüdische Kunden verloren gehen sollten. Schwierigkeiten wurde den Kaufleuten aber nicht in erster Linie von den jüdischen Bürgern gemacht, sondern von den eigenen Leuten in der Partei. So erhielt der Lebensmittelhändler Wilhelm Bauer, Parteimitglied seit Sommer 1931, am 2. Januar 1933 ein geharnischtes Schreiben von Hermann Reinhardt3, in welchem er „aus Gründen der Disziplin und Sauberkeit unserer Bewegung“ monierte, „dass Sie in Ihrem Geschäft einen Juden beschäftigen“. Reinhardt forderte eine Erklärung dafür und teilte weiterhin das Gerücht mit, „dass Sie der Lieferant der Firma Stein (Jude) sein sollen“. Dieser Umstand errege „nicht nur innerhalb unserer Partei, sondern auch in neutralen Kreisen“ Aufsehen. Reinhardt drohte an, die Partei werde, falls nicht Abhilfe geschaffen werde, „die Konsequenzen ziehen und Sie aus unserer Bewegung ausschließen“.
Kaum war Hitler am 30. Januar 1933 von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden, sah SA- Sturmbannführer Ulrich Veil endlich seine Stunde gekommen. Ohne vorherige Anmeldung bei der Stadtverwaltung organisierte die SA eine „spontane“ Begeisterungs-Kundgebung: „Am Abend des denkwürdigen Tages fanden sich die Kameraden der Bewegung zu einem Fackelzug zusammen.“1 Auch der Wahlkampf für die Neuwahl des Reichstags am 5. März 1933 wurde maßgeblich durch die SA bestritten: „Am 5. März 1933 wollte der Führer sich vom deutschen Volk selbst die Bestätigung geben lassen. Propagandamärsche durch den ganzen Kreis wurden durchgeführt, die Stimme des Führers durch den Aether erfasste die Herzen unserer Volksgenossen.“2 Für Bürgermeister Fröhlich war die Kanzlerschaft Hitlers jedoch kein Grund, darauf zu verzichten, die wahlkämpfenden Parteien auf die Einhaltung der entsprechenden Vorschriften zu kontrollieren. Wieder war es Kreisleiter Schöller, der im Oktober 1933 sich bitter beklagte, Fröhlich habe ihn vor der Reichstagswahl vom März 1933 in übler Manier bürokratisch abgefertigt: „Am 25.2.33, also eine Woche vor der Wahl, habe ich einen S.A.-Propagandamarsch anstatt 48 Stunden vorher nur 16 Stunden vorher angemeldet. Ich war der Meinung, der S.A.-Führer habe ihn schon angemeldet. Dieser aber war der Meinung, ich hätte ihn angemeldet. Sobald ich wusste, dass die Anmeldung noch nicht erfolgt sei, rannte ich aufs Rathaus und holte dies nach. Wegen dieser zu späten Anmeldung hat Fröhlich mich bei der Staatsanwaltschaft (Ellwangen, der Verf.) – noch 8 Tage vor der Wahl ! – angezeigt. (…) Kein Bürgermeister im Bezirk (…) hat uns derartige Schwierigkeiten ständig gemacht wie Fröhlich.“3 Die Anzeige erging auch gegen den Sturmbannführer, denn Veil vermerkte als zweite und letzte „Strafe für die Bewegung“ in der „Kampfzeit“: „Verfolgung durch Staatsanwaltschaft Ellwangen wegen Durchführg. eines Propagandamarsches bzw. Fahrt im Bereich meines damal. Stubas. III/122 (Gerabronn, Hall, Crailsheim, Mergentheim)“4
Rechtsradikale Parteien bekamen am 5. März 1933 knapp 70 Prozent der Stimmen
Die Reichstagswahl vom 5. März erbrachte in der Stadt bei einer Wahlbeteiligung von 90,7 Prozent eine Zustimmung von 69,7 Prozent für die beiden rechtsradikalen Parteien NSDAP und DNVP.5 Durch diese klare Entscheidung gegen die Demokratie waren dem Bürgermeister die Ordnungsmittel des Rechtsstaats aus der Hand geschlagen. Dabei waren sich die Wähler durchaus im Klaren, dass die Nazis die demokratischen Institutionen abschaffen bzw. verändern wollten und dass die „Volksgemeinschaft“ nicht mehr gleiches Recht für alle Bürger bedeuten würde. Manche Bürger waren sogar schon kurz nach der „Machtergreifung“ enttäuscht, wenn die Abrechnung mit den „Volksfeinden“ zu mäßig oder überhaupt nicht erfolgte. So schrieb eine Bürgerin im August an den in Tiefenbach geborenen Karl Waldmann, der im Juli 1933 zum Staatssekretär beim Staatsministerium aufgestiegen war und als Vertrauter des Reichsstatthalters Murr galt, einen Brief6, in dem sie unter anderem ausführte: „Am 3. März d. J. hielt hier Minist. Mergenthaler die letzte Wahlrede vor der Reichstagswahl, verschiedene Pg. u. Bekannte von mir waren uns einig, dass nach dem Sinne des Redners besonders auch in Crailsheim in den Ämtern gesäubert gehört, u. ich habe dann ein diesbezügl. Schreiben an Minist. Mergenthaler gerichtet mit der Unterschrift: <Viele Wähler>. Als sich jedoch darauf keine Änderung zeigte, richtete ich an Minist. Mergenthaler nochmals ein Schreiben mit der Bitte, mich doch zu empfangen. Auch das blieb ohne Antwort.“
„Dankkundgebung“ vor der Johanneskirche nach dem Wahlsieg
Der Triumph der NSDAP am 5. März bot dem SA-Sturmbannführer erneut willkommenen Anlass, die Präsenz seiner SA-Stürme der Öffentlichkeit vorzuführen. Diesmal reichte ein bloßer Fackelzug nicht mehr: „Der Sieg des 5. März 1933 wurde mit einer großen Dankkundgebung auf dem Platz vor der Johanniskirche gefeiert.“7 Als nächsten Schritt vollzog die SA symbolisch, was immer das Ziel der NSDAP gewesen war: die Besitzergreifung der Stadt Crailsheim. Im „Vaterlandsfreund“, der Gerabronner Zeitung, erschien dazu am 10. März ein passend verfertigter Artikel, der den historischen Augenblick in konzentrierter Form festhielt. „Gestern abend 7.30 Uhr marschierte (!) die SA und der Stahlhelm mit klingendem Spiel der Stahlhelmkapelle Onolzheim8, des SA-Spielmannszugs und der Kapelle Glück vor dem Rathaus auf, wo die Hakenkreuzfahne, die Flagge schwarz-weiß-rot und die Stahlhelmfahne gehisst wurden. SA.-Sturmführer Veil hielt eine zündende Ansprache. Während der Flaggenhissung wurde (!) das Deutschland-Lied und das Horst-Wessel-Lied gesungen. Eine tausendköpfige Menge wohnte der Kundgebung bei. Anschließend marschierten die nationalen Verbände nach dem Schloss, wo ebenfalls die Hakenkreuzfahne gehisst wurde.“9 Nicht nur für den SA-Führer, auch für Kreisleiter Schöller bedeutete der 9. März eine Genugtuung, konnte er doch endlich die „Neutralität“ des Bürgermeisters durchbrechen und sie als „politische Gesinnungs- und Überzeugungslosigkeit“ entlarven. „Selbst bei der durch die S.A. vorgenommenen Flaggenhissung war weder von Fröhlich noch von sonst einem Rathausan-gestellten oder Schutzmann etwas zu sehen“10, monierte Schöller und erblickte in dieser Zurückhaltung ein weiteres Indiz dafür, dass Fröhlich als Bürgermeister der Stadt nicht mehr geeignet sei.
Zäher politischer Überlebenswillen des Bürgermeisters Fröhlich
Zunächst aber bestand in Crailsheim ein Machtvakuum. Hätte Schöller sich durchsetzen können, so wäre Fröhlich eher heute als morgen seines Amtes verlustig gegangen. Doch der Kreisleiter unterschätzte den zähen politischen Überlebenswillen des Bürgermeisters, der in den bewegten zwei Jahrzehnten seiner Amtszeit schon andere, ihn außerordentlich strapa-zierende Gefahrenlagen überstanden hatte. Außerdem stand Schöller allein auf weiter Flur. Kein weiterer maßgeblicher Repräsentant der lokalen NSDAP wollte am Stuhl des Stadt-oberhaupts sägen. Zwar war die Ablösung Fröhlichs zur Debatte gestanden, aber die pragmatisch denkenden Nazis um Hermann Reinhardt und die Gemeinderäte beschlossen, „alles beim alten zu lassen“.11 Diese Entscheidung dürfte durch den brutalen Überfall der SA-Trupps aus Heilbronn und Crailsheim auf Crailsheimer Bürger, wie er am 21. März 1933 unter Führung des für Crailsheim zuständigen SA-Standartenführers Fritz Klein geschah, eher bekräftigt als abgeschwächt worden sein. Denn eine Absetzung des Bürgermeisters in diesen chaotischen, von der SA beherrschten Tagen, hätte einen Garanten für die Kontinuität in der städtischen Verwaltung beseitigt und damit gegenüber dem gerade erst in Scharen zur NSDAP übergelaufenen Bürgertum kontraproduktiv gewirkt.
Kreisleiter Schöller ließ die SA-Schläger gewähren
Gegenüber den Umtrieben der SA erwies sich der Kreisleiter als machtlos. Am 21. März versuchte er nicht einmal sich über den Ablauf des SA-Überfalls ein eigenes Bild zu machen, geschweige denn mit der Autorität seines Amtes den Aktionen Einhalt zu gebieten. Schöller wohnte im vorletzten Haus der Haller Straße, weit vor der Stadt. 1946 erklärte er sein Ver-halten folgendermaßen: „In meiner Wohnung war auch das Geschäftszimmer der Kreisleitung. Am 21.3. vorm. 10.00 Uhr sagte mir der Hausbesitzer L., er habe in der Stadt erfahren, es sei ein Kommando Schupo angekommen, das bei verdächtigen Elementen nach Waffen suchen solle. Ich erwiderte, das gehe den S.A.-Kommissar an.“12 Während sich der Kreisleiter regelrecht in seiner Wohnung vergrub, herrschte in der Stadt ein reges Treiben. Denn anlässlich des „Tages von Potsdam“, an dem sich angeblich die Tradition des alten Preußen mit der Dynamik der jungen NS-Bewegung verband, waren die öffentlichen Gebäude beflaggt, es war unterrichtsfrei, und am Abend sollte die SA, wie inzwischen gewohnt, mit einem Fackelzug eine öffentliche Kundgebung einleiten. Wer sich in der Stadt aufhielt, konnte das Geschehen vor Ort beobachten, ohne allerdings den ganzen Umfang der SA-Übergriffe wahrnehmen zu können. „Am 21. März (…) saß ich auf einem Lastwagen vor der Drogerie Reinhardt/Helfferich. Wir sollten zum Arbeitsdienst in Richtung Mergentheim gefahren werden, wozu wir uns – weil arbeitslos – freiwillig gemeldet hatten. Gegenüber – vor dem „Falken“ – sahen wir in lockerer Ordnung eine Gruppe von Crailsheimer Juden laufen, darunter Dreyfuß und Siegfried Stein, umgeben von Crailsheimer SA-Leuten. Niemand wusste, was das zu bedeuten hatte. Eigentlich schenkte auch kaum jemand dem Trupp größere Beachtung. Es waren keine Zwangsmaßnahmen erkennbar. (…) Von den Ereignissen später im Schloss habe ich nichts gewusst. Unser LKW fuhr kurz darauf aus Crailsheim heraus.“13
Adolf Stein: „Herr Fröhlich, schützen Sie mich!“
Für Hermann Reinhardt boten die Vorgänge des 21. März Anlass zur Kritik, die allerdings das Nazi-System nicht in Frage stellte: „Es kamen Dinge vor, die mir selbst sehr peinlich waren.“14 Besonderen Anstoß nahm er daran, dass ein hochdekorierter Offizier im Weltkrieg, der Kaufmann Ludwig Dreyfuß, öffentlich von SA-Leuten vorgeführt und kommandiert wurde, die zu jung waren, um im Weltkrieg gekämpft zu haben. Das widerspreche der Achtung vor dem Soldatentum. Aber seine Bemühungen, den Kreisleiter zum Eingreifen zu bewegen, scheiterten schon daran, dass er „telefonisch nicht erreichbar“ gewesen sei und „kein Auto zur Verfügung stand“. Dieser Zustand sei „unmöglich“ gewesen.15 Im Gegensatz zu Schöller war Fröhlich informiert und erreichbar, wusste aber, dass er gegen den Heilbronner Standartenführer und seine Crailsheimer Gehilfen nichts ausrichten konnte. So richtete der angesehene jüdische Geschäftsmann Adolf Stein, der stellvertretender Vorsitzender des Handels- und Gewerbevereins war, an ihn die dringliche Bitte: „Herr Fröhlich, schützen Sie mich!“ Der Bürgermeister konnte nur antworten: „Tut mir leid, ich kann es nicht!“16
Fröhlich wollte nach dem Fackelzug zur Bevölkerung sprechen
Fröhlich blieb tagsüber weiterhin aktiv und war bestrebt, wenigstens am Abend des „Tages von Potsdam“ auf der Parteiveranstaltung die Gelegenheit zu erhalten, an die Bevölkerung Crailsheims das Wort richten zu können. Dieses Bemühen bestätigte Schöller, wenn er dem Bürgermeister nachträglich mit dem Vorwurf überzog: „ Sind Sie ein Mann von Charakter, Herr Fröhlich, wenn Sie im Februar 33 Ihre Gehässigkeit der N.S.D.A.P. gegenüber durch diese Anzeige dokumentieren und am 21. März ds. Js. dreimal im Lauf des Tages selber und durch Vermittlung von Stadträten an die Partei herantreten und winseln, man solle sie doch nach Schluss des Fackelzuges die „Festrede“ halten lassen, damit, wie Sie wörtlich sagten, Sie mit der Bevölkerung wieder in Verbindung kämen.“17
Von Judenmisshandlungen berichtet
Obwohl Schöller die Annäherungsversuche Fröhlichs den Tag über registriert hatte, wollte er von den eigentlichen Vorgängen im Schloss erst später erfahren haben: „Abends traf mich Herr L. wieder u. berichtete mir, (…) dass es sich um Judenmisshandlungen u. nicht um Waffendurchsuchungen gehandelt habe.“18 Schöller verfasste noch am gleichen Abend ein Schreiben an die Gauleitung19, in dem er Auskunft darüber verlangte, inwieweit die Parteiführung mit dem gewalttätigen Auftreten der SA konform gehe. Dass dies noch am Abend des 21. März geschehen sein soll, muss verwundern, weil Schöller mit den Vorbereitungen der Kundgebung hätte beschäftigt sein müssen und dort die SA-Führer hätte selbst befragen können. Das Antwortschreiben der Gauleitung datierte erst vom 29. März 1933, nachdem sich die SA-Standarte bereits in Hohenlohe ausgetobt hatte und Reichskommissar von Jagow seines Amtes enthoben worden war.20 „Wir bestätigen Ihr Schreiben vom 21. März und teilen Ihnen mit, dass das Vorgehen gegen die Juden in Crailsheim weder mit Wissen noch auf Anordnung der Gauleitung geschehen ist. – Die Grundlagen für weitere, derartige Vorkommnisse sind inzwischen beseitigt worden.“21
Die zweite Stufe der Machtübernahme beruhte auf dem „Vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933.1 Es verfügte die Neubildung der Gemeinderäte auf der Grundlage der Stimmen, die die Parteien bei der Reichstagswahl vom 6. März bekommen hatten. Da Bürgermeister Fröhlich im Amt verblieben war, konnte er im April die Stadtgemeinde in alleiniger Verantwortung nach außen vertreten und ihre inneren Angelegenheiten verwalten.2 Erst am 4. Mai trat der neue Gemeinderat zur „Einführung und Beeidigung der Stadträte“ zusammen. Von den 17 ehemaligen Stadträten der bürgerlichen Gruppe und der SPD waren nur zwei übrig geblieben. Dagegen gesellten sich zu den drei alten Nazi-Stadträten acht weitere Parteimitglieder. Die Fraktion vertrat den städtischen Mittelstand. Zwei Stadträte waren Beamte, fünf Kaufleute, sechs Handwerker und nur einer Arbeiter. Weder Ortsgruppenleiter Engelhardt noch Kreisleiter Schöller saßen im Gemeinderat. Im Mittelpunkt der konstituierenden Sitzung stand stattdessen der Bürgermeister, dem seine Unersetzlichkeit in der Stadtverwaltung bestätigt worden war. Im Gegenzug zu der ihm gegebenen Beschäftigungsgarantie war Fröhlich bereit, seine ganze Arbeitskraft bedingungslos in den Dienst des neuen Staates zu stellen, so wie er es schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik getan hatte.
Weil Oberamtssparkassier Otto Hilpert, 1. Vorsitzender des Turnvereins, nicht Parteimitglied war, musste er es erdulden, dass der neue Kassier ihm vor die Nase gesetzt wurde. „Ich musste auf den Platz des vierten Beamten zurückweichen.“1 Das war die Rache der Nazis dafür, dass er und sein Verein ihnen gegenüber in den Jahren 1931 und 1932 nicht immer gefügig gewesen war. Aber auch um den Bestand seines Lebenswerkes, des Turnvereins Crailsheim, musste Hilpert fürchten: „Nach dem Umsturz begann für mich die Zeit des Hoffens und Bangens.“ In vorauseilendem Gehorsam hatte der Verein das Berufsbeamten-Gesetz vom 7. April 1933 sinngemäß schon für seine Mitglieder angewandt. Im Protokollbuch wurde am 27. April vermerkt:2 „Infolge Einführung des Arierparagraphen sind die jüdischen Mitglieder bis auf 3 freiwillig ausgetreten. Die restl. 3 wurden aus der Mitgliederliste gestrichen.“ Zu den aktiven Mitgliedern, die den Verein verlassen mussten, gehörte Theo Stein,3 der damit zum zweiten Mal ein Opfer des Nazi-Terrors wurde. Für die Crailsheimer SA war dieses bereitwillige Einknicken des Turnvereins noch nicht ausreichend, da sie die neue Turnhalle uneingeschränkt benutzen wollte. Auf Otto Hilpert wurde Druck ausgeübt. „Offen sprachen die Führer in meiner Gegenwart davon, die Halle dem Verein wegzunehmen, ihn aufzulösen.“ Erst als Hilpert im Herbst 1933 in die SA-Reserve eingetreten war, gewann er „allmählich wieder Oberhand in der Verwaltung der Halle wie des Vereins und bei der sogenannten Gleichschaltung des Vereins im Jahre 1933 wurde mir von der Parteikommission, infolge des Eintretens des Ortsgruppenleiters Kübler, nach längerer Beratung sogar gestattet, den Turn- und Sportverein weiterzuführen.“
Als vierte Stufe der Machtübernahme lässt sich die Auflösung oder Umwandlung der nicht-staatlichen und nichtstädtischen „Vereine, Gesellschaften, Genossenschaften, Innungen, Verbände usw.“1 bezeichnen. Das Adressbuch der Stadt von 1931 zählte 111 von ihnen auf. Der Auflösung unterlagen die fünf Vereine der jüdischen Minderheit. So wurde der Vorstand des „Einklang Crailsheim“, des jüdischen Geselligkeitsvereins, der Kaufmann Josef Böhm, am 21. März von der SA brutal misshandelt. Auch der Vorstand des „Israelitischen Jugend-vereins Crailsheim, der Kaufmann Siegfried Stein, wurde am gleichen Tag im Schloss ausgepeitscht. Der Vorstand des „Israelitischen Wohltätigkeits- und Krankenpflegevereins Crails-heim“, der Kaufmann und Stadtrat David Stein, verlor auch seine Ämter als Stellvertreter und Schriftführer der „Freiwilligen Sanitätskolonne Crailsheim“ und als Schriftführer der „Frei-willigen Feuerwehr Crailsheim“. Damit wurden diese städtisch unterstützten Einrichtungen „gleichgeschaltet“. Aufgelöst waren seit dem 1. Mai die neun im Adressbuch verzeichneten Gewerkschaftsverbände. Dagegen konnten die kirchlichen Vereine, von denen das Adressbuch vierzehn aufführte, zunächst weiterexistieren.
Wenig Probleme sich anzupassen, hatten die sechs Vereine der Krieger bzw. Kriegsbeschädigten. Im Gegensatz dazu hatte der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Ortsgruppe Crailsheim“ keine Überlebenschance.
Als fünfte Stufe der Machtübernahme in Crailsheim lassen sich drei spektakuläre Vorgänge im Juni und Juli 1933 bezeichnen, die sich vom Anlass her und in der Durchführung voneinander abheben, aber ein gemeinsames Ziel hatten: den Einzelnen in der „Volksgemeinschaft“ aufgehen zu lassen. Es waren der „Massenaufmarsch“ der Hitlerjugend, der „Massenrausch“ bei der Durchfahrt Adolf Hitlers, schließlich die Vereinnahmung des „Massenmediums“ Zeitung durch die NS-Presse. An allen drei von der Gauleitung geplanten und überwachten Aktionen war der ehemalige Volksschullehrer Friedrich Schmidt (geboren in Wiesenbach) maßgeblich beteiligt oder treibende Kraft gewesen. Er stieg in Württemberg zum stellvertretenden Gauleiter auf.
Am 1. Mai 1933 hatten – wie SA-Führer Veil feststellte – „Tausende von Volksgenossen“ aus Crailsheim ihre Bereitschaft erwiesen, sich auf dem Volksfestplatz zu versammeln, und am 11. Juni waren wiederum „Tausende gekommen, um an dem Tage der deutschen Jugend teilzunehmen“. Doch die Möglichkeiten, die Bevölkerung in Massen in Bewegung zu versetzen, waren durchaus noch nicht ausgeschöpft. Eine weitere Gelegenheit hierzu ergab sich mit der Absicht des „Volkskanzlers“ Adolf Hitler, sich im Anschluss an die Wagner-Festspiele von Bayreuth über Nürnberg nach Stuttgart zu begeben, wo das Deutsche Turnfest vom 22. bis 30. Juli stattfand.1 Hitler hatte mit der Zusage für eine Rede auf dem Abschlusstag des „Reichsturnfests“ lange gezögert. Aber als seine Teilnahme feststand, ergriff der stellvertretende Gauleiter Friedrich Schmidt die Initiative, um Hitler nicht erst in Stuttgart, sondern schon an der württembergischen Landesgrenze einen angemessenen Empfang zu bereiten. Schmidt kannte sich mit den Verhältnissen in den Oberämtern Crailsheim und Gerabronn bestens aus und wusste auch, wie er mit Hilfe von SA und Partei in kurzer Zeit große Menschenmassen mobilisieren konnte. Nachdem Hitlers Durchfahrt durch das Grenzstädtchen Crailsheim tags zuvor für den 30. Juli Gewissheit geworden war, konnte Schmidt – selbstredend nicht ohne das Einverständnis von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels2 – vor Ort die Leitung des Geschehens selbst in die Hand nehmen. Oberster Grundsatz war, dass keiner der am Sonntagmorgen angerückten SA-Leute bzw. Parteimitglieder eine Uniform tragen durfte; denn der Auftrieb der Massen sollte spontan und herzlich wirken.
Der Ablauf der nur wenige Minuten dauernden Durchfahrt Hitlers war soweit als möglich vorgeplant. Über die östliche Stadteinfahrt – zwischen der Gewerbeschule auf der rechten und der Leonhard-Sachs-Schule auf der linken Seite – prangte ein großes Transparent, das die „Turnerkameraden“ angebracht hatten. Auf ihm stand geschrieben, verfasst von einem bekannten „Heimatdichter“: „Vom ersten schwarz und roten Pfosten – Heil Hitler und von Tschammer-Osten“. Vom Jubel und den Heil-Rufen der an der Straße stehenden Zuschauer begleitet, fuhr das Kanzler-Auto in Richtung Innenstadt. Vor dem zentral gelegenen Frankschen Brunnen hatte sich eine „Menschenkette“ aus Frauen und Kindern, bewaffnet mit Blumensträußen, gebildet, die das Gefährt kurzzeitig zum Stehen zwang. Eine der Frauen ging auf Hitler zu, griff ungeniert ins offene Auto, schüttelte ihm die Hand und überreichte ihm einen Blumenstrauß.3 Der „Volkskanzler“ war auf diese Art von Sympathie nicht eingestellt, erhob sich daraufhin und verbrachte das nächste Teilstück seines Weges bis zur „Drehscheibe“ stehend. Nun schirmten die SS und Helfer den Wagen links und rechts besser vor der Menge ab.4 Dennoch kam es auch hier zu einem kurzen Zwischenstopp, wobei sich ein Jugendlicher erkühnt haben soll, auf den Autokühler zu steigen. Nach Klärung dieser Situation reichte es den Fahrgästen vollends, der Wagen verschwand mit dem „Volkskanzler“ über den Vorort Altenmünster und die Stadt Gaildorf ohne weiteres Aufhebens nach Stuttgart, wo Hitler „am frühen Nachmittag“ ankam.
Menschen warteten bis zu fünf Stunden auf Hitlers Durchfahrt – Kein Wort in den Zeitungen
Nach Aussage eines Augenzeugen seien die Leute bereits seit 8 Uhr morgens in Crailsheim herumgestanden und hätten gewartet. Hitler sei gegen ein Uhr durchgefahren. Dann hätten die Leute zum Teil bis zwei Uhr morgens abgewartet, weil sie meinten, Hitler werde auf der Rückfahrt wieder durchkommen.5 In der überörtlichen, aber auch in der lokalen Presse wurde die Durchfahrt Hitlers durch Crailsheim mit keinem Wort erwähnt. Sicherlich war die von oben herbeigeführte und gelenkte Episode propagandistisch kaum auszuwerten; dass aber die Presse sich jeder Meldung enthielt, demonstrierte, wie sehr sie den Vorschriften der Partei-Zensur bereits unterworfen war.
Den „Fränkischen Grenzboten“, die „Crailsheimer Tageszeitung“, der in selbst verantwortlicher Berichterstattung über Hitlers Durchfahrt am 31. Juli hätte berichten können, gab es seit dem 1. August 1933 schon nicht mehr. Er erschien von diesem Tag an mit dem Untertitel: „Nationalsozialistisches Amtsblatt sämtlicher Behörden für den Oberamtsbezirk Crailsheim“, und außerdem mit dem unauffälligen Zusatz versehen: „Redaktion und Verlag der NS.-Presse Württemberg G.m.b.H.“6 Noch kleiner war vermerkt: „Druck von A. Richter in Crails-heim“.7 Als Begründung für die zwangsweise Vereinnahmung führten die Vertreter der „NS.-Presse Württemberg“, Verlagsleiter Dr. Weiß und Presseleiter Overdyck, an, dass „das deutsche Volk (…) klar und deutlich dem Führer der Revolution das Vertrauen ausgesprochen“ habe. Nun erwarte „das deutsche Volk (…) von seiner Presse (…), dass sie sich voll und ganz für den Staat einsetzt, dem es (…) gläubig und zukunftsfroh vertraut.“ Dagegen forderten „gewisse bürgerliche Zeitungen (…) <Geistesfreiheit>“, die aber nur „geistiger Egoismus war, den man als <öffentliche Meinung> herausgab“.
„Fränkischer Grenzbote“ wurde gleichgeschaltet
Auf den beiden vorderen Seiten des „Fränkischen Grenzboten“ vom 1. August brachte fast die gesamte Parteispitze des Gaus Württemberg und des Kreises Crailsheim unter dem stabreimenden Motto: „Dem Fränkischen Grenzboten zum Geleit!“ ihre Verlautbarungen zu der Gleichschaltung der Lokalzeitung zu Papier. Den Anfang machten Reichsstatthalter Wilhelm Murr und Ministerpräsident Christian Mergenthaler sowie Innenminister und Justizminister Dr. Jonathan Schmidt. Alle drei gehörten der „Frontkämpfergeneration“ des Weltkriegs an. Typische Formulierungen , die sie gebrauchten, waren z.B.: „Sammlung“, „innere Einheit“, „Dienst am Vaterland“. Ihnen folgten der stellvertretende Gauleiter Friedrich Schmidt und der „Führer der Gruppe Südwest“, Gruppenführer Ludin, beide Angehörige der „Kriegsjugendgeneration“. Schmidt betrachtete die Presse als „ein dienendes Werkzeug des Staates“, die Zeitung solle „Mittler sein zwischen Führer und Volk“. Ludin war sich sicher, die Presse sei „besonders geeignet, die Bewegung in allen Volksschichten zu verankern“.
Als nächste in der Reihenfolge brachten fünf führende NS-Funktionäre der Stadt ihre Standpunkte zur Kenntnis. Kreisleiter Heinrich Schöller übertrug der Lokalpresse die Aufgabe, „Sprachrohr der Regierung, Bildungs- und Erziehungswerkzeug für das Volk zu sein“. Der „Führer der Standarte 478“, Ulrich Veil, sprach seine „S.-A.-Kameraden“ direkt an und erklärte: „Der Kampf um die Neugestaltung Deutschlands ist in seinen Hauptteilen beendet.“ Die SA bleibe aber die „unerschütterliche Kampftruppe Eures Führers Adolf Hitler“. Den „Fränkischen Grenzboten begrüße er „als neuen Kampfgenossen“. Ortsgruppenleiter Robert Engelhardt sah die „uneingeschränkte Pressefreiheit“ als eine „Errungenschaft der Novem-berrevolte von 1918“. „Die Presse (…) war ein Mittel zu dem Zweck, die Volksgenossen einander zu entfremden, leidenschaftlichen Hass zu säen, der vor dem Ungeheuerlichsten, dem Brudermord, nicht zurückschreckte. Über 300 Kämpfer unserer Bewegung mussten ihr Leben lassen, weil ein Teil der Presse versteckt und offen zum Mord am Volksgenossen aufforderte, während die sogenannten anständigen Zeitungen kaum ein Wort der Entrüstung fanden.“ Der „Volkskörper“ werde wieder gesunden, „wenn wir dafür Sorge tragen, dass unsere Zeitung in keinem Hause, in keiner Familie fehlt.“ Der Kreisobmann des NS.-Lehrerbundes Eugen Kübler forderte die „Heimatzeitung“ auf, „nach dem Grundgedanken des <Nationalsozialistischen Lehrerbundes>“ zu arbeiten: Die Begriffe Internationalismus, Pazifismus, Demokratie und Gottlosigkeit müssen im Volk wieder ersetzt werden durch die Begriff Rasse, Wehr, verantwortungsbewusstes Führertum und Religiosität. Heil Hitler!“ Den Abschluss bildete der „Führer der Hitler-Jugend im Oberamt Crailsheim“, Gefolgschaftsführer Otto Lauth. Er sah sich als Vertreter der jungen Generation, der der Kampf wichtiger war als die Lektüre der Zeitung. „Die Hitler-Jugend will kämpfen! (…) Wir werden die Ausschließlichkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung herbeiführen, genauso wie die SA. die Totalität der politischen Macht errungen hat.“
Kreisleiter: „Marxisten am nächsten Laternenpfahl aufhängen“
Die Beiträge der NS-Funktionäre belegten eindrucksvoll, welche ideologischen Vorstellungen sie mit der Rolle der Presse im Führerstaat verbanden. Zum ersten und letzten Mal trat die Spitze der Crailsheimer NSDAP demonstrativ gemeinsam vor die Öffentlichkeit, so dass sich durchaus der Höhepunkt und zugleich der Abschluss der Machtübernahme feststellen ließe. Das letzte Wort bekam Kreisleiter Schöller zugeteilt, der sich auf zwei Spalten gesondert über das Thema: „Die Presse im nationalsozialistischen Deutschland“, äußern durfte. Schöller befasste sich nur kurz mit der Beschreibung dessen, was „eine deutsche Presse“ kennzeichnete. Fast die Hälfte seines Beitrags behandelte die „geradezu schrecklichen Zustände, die in Sowjetrussland herrschen“ und er wies auf das „Unheil“ hin, dass „die sozdem.-marxistische Lehre“ in Deutschland angerichtet habe. Er zog die Schlussfolgerung: „Wer heute (…) noch mit marxistischen Parteien liebäugelt, der verdient, am nächsten Laternenpfahl aufgehängt zu werden.“ Nachdem Schöller nochmals gedroht hatte, „Elemente“, die Träger „marxistischer Gedanken“ seien, würden „rücksichtslos unschädlich gemacht werden“, kehrte er zur „Aufgabe der Presse“ zurück. Sie müsse Ungeduldigen „immer wieder klar (…) machen“, dass „der nationalsozialistische Staat“ erst entstehen könne, „wenn die heutige Jugend einmal das erwachsene Deutschland sein wird“. „Die Erziehung der Jugend im nationalsozialistischen Sinn ist deshalb eine der Hauptaufgaben des nationalsozialistischen Staates.“ Als Ergebnis werde ein „Volk“ entstehen, dass „die Sklavenketten, die ihm unsinnige und unmoralische Verträge auf ewig glaubten, aufzwingen zu können, eines Tages abschütteln und sich den Platz unter den Völkern der Erde erobern (werde), der ihm auf Grund seiner Leistung zusteht“.
„1945 ist ohne 1933 nicht denkbar“
Allen schriftlichen Äußerungen der NS-Funktionäre schien eine ungebrochene Siegeszuversicht zugrunde zu liegen, die sich als ein Ergebnis der erfolgreichen „Machtergreifung“ ausbildete. Daraus abzuleiten wäre die auffallende Diskrepanz zwischen den flott formulierten ideologischen Vorstellungen und der daraus möglicherweise zu folgernden Realität. Da keiner der NS-Führer konkrete, alltägliche Schritte zur Umsetzung seiner gewünschten radikalen Veränderungen von Volk und Staat benennen konnte, wirkten alle Gedankengänge wie Freibriefe für das totalitäre Regime, das sie Schritt für Schritt nach eigenem Gutdünken in die Tat umsetzen konnte. „1945 ist ohne 1933 nicht denkbar.“ Mit anderen Worten: Nur einer der Crailsheimer Funktionäre benutzte das Wort vom „verantwortungsvollen Führertum“; aber er lehnte nach 1945 genauso wie alle anderen NS-Führer seine Verantwortung für das sich seit 1933 ausbreitende und schließlich die halbe Welt in Not und Elend stürzende NS-Unrechtssystem ab.