„Wer nicht kämpft, hat schon verloren“ – Dokumentation in Schwäbisch Hall über Willi Bleicher: Widerstandskämpfer und Arbeiterführer

Ein Filmportrait von Hermann G. Abmayr über den Widerstandskämpfer und Arbeiterführer Willi Bleicher zeigt die IG Metall und der DGB am Freitag, 3. Mai 2013, ab 20 Uhr im Kino im Schafstall in Schwäbisch Hall.

Von der IG Metall Schwäbisch Hall

Gewerkschaften wurden 1933 von den Nazis verboten

Nach dem 1. Mai 1933 wurden in die Deutschland die Gewerkschaften von den Nazis verboten. Am 2. Mai besetzte die SA Gewerkschaftshäuser, beschlagnahmte das Vermögen, misshandelte und verhaftete Gewerkschaftsfunktionäre wie den Protagonisten des Filmes von Hermann G. Abmayr, den Widerstandskämpfer und baden-württembergischen Arbeiterführer Willi Bleicher.

Ausgezeichnete Dokumentation „Gesucht wird Josef Mengele“

Auf Einladung der IG Metall und des DGB-Kreisvorstands Schwäbisch Hall stellt der Regisseur den Film über das Leben von Willi Bleicher im Kino im Schafstall persönlich vor. Hermann G. Abmayr ist als Filmemacher für den SWR und den WDR tätig. Über Bleicher hat er im Silberburg-Verlag eine Biographie veröffentlicht. Abmayr war Rechercheur der ARD-Dokumentation „Gesucht wird Josef Mengele“, die mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.

Willi Bleicher berichtete auch im Club Alpha 60 über seine Zeit im KZ

Im Film „Willi Bleicher: Widerstandskämpfer und Arbeiterführer – Wer nicht kämpft, hat schon verloren“ werden auch Ausschnitte einer Veranstaltung im club alpha 60 in Schwäbisch Hall gezeigt, bei der Willi Bleicher in hohem Alter über seine Zeit im KZ berichtet hat. Es handelt sich dabei um eine der letzten Aufnahmen von Willi Bleicher.

Konsequentes Leben für soziale Gerechtigkeit und Menschlichkeit

Der Name Willi Bleicher steht für ein konsequentes Leben für soziale Gerechtigkeit und Menschlichkeit. 1907 im deutschen Kaiserreich in Armut geboren, erlebte Willi Bleicher den Aufstieg und Fall der Weimarer Republik. Während seiner Haft unter den Nazis waren Leid, Hoffnung, Gewalt und Tod allgegenwärtig. Diese Jahre prägten den Antifaschisten und legendären Arbeiterführer. Bleicher war eine Suchender, der danach strebte, „das Leben lebenswerter zu machen“. Abmayrs Filmporträt respektiert Bleichers Lebensentscheidungen, ohne vereinnahmende Denkmalgießerei zu betreiben. Der Filmemacher stellt im Kino im Schafstall seine Willi Bleicher Dokumentation persönlich vor.

Als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt

Willi Bleicher gehörte wie Oskar Schindler zu den ersten Deutschen, die in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurden. Der Stuttgarter hat die Nazis schon früh bekämpft und kam dafür ins KZ Buchenwald. Dort hat er unter Lebensgefahr als Funktionshäftling in der Effektenkammer dazu beigetragen, dass der dreijährige Jude Stefan Jerzy Zweig aus Krakau das Lager überlebt hat. Die Rettung des Kindes regte Bruno Apitz in den 1950er Jahren zu seinem weltbekannten Roman „Nackt unter Wölfen“ an, der Anfang der 1960er Jahren verfilmt wurde. Willi Bleichers Rolle spielte Armin Müller Stahl.

Hanns-Martin Schleyer war in der NS-Zeit SS-Offizier

In der jungen Bundesrepublik war Willi Bleicher der Gegenspieler von Hanns-Martin Schleyer, der in der NS-Zeit den Rang des SS-Offiziers trug. Der Daimler-Mann Schleyer führte in Baden-Württemberg den Arbeitgeberverband der Metallindustrie, Bleicher die Industriegewerkschaft Metall.

Termin der Filmvorführung:
Freitag, 3. Mai 2013, 20 Uhr bis 22 Uhr, Veranstaltungsort: Kino im Schafstall, Im Lindach 9, 74523 Schwäbisch Hall

Weitere Informationen und Kontakt:

http://www.schwaebisch-hall.igm.de/termine/termin.html?id=57178

Trailer des Films: http://www.bw.igm.de/extra/podcast/podcast.html?id=1878

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„Er hat für eine gerechtere Weltordnung gekämpft“ – Der Theologe Silvio Meincke trauert um seinen Kollegen Emilio Castro – Ein Nachruf

Der methodistische Pfarrer Emilio Castro ist am 6. April 2013 in Montevideo (Uruguay) im Alter von 85 Jahren gestorben. Er war katholisch getauft, hat aber in Erlangen, Basel und Lausanne evangelische Theologie studiert. Ein Nachruf seines Kollegen Silvio Meincke aus Schwäbisch Hall.

Von Silvio Meincke, Schwäbisch Hall

Sicht der marginalisierten Menschen und Gesellschaften eingenommen

Nach dem Abschluss seiner theologischen Ausbildung war Emilio Castro Gemeindepfarrer in Uruguay bis er im Jahr 1973 nach Genf berufen wurde, zuerst als Direktor für die Weltevangelisation im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und dann, von 1985 bis 1992, als Generalsekretär. Als Befreiungstheologe forderte er in seinen Predigten und Stellungnahmen Erneuerungen der internationalen Ökonomie und Politik aus der Sicht der marginalisierten Menschen und Gesellschaften.

Die besonderen Ziele seiner Amtsführung im ÖRK waren:

– die Integration der lateinamerikanischen Pfingstkirchen in den ÖRK, was ihm aber nur mit geringem Erfolg gelungen ist.

– die ökumenische Suche – mit Teilnahme der Katholischen Kirche – nach einer gerechteren Weltordnung.

Für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

Emilio Castro wird als maßgeblicher Initiator des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung angesehen. Einer der Konkretisierungen dieser Bewegung war dann die erste Europäische Ökumenische Versammlung zum Thema Frieden und Gerechtigkeit, im Jahr 1989, in Basel.

„Bewahrung der Schöpfung“ bedeutet „Nachhaltigkeit“

Auch nach seinem Ausscheiden aus der Spitze des ÖRK wirkte Emilio Castro in allen seinen Lebensbereichen darauf hin, dass die Ziele von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Hauptaugenmerk der Kirchen bleiben. Der Begriff „Bewahrung der Schöpfung“ ist später auf dem Klimaweltgipfel in Rio de Janeiro in den Begriff „Nachhaltigkeit“ übergegangen.

Ich bin dem Kollegen Emilio Castro sehr dankbar und trauere um ihn.

Silvio Meincke, Schwäbisch Hall, den 12. April 2013.

Weitere Informationen über Emilio Castro:

http://www.oikoumene.org/de/press-centre/news/wcc-mourns-the-death-of-former-general-secretary-emilio-castro

http://www.oikoumene.org/en/resources/documents/general-secretary/tributes/tribute-to-emilio-castro

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„Mangelnde Zivilcourage hat einen zu hohen Preis“ – Gedenken in Stuttgart an die Deportation von Sinti und Roma vor 70 Jahren

„Die Gedenkveranstaltung erinnert an die Deportationen der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg. Insgesamt wurden unter der Nationalsozialistischen Herrschaft rund 500.000 Sinti und Roma ermordet. Dieses unfassbare Verbrechen erinnert uns daran, was menschenverachtender Hass anrichtet“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Informationen zusammengestellt von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert

Ausgrenzung und Diskriminierung von Sinti und Roma ist heute noch Realität

Vor kurzem fand in Stuttgart der Empfang der Landesregierung statt in Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Baden-Württemberg e.V. zum 70. Jahrestag der Deportation von Sinti und Roma aus Baden-Württemberg nach Auschwitz.

„Wir dürfen dabei nicht so tun, als sprächen wir hier nur über Vergangenes. Ausgrenzung und Diskriminierung von Sinti und Roma aufgrund von Ressentiments und Vorurteilen sind auch heute europäische und leider auch deutsche Realität“, betonte Kretschmann.

Sinti und Roma seien seit Jahrhunderten Teil unserer deutschen und europäischen Geschichte und Teil unserer gemeinsamen Zukunft. Um jeglicher Diskriminierung von Angehörigen von Sinti und Roma entgegenzuwirken und um die Anerkennung und gemeinsame Zusammenarbeit weiter zu stärken, wird derzeit ein Staatsvertrag zwischen dem Land und dem Verband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg vorbereitet, so Kretschmann. „Wir wollen dem Vertrag mit dem Landesverband durch Landesregierung und Landtag Gesetzeskraft verleihen, mit der das gesellschaftliche Miteinander und die Beachtung der kulturellen Identität von Sinti und Roma in Baden-Württemberg gesichert und gestärkt wird“, kündigte der Ministerpräsident an.

Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Baden-Württemberg e.V., dankte dem Ministerpräsidenten: „Es hat 37 Jahre gedauert, bis der Völkermord an den Sinti und Roma im Jahre 1982 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt anerkannt wurde. Weitere dreißig Jahre vergingen, bis im Oktober letzten Jahres, das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, durch die Bundeskanzlerin, der Öffentlichkeit übergeben wurde. Siebzig Jahre nach der Deportation der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg nach Auschwitz, gibt es erstmals in dieser Form, eine würdige Gedenkveranstaltung. Im Jahre 2013, 605 Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung, am 20. September 1407, soll ein Staatsvertrag erarbeitet werden, der die baden-württembergischen Sinti und Roma neben den nationalen Minderheiten, der Dänen, Friesen und Sorben gleichstellt. Mit dem geplanten Staatsvertrag soll erstmals nicht nur der Status Quo aufrecht erhalten, sondern für Deutschland beispielhaft und zukunftsgerichtet, die Minderheitenkultur gestärkt und gefördert werden. Dies kann auch ein politisches Signal in die europäische Gemeinschaft sein, die Minderheitensituation der Roma in ihren Heimatländern zu stärken und zu sichern.“

Weitere Informationen:
Die Gedenkveranstaltung erinnerte an die Deportationen der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg: Am 15. März 1943 verließ ein erster Deportationszug mit 211 Sinti aus Württemberg und 22 Sinti aus Baden den Stuttgarter Nordbahnhof. Insgesamt wurden bei den März-Deportationen 456 Sinti aus 52 Orten in Baden-Württemberg und deutschlandweit 12.000 Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert.

Vor der Gedenkfeier fand ein ökumenischer Gottesdienst von der Landeskirchen in der Domkirche St. Eberhard in Stuttgart statt.

Weitere Informationen und Kontakt zur Landesregierung Baden-Württemberg:

http://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/gedenkfeier-anlaesslich-des-70-jahrestags-der-deportation-von-sinti-und-roma-aus-baden-wuerttemberg/

Informationen auf Youtube und im Südwestrundfunk (SWR) über die Gedenkfeier:

„Ich bin ein deutscher Sinti“ – Gedenkfeier für deportierte Sinti aus Stuttgart

http://www.youtube.com/watch?v=h7Y5QIAOIXQ

http://www.swr.de/international/de/-/id=233334/nid=233334/did=11145620/1t1x2lb/index.html

Maßstäbe der Menschlichkeit verloren

Kirchen gedenken der Deportation von Sinti und Roma vor 70 Jahren

Rottenburg/Stuttgart. 7. März 2013. Mit einem Gottesdienst in der Stuttgarter Domkirche St. Eberhard am 15. März (Freitag) gedenken die vier großen Kirchen in Baden-Württemberg der Deportation von Sinti und Roma vor 70 Jahren.

Im März 1943 verschleppten die Nationalsozialisten 456 Sinti und Roma aus Baden-Württemberg ins Konzentrationslager Auschwitz, von denen nur wenige überlebten. Insgesamt wurden in dem Monat aus Deutschland 12.000 Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert.

Der um 15 Uhr beginnende Gottesdienst wird geleitet von Bischof Gebhard Fürst (Diözese Rottenburg-Stuttgart); die Predigt hält Landesbischof Ulrich Fischer (Evangelische Landeskirche in Baden). Mitgestaltet wird die Feier vom Musiker Ferenc Snetberger, von Mitgliedern des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma sowie von Schülern der Bischof-von-Lipp-Schule in Mulfingen. Am 9. Mai 1944 wurden auf NS-Befehl aus der dortigen St. Josefspflege 33 Sinti-Kinder deportiert.

Vor dem Gottesdienst lädt der Landesverband der Sinti und Roma zu einer Gedenkfeier ab 13.30 Uhr am Deportations-Mahnmal beim Nordbahnhof. Nach dem Gottesdienst gibt das Land Baden-Württemberg einen Empfang in geschlossenem Rahmen im Neuen Schloss.

„Pflicht zum Erinnern“

Deportation von Sinti und Roma vor 70 Jahren gedacht – Gottesdienst mit Bischof Fürst und Landesbischof Fischer in Stuttgart

Stuttgart. 15. März 2013. Mit einem Gottesdienst haben die vier großen Kirchen in Baden-Württemberg am Freitag der Deportation von Sinti und Roma vor 70 Jahren gedacht.

Der Tod von einer halben Million Sinti und Roma unter den Rassegesetzen der NS-Zeit reihe sich ein in eine lange Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung, sagte der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst.

Der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Baden, Ulrich Fischer, betonte in seiner Predigt, die aktuelle Diskussion über die Öffnung der Grenzen zu Rumänien und Bulgarien stehe mit dieser Leidensgeschichte im Zusammenhang. Bischof Fürst sagte, das Elend, in dem Sinti und Roma heute noch in manchen ost- und südosteuropäischen Ländern leben müssten, sei eine „Schande für Europa“. Es sei aber auch beschämend, dass die deutschen Sinti und Roma nach langer Diskriminierung zwar offiziell als Minderheit anerkannt seien, „dass aber denen, die als Flüchtlinge hierher kommen, keinerlei Existenzmöglichkeiten gewährt werden“.

Im März 1943 verschleppten die Nationalsozialisten 456 Sinti und Roma aus 52 Orten im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg ins Konzentrationslager Auschwitz. Die Hälfte von ihnen waren Säuglinge, Kleinkinder und Kinder. Nur wenige überlebten. Insgesamt wurden in dem Monat aus Deutschland 12.000 Sinti und Roma in das Vernichtungslager deportiert.

In dem Gottesdienst in der Stuttgarter Domkirche St. Eberhard bekannten Fürst und Fischer eine Mitschuld der Kirchen an diesen Gräueltaten, „durch Amtshilfe, aber auch durch Wegsehen und Schweigen“, wie Fischer sagte.  Allzu lange sei später dann verdrängt und vergessen worden, dass die Sinti und Roma Opfer nationalsozialistischen Rassenhasses gewesen seien.

Es gebe eine biblische „Pflicht zum Erinnern eigener Schuld und bösartiger Schuldgeschichte“. Aus ihr erwachse die Kraft, „allen Tendenzen von Diskriminierung und Ausgrenzung, vor allem auch allen Tendenzen zu neuem Nazismus in unserem Land frühzeitig zu widerstehen“, unterstrich Landesbischof Fischer. Bischof Fürst sagte, er bitte, dass Gott „uns den Mut zum offenen Wort und zum wirksamen Handeln schenkt, wenn Menschen neben uns Unrecht geschieht“.

Mitgestaltet wurde die Feier in der Domkirche vom Musiker Ferenc Snetberger, von Mitgliedern des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma sowie von Schülern der Bischof-von-Lipp-Schule in Mulfingen. Am 9. Mai 1944 waren aus der dortigen St. Josefspflege 33 Sinti-Kinder deportiert worden.

Am Ausgang des Gottesdienstes, an dem Ministerpräsident Winfried Kretschmann teilnahm, wurden Rosen verteilt, an denen Zettel mit dem Namen eines deportierten Menschen hingen. Im Anschluss hatte das Land Baden-Württemberg zu einem Empfang in geschlossenem Rahmen im Neuen Schloss geladen.

Weitere Informationen und Kontakt:

http://www.drs.de/index.php?id=8566&tx_ttnews[tt_news]=24888&tx_ttnews[backPid]=93&cHash=4b8d9bc2f4

Gemeinsamer ökumenischer Gottesdienst

Kirchen und Land gedenken der Deportation von Sinti und Roma vor 70 Jahren
Zum ersten Mal gedenken die katholischen Bistümer und die evangelischen Landeskirchen in Baden-Württemberg an diesem Freitag (15. März) mit einem gemeinsamen ökumenischen Gottesdienst der Deportation von Sinti und Roma. Vor 70 Jahren, im März 1943, verschleppten die Nationalsozialisten 456 Sinti und Roma aus Baden-Württemberg ins Konzentrationslager Auschwitz. Nur wenige überlebten. Insgesamt wurden in dem Monat aus Deutschland etwa 12.000 Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert.

Bei dem Gedenkgottesdienst in der Stuttgarter Domkirche St. Eberhard werden sowohl die beiden evangelischen Landeskirchen in Baden und Württemberg als auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart und die Erzdiözese Freiburg an die Deportation erinnern.
Vor dem Gottesdienst am Freitag in Stuttgart veranstaltet der Landesverband der Sinti und Roma eine Gedenkfeier am Deportations-Mahnmal beim Stuttgarter Nordbahnhof.

Der Gottesdienst in St. Eberhard wird geleitet von Bischof Gebhard Fürst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die Predigt hält der badische Landesbischof Ulrich Fischer. Mitgestaltet wird die Feier von dem Musiker Ferenc Snetberger, von Mitgliedern des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma sowie von Schülern der Bischof-von-Lipp-Schule in Mulfingen.

Bereits am Donnerstag beschäftigt sich die württembergische Landessynode bei ihrer Frühjahrstagung in Biberach schwerpunktmäßig mit dem 70. Jahrestag der Deportation von Sinti und Roma. Dazu sprechen Daniel Strauß vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg sowie Landesbischof Frank Otfried July. (0549/13.03.2013)

Weitere Informationen im Internet:

http://www.epd.de/landesdienst/landesdienst-südwest/kirchen-und-land-gedenken-der-deportation-von-sinti-und-roma-vor-7

GEDENKFEIER – 70. Jahrestag der Deportation von Sinti und Roma aus Baden-Württemberg

„Die Gedenkveranstaltung erinnert an die Deportationen der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg. Insgesamt wurden unter der Nationalsozialistischen Herrschaft rund 500.000 Sinti und Roma ermordet. Dieses unfassbare Verbrechen erinnert uns daran, was menschenverachtender Hass anrichtet“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Stuttgart anlässlich des Empfangs der Landesregierung in Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Baden-Württemberg e.V. zum 70. Jahrestag der Deportation von Sinti und Roma aus Baden-Württemberg nach Auschwitz. „Wir dürfen dabei nicht so tun, als sprächen wir hier nur über Vergangenes. Ausgrenzung und Diskriminierung von Sinti und Roma aufgrund von Ressentiments und Vorurteilen sind auch heute europäische und leider auch deutsche Realität“, betonte Kretschmann.

Sinti und Roma seien seit Jahrhunderten Teil unserer deutschen und europäischen Geschichte und Teil unserer gemeinsamen Zukunft. Um jeglicher Diskriminierung von Angehörigen von Sinti und Roma entgegenzuwirken und um die Anerkennung und gemeinsame Zusammenarbeit weiter zu stärken, wird derzeit ein Staatsvertrag zwischen dem Land und dem Verband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg vorbereitet, so Kretschmann. „Wir wollen dem Vertrag mit dem Landesverband durch Landesregierung und Landtag Gesetzeskraft verleihen, mit der das gesellschaftliche Miteinander und die Beachtung der kulturellen Identität von Sinti und Roma in Baden-Württemberg gesichert und gestärkt wird“, kündigte der Ministerpräsident an.

Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Baden-Württemberg e.V., dankte dem Ministerpräsidenten: „Es hat 37 Jahre gedauert, bis der Völkermord an den Sinti und Roma im Jahre 1982 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt anerkannt wurde. Weitere dreißig Jahre vergingen, bis im Oktober letzten Jahres, das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas, durch die Bundeskanzlerin, der Öffentlichkeit übergeben wurde. Siebzig Jahre nach der Deportation der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg nach Auschwitz, gibt es erstmals in dieser Form, eine würdige Gedenkveranstaltung. Im Jahre 2013, 605 Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung, am 20. September 1407, soll ein Staatsvertrag erarbeitet werden, der die baden-württembergischen Sinti und Roma neben den nationalen Minderheiten, der Dänen, Friesen und Sorben gleichstellt. Mit dem geplanten Staatsvertrag soll erstmals nicht nur der Status Quo aufrecht erhalten, sondern für Deutschland beispielhaft und zukunftsgerichtet, die Minderheitenkultur gestärkt und gefördert werden. Dies kann auch ein politisches Signal in die europäische Gemeinschaft sein, die Minderheitensituation der Roma in ihren Heimatländern zu stärken und zu sichern.“

Weitere Informationen:

Die Gedenkveranstaltung erinnert an die Deportationen der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg: Am 15. März 1943 verließ ein erster Deportationszug mit 211 Sinti aus Württemberg und 22 Sinti aus Baden den Stuttgarter Nordbahnhof. Insgesamt wurden bei den März-Deportationen 456 Sinti aus 52 Orten in Baden-Württemberg und deutschlandweit 12.000 Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Vor der Gedenkfeier fand ein ökumenischer Gottesdienst von der Landeskirchen in der Domkirche St. Eberhard in Stuttgart statt.

Internet:

http://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/gedenkfeier-anlaesslich-des-70-jahrestags-der-deportation-von-sinti-und-roma-aus-baden-wuerttemberg/

Aktivitäten des Recherche-Netzwerks Sinti und Roma

Wenn man der historischen Literatur zu Stuttgart in der NS-Zeit glauben will, müsste man beinahe annehmen, es hätten in Stuttgart zu keiner Zeit Roma gelebt. Stuttgart jedenfalls scheint am nationalsozialistischen  Völkermord an den Sinti und Roma keinen Anteil gehabt zu haben. Könnte man meinen.

Am 12. Januar 2006 bildete sich aus Bürgerinnen und Bürgern der Stuttgarter Stolperstein Initiativen das ?Recherchenetzwerk Sinti und Roma? ? um sich gegenseitig bei der Spurenlese und Quellensuche zu unterstützen, die Recherchearbeiten mit- und aufeinander abzustimmen. Unser Arbeitskreis wird fachlich begleitet vom Archiv der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Wir verstehen uns als Teil der Stolperstein-Initiativen, die ?Gegen das Vergessen? arbeiten, die Opfer des Nationalsozialismus aus der Anonymität von Denkmälern herausholen wollen, um deren persönliches Schicksal dort zu verorten und mit Stolpersteinen zu verankern, wo sie einmal gelebt haben.
Uns geht es insbesondere darum, den Opfern aus dem Kreis der Stuttgarter Sinti und Roma ein ehrendes Gedenken vor Ort zu ermöglichen und sie nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Wir verstehen uns auch als Erweiterung und Fortführung der Initiative der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamts der Stadt Stuttgart, die sich mit der Verstrickung sozialer Berufe und der Sozialbürokratie in die menschenverachtenden Aussonderungs- und Mordprogramme im Nationalsozialismus beschäftigt haben. Im Jahr 2000 wurde daraufhin ein ?Denk-Mal? im Foyer des Jugendamts geschaffen, das am Beispiel der Sintikinder von Mulfingen auf die Verschleppung von Sinti- und Roma-Kindern aus Heimen der Fürsorgeerziehung aufmerksam machen will.

Nicht zufällig erinnern deshalb die ersten Stolpersteine für Sinti und Roma im Stuttgarter Weichbild an ?Mulfinger Kinder? aus Stuttgart, den Cannstatter Geschwistern Kurz. Auf Empfehlung der Stuttgarter Initiativen setzte ihnen der Kölner Aktionskünstler Gunter Demnig am 29. April 2006 vor dem Haus Badergasse 6 in Bad Cannstatt Stolpersteine.

Die Steine für die Geschwister Kurz symbolisieren Unüberbietbares ! Die Ermordung von unschuldigen Kindern: im Wahn einer Ideologie ? im Räderwerk einer perfektionierten Vernichtungsmaschinerie ? in der Verdrängung von Verantwortung und Schuld.

Eines unserer nächsten, längerfristig angelegten Projekte hat die Entschlüsselung des größten Transports württembergischer Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zum Ziel. Von dieser Deportation erfahren Sie Näheres unter »Abfahrt Stuttgart: 15. März 1943«.

Werden Sie „Stolperstein-Pate“

Indem Sie 95 Euro (oder einen Teilbetrag) mit dem Stichwort „Stolpersteine für Sinti“ an  Die AnStifter InterCulturelle Initiativen e.V. auf das Konto 2 292 342 bei der BW Bank (BLZ 600 501 01) einzahlen. Wenn Sie eine Spendenbescheinigung wünschen, vermerken Sie dies bitte auf dem Überweisungsträger.

Internet: http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=176

Abfahrt: 15. März 1943

Nach Einbruch der Dunkelheit verließ ein langer Güterzug den ?Stuttgarter Güterbahnhof?. Seine Fracht: Menschen, in Viehwaggons gepfercht ? Sinti und Roma aus Württemberg. Sein Ziel: das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ? tausendeinhundertfünfzig Bahnkilometer entfernt.

» Was war das für ein Weinen und Schreien damals, als sie die Menschen abgeholt haben …? erinnert sich Olga Reinhardt aus Weil im Schönbuch. ?Die alte Mutter, sie war doch eine alte, kleine Frau. Sie ist zusammengesackt, aber um nichts in der Welt hat man sie oder wenigstens ein Kind dagelassen.«

Die älteste Teilnehmerin ist 83 Jahre alt. Das jüngste Baby zwei Monate. Mehrere Frauen sind schwanger. Die Reise ins völlig Ungewisse wird vielleicht 53 Stunden dauern. Möglicherweise sterben unterwegs bereits die Ersten? Was wird aus diesen Menschen werden?

Hildegard Franz aus Ravensburg berichtet von diesem grauenvollen Ereignis:
» Sie brachten viele, viele Menschen von überall her, es waren einige Hundert Menschen. Die Polizei und die Gestapo sind mit schußbereiten Gewehren auf und ab marschiert. Es kann sich niemand vorstellen, was sich dort abspielte. Noch am gleichen Tag ging unser Transport von Stuttgart nach Auschwitz, jetzt aber in Viehwaggons. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Fahrt gedauert hat. Zwei oder drei Nächte waren es. Wir sind spät abends oder nachts, es war schon dunkel, in Auschwitz-Birkenau angekommen. Nach dem Öffnen der Waggons sah man überall die Scheinwerfer, die alles beleuchteten.  …«
Hildegard war damals jung verheiratet. » Meine kleinen Mädchen waren drei und zwei Jahre alt, die Kleinste erst sieben Monate alt. « (Ausschnitt aus dem Film »MUT OHNE BEFEHL / Widerstand und Verfolgung in Stuttgart 1933-1945«, Katrin Seybold Film GmbH 1994)
Interview mit Hildegard Franz, geb. Reinhardt, als mov-Datei (1,5 MB)

Innerhalb von nur zehn Wochen starben ihre Kinder im ?Zigeunerlager? von Auschwitz-Birkenau. Ihr Mann, der sich zuletzt im KZ Bergen-Belsen befand, erlebte die dortige Befreiung nicht mehr.

Das Stolperstein-Recherche-Netzwerk Sinti und Roma forscht erst seit Januar zur Verfolgung und Vernichtung württembergischer Sinti und Roma. Im Moment können wir für Zweidrittel der Deportierten des Stuttgarter Transports nachweisen, dass sie Opfer des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma geworden sind.

Literaturhinweis: Die zitierten Texte von Olga Reinhardt und Hildegard Franz sind dem von uns empfohlenen Buch entnommen: … weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben. Herausgegeben von Daniel Strauß, Berlin 2000.

Internet: http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=199

Das jüdische Zwangsaltenheim in Eschenau und seine Bewohner – Herausgegeben von Martin Ulmer und Martin Ritter

Im Herbst 1941 zwangen die NS-Behörden die Jüdische Kultusvereinigung Württemberg im Schloss in Eschenau (Landkreis Heilbronn) ein Zwangsaltenheim für 93 alte und gebrechliche jüdische Bürgerinnen und Bürger einzurichten. Die Unterbringung und Versorgung im Zwangsaltenheim war so schlecht, dass elf Bewohnerinnen und Bewohner dort nach kurzer Zeit starben. Am 22. August 1942 wurden die noch Lebenden und das jüdische Personal über den Stuttgarter Nordbahnhof in das KZ Theresienstadt deportiert. Viele starben dort an den katastrophalen Haftbedingungen. Andere wurden in die Vernichtungslager Treblinka und Auschwitz gebracht und ermordet. Nur zwei Deportierte überlebten. Einwohner von Eschenau zogen aus der Versteigerung des zurückgebliebenen Eigentums ihre Vorteile.
In dem neuen Buch wird die Geschichte des jüdischen Zwangsaltenheims Eschenau erstmals umfassend dargestellt. Kurze Biografien geben Auskunft über alle Bewohnerinnen und Bewohner sowie das jüdische Personal.
Das Buch mit 244 Seiten und zahlreichen Abbildungen erscheint im Barbara Staudacher Verlag Horb und kostet 14,00 EURO (ISBN-13: 978-3928213202). Es kann über die Geschichtswerkstatt Tübingen bezogen werden. info@geschichtswerkstatt-tuebingen.de

Internet:

http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=812

Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern – Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann, Roland Maier

Mehr als 67 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus liegt seit Dezember 2012 nun endlich die erste grundlegende Untersuchung über die Gestapo in Württemberg und Hohenzollern vor. Die Neuerscheinung behandelt das Geschehen am Hauptsitz der Politischen Polizei beziehungsweise der Stapoleitstelle Stuttgart im ehemaligen „Hotel Silber“, aber auch an den zahlreichen übers Land verteilten Außendienststellen, von denen manche längst dem Vergessen überantwortet wurden. Ebenso die verschiedenen Haftstätten (Schutzhaftlager, Polizeigefängnis, Arbeitserziehungslager…), an die man bisher nicht überall erinnert werden wollte.

Der umfangreichste Teil des Buches spürt der gegnergruppenspezifischen Verfolgung nach und veranschaulicht das Vorgehen der Gestapo gegen politische GegnerInnen aus dem linken Spektrum; Georg Elser; MitstreiterInnen der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“; Repräsentanten der katholischen und evangelischen Kirche; Zeugen Jehovas; die jüdische Bevölkerung; Homosexuelle; sogenannte „Asoziale“; Swing-Jugend sowie ausländische ZwangsarbeiterInnen.

Weitere Einblicke in die Thematik bieten Beiträge über die geheimen Referate der Gestapo und über den Auslandseinsatz von Gestapo-Angehörigen aus Württemberg und Hohenzollern. Am Ende des über 400 Seiten umfassenden Bandes führt der Weg in die bundesrepublikanische Geschichte. Er verfolgt die Spur der ehemals bei der Gestapo Beschäftigten und stellt die Frage nach dem Umgang mit den TäterInnen.

Internet: http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=815

Weitere Informationen und Kontakt:

Landesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg:

http://www.romnokher.de/Romnokher/Landesverband.html

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma:

http://www.sintiundroma.de/start.html

Zentralrat deutscher Sinti und Roma:

http://zentralrat.sintiundroma.de/

Rede des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmanns bei der Gedenkfeier 2013:

Begrüßungsrede des Herrn Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann

Gedenkfeier und gemeinsamer Empfang der Landesregierung und des Landesverbandes der Sinti und Roma Baden-Württemberg e.V. am 15. März 2013 in Stuttgart anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation von Sinti und Roma aus Baden-Württemberg

Neues Schloss Stuttgart, 15. März 2013

„Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die heutige Gedenkveranstaltung erinnert an die Deportationen der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg: Am 15. März 1943 verließ ein erster Deportationszug mit 211 Sinti aus Württemberg und 22 Sinti aus Baden den Stuttgarter Nordbahnhof. Insgesamt wurden bei den März-Deportationen 456 Sinti aus 52 Orten in Baden-Württemberg und deutschlandweit 12.000 Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Die erschütternden Erinnerungen von Frau Hildegard Franz an diese Deportation haben wir vorhin im Gottesdienst gehört. Insgesamt wurden unter der Nationalsozialistischen Herrschaft an die 500.000 Sinti und Roma ermordet. Dieses unfassbare Verbrechen erinnert uns daran, was menschenverachtender Hass anrichtet – und dass neben dem Antisemitismus auch der Antiziganismus eine Geschichte lange vor und auch nach dem NS-Regime hat.

„Wir sprechen hier nicht nur über Vergangenes“

Wir dürfen dabei nicht so tun, als sprächen wir hier nur über Vergangenes. Ausgrenzung und Diskriminierung von Sinti und Roma aufgrund von Ressentiments und Vorurteilen sind auch heute europäische und leider auch deutsche Realität. So muss es uns schockieren und aufrütteln, dass laut der repräsentativen Studie „Deutsche Zustände“ in 2011 über 40 Prozent der Befragten angaben, Probleme damit zu haben, wenn sich Roma in ihrer Wohngegend aufhalten. Und mit 28 Prozent plädierte mehr als ein Viertel der Befragten dafür, sie aus den Innenstädten zu verbannen.

Auch die Presseberichterstattung zahlreicher Medien in den letzten Wochen hat erneut aufgezeigt, dass Vorurteile und Klischees über Sinti und Roma weiterhin weit verbreitet sind. Ein respektvolles, freundschaftliches Miteinander braucht einen Blick, der Sinti und Roma nicht auf eine bestimmte Lebensweise oder bestimmte Themen festlegt, der sie nicht bös- oder auch gutwilligen Klischees unterwirft, sondern sie selbst zu Wort kommen lässt und aktiv beteiligt. Sinti und Roma sind seit Jahrhunderten Teil unserer deutschen und europäischen Geschichte und sie sind Teil unserer gemeinsamen Zukunft.

Sinti und Roma sind in Deutschland eine anerkannte Minderheit

Sie sind eine anerkannte nationale Minderheit der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Sprache und Kultur sind durch deutsches und europäisches Recht geschützt. Im Bewusstsein der besonderen geschichtlichen Verantwortung gegenüber Sinti und Roma und mit dem Ziel jeglicher Diskriminierung von Angehörigen von Sinti und Roma entgegenzuwirken, beabsichtigt die Landesregierung, gemeinsam mit den Fraktionen im Landtag, Anerkennung und Zusammenarbeit endlich auf eine tragfähige, sichere Grundlage zu stellen. Eine gemeinsame Vereinbarung in Form eines Staatsvertrages zwischen dem Land und dem Verband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg befindet sich derzeit in der Abstimmung. Dem Vorsitzenden des Landesverbandes, Herrn Daniel Strauß, und Herrn Staatssekretär Murawski sei für die guten und wichtigen Verhandlungen an dieser Stelle herzlich gedankt. Wir wollen gemeinsam noch in diesem Sommer dem Vertrag mit dem Landesverband durch Landesregierung und Landtag Gesetzeskraft verleihen, mit der das gesellschaftliche Miteinander und die Beachtung der kulturellen Identität von Sinti und Roma in Baden-Württemberg gesichert und gestärkt wird.

Musik von Ferenc Snetbérger

Meine Damen und Herren,
ich möchte nun an Herrn Ferenc Snetbérger überleiten, dem ich herzlich für die würdige musikalische Umrahmung der Gedenkveranstaltung danke. Ein besonderer Dank gilt auch Ihnen, Herrn Prof. Dr. Peter Steinbach, für Ihren anschließenden Vortrag über den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma.

Ich danke Ihnen.

Informationen im Internet:

http://www.romnokher.de/Romnokher/Willkommen_files/2013-03-15%2043%20MP%20Gedenkfeier_Sinti_Roma%20Grußwort%20zur%20Veröffentlichung.pdf

Rede von Peter Steinbach:

Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma

Am 15. März 1943 wurden mehr als 450 Menschen aus Württemberg und Baden deportiert, weil die nationalsozialistischen Machthaber beschlossen hatten, Menschen, die sie damals als „Zigeuner“ bezeichneten, auszurotten. Nach der Diffamierung, der Konzentrierung, der Entrechtung hatte eine neue Phase der Verfolgung eingesetzt, die auf Vernichtung aller Angehörigen die europäischen „Minderheit“ zielten. Die meisten von ihnen überlebten das Kriegsende nicht.

Im Jahre 1933 hatten rund 33000 Sinti und Roma in Deutschland gelebt. Ihre Mitmenschen nannten sie „Zigeuner“ – glücklicherweise verwenden wir diesen Begriff nur noch dann, wenn er uns aus den Quellen anspringt. Dann brauchen wir ihn, weil er schlagartig deutlich macht, wie Ausgrenzung funktioniert: Man benennt diejenigen, die man ablehnt, ausgrenzt, aussondert, mit einem Begriff, der sie von allen anderen trennen sollte. Denn diese 33000 Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma waren Deutsche. Sie besaßen die deutsche Staatsangehörigkeit. Bis dahin hatten sie das Schicksal Deutschlands und der Deutschen geteilt. Viele hatten im ersten Weltkrieg gekämpft, waren verwundet worden, manche waren „im Feld geblieben“, wie man damals sagte. Nach 1918 hatten sie sich auf den neuen Staat eingelassen, hatten ihn getragen, ausgebaut, verteidigt. Sie hatten viel gegeben, um anerkannt zu werden in ihrem Patriotismus, in ihrem Wunsch, dazuzugehören wie andere Landsmannschaften, Konfessionen, Nationalitäten. Denn Deutschland galt als unvollendeter Nationalstaat: Dänisch, friesisch, polnisch, französisch, belgisch, jiddisch, sorbisch, also fast tschechisch und polnisch sprechende Deutsche gehörten dazu.

Die Sinti und Roma teilten die Erfahrungen dieser Gruppe. Wie für die Juden bedeutete für sie das Jahr 1933 eine Zäsur, trotz aller Kontinuitäten kriminalpolizeilicher Überwachung und Bedrängnis, die bis in die Kaiserzeit reichten. Denn nun wurde es entscheidend, wie die Hitler-Regierung die Zugehörigkeit zur Minderheit definierte und begründete.

Uns steht heute ein Arsenal von Erklärungsmustern zur Verfügung, wenn wir die Vielfältigkeit der Gesellschaft, in der wir leben, erklären wollen. Akzeptiert ist die landsmannschaftliche Unterscheidung, auch die konfessionelle, sogar die politische. Umstrittener ist die kulturalistische, abwegiger erscheint die ethnische, und bösartig ist die rassische, die im Blut den entscheidenden Unterscheidungsfaktor erblickt. Manche Muster können sich überlagern, gewiss. In der Weimarer Republik und im Dritten Reich begründete man Unterschiede vor allem rassenbiologisch und rassenideologisch. Ideologisch sage ich deshalb, weil diese Art Begründung kein Gegenargument zulässt, man lässt sich verblenden, man wird geblendet, und dies nicht selten mit damals tödlichen Folgen. Wir müssen uns diese Ausgangslage ins Gedächtnis rufen, um zu begreifen, was es bedeutet, heute abstrakt begrifflich über eine Frage zu diskutieren, die den Kern des Selbstverständnisses der Minderheit berührt, die vielgestaltig ist und die nicht nur die Nationalsozialisten, sondern auch viel zu lange Zeit die Nachlebenden „Zigeuner“ nannten.

Denn zwischen der heutigen Debatte über die Inschrift am Denkmal, das die Ausrottung Hundertausender von Sinti, Roma und Angehörigen anderer Stämme der Minderheit zu erinnern hat, und der Vergangenheit, die sie vor das Auge rückt, scheinen Welten zu liegen. Wir sind heute von der Kultur der Sinti und Roma fasziniert, wie mögen ihre Musik, die Django Reinhardt verkörperte, begreifen ihre Kultur, ihre Sprache, und die Erzählungen der Sinti und Roma sind wirkliche mündliche Erzählungen. Aber wenn wir die Zeiten einfach überbrücken, indem wir eine weit zurückliegende Vergangenheit einfach in unsere Gegenwart verpflanzen, gehen wir in zumindest einer Hinsicht leichtfertig mit der Geschichte um. Denn wir überspielen, wie schwer es in den vergangenen fünfzig und sechzig Jahren war, die Erinnerung an das Volk der „Zigeuner“, der Sinti, der Roma und anderer kleinerer Stämme, im Gedächtnis zu halten.

Davon muss zunächst gesprochen werden. Denn obwohl wir wissen, dass auch Gedenken und Erinnerung ihre Geschichte haben, scheinen wir immer wieder überrascht, wenn wir mit Zuständen aus den Fünfziger Jahren konfrontiert werden, die so gar nicht zu dem Stand passen, den unser Gedenken erreicht hat. So führt unsere Konfrontation mit der Erinnerungsgeschichte in der Regel direkt in das Erstaunen über die Geschichte unseres Gedenkens.

Gab es wirklich, so fragte man sich vor einigen Jahren, wirklich eine Zeit, in der man sich
nicht nur schwer tat, an das zu erinnern, was heute fester Bestandteil politisch-pädagogischer Besinnung ist? Peter Novick hat mit seiner anregenden und Aufsehen erregenden Studie über den „Umgang mit dem Massenmord“ in den Vereinigten Staaten daran erinnert.

Gab es wirklich eine Zeit, in der das Wissen von der systematischen Ausrottung von Mitmenschen, die sich als Sinti und Roma bezeichneten und die von anderen als Fremde empfunden und „Zigeuner“ genannt worden , nicht allgemeiner Bestandteil unserer Erinnerung an die Schrecken des Dritten Reiches war?

Ist es wirklich vorstellbar, dass eine juristische Dissertation aus den frühen sechziger Jahren
noch in den frühen sechziger Jahren der Frage nachging: „Hat die bei vielen Zigeunern mehrjährige Haft in den Konzentrationslagern zu einer Besserung ihres Verhaltens gegenüber der sesshaften Bevölkerung geführt, oder sind sie für Jahre aus ihren arteigenen Lebensgewohnheiten gerissen nach wiedererlangter Freiheit zu Verbrechern geworden, die auch vor schweren Gewalttaten nicht mehr zurückschreckten?

Ist es vorstellbar, dass ein südwestdeutscher Obermedizinalrat namens Arnold, der als Fachmann für sogenannte „Zigeunerfragen“ galt, vor allem „polizeiliche Erwägungen“ der Reichskriminalpolizei bemühte, um die Verfolgung der Zigeuner zu erklären? Er machte „erblich bedingte Dispositionen“ aus, um die angebliche Besonderheit der Zigeuner zu erklären, sprach von „prädiluvialen Erbcharakteristika“ und identifizierte „Nomadismus“ schließlich als ein genetisches Merkmal der so diffamierten Gruppe. Auf dem Boden dieser Vorteile gründeten sich Fahndungskarteien, in den dreißiger Jahren angelegt, in den vierziger Jahren fortgeschrieben, bis in die siebziger Jahre benutzt und als Anschauungsmaterial bemäntelt.

Die Zitate provozieren. Die Argumente sind uns viel weniger fremd, als wir uns eingestehen
können. Selbst ein aufgeklärter britischer Historiker wie Richard Evans erlag in seiner Abrechnung mit dem Historikerstreit diesen Vorurteilen, wenn er davon sprach, die Zigeuner hätten sich nicht am „Arbeitsprogramm“ der Nationalsozialisten beteiligen wollen und seien „keiner regelmäßigen Arbeit nachgegangen.“. Kein Vorurteil jedoch, das andere haben, ist uns ganz fremd. Wir müssen uns das nur eingestehen, um es korrigieren zu können. Ich möchte mit den Zitaten von Döring, Arnold und Evans darauf aufmerksam machen, welch langer Weg der Erinnerungsarbeit zurückzulegen war, bis es zu einer vorurteilsfreien Erforschung der Geschichte der Gruppe kam, die man lange Zeit „Zigeuner“ nannte.

Dass es dazu kommen konnte, ist das Verdienst einer Bürgerrechtsbewegung, die viele Widerstände und Anfeindungen bewältigen musste, die sich nicht beirren und ablenken ließ, die Anfeindungen ausgesetzt war, die aus vielen Vorurteilen resultierten, die vor einigen Jahren wieder mit der Finkelstein-Debatte angeklungen sind. Die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma konnte in den neunziger Jahren wichtige Teilziele erreichen, indem sie aufklärte, kritisierte, herausforderte, auch provozierte. Nur wenig mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, seitdem dieser Kampf um die Respektierung der Leidens der Sinti und Roma begann. Damals besetzte eine kleine Gruppe von Sinti und Roma mit Romani Rose einen Teil des Konzentrationslagers Dachau. Das verlangte Mut, denn diese Aktion wurde nur von kleinen Teilen der Öffentlichkeit als die so oft geforderte Zivilcourage gedeutet und als legitim akzeptiert.

Dabei wurde deutlich: Das Bekenntnis zum bürgerschaftlichen Engagement in der Erinnerungsarbeit schließt auch die Verteidigung von Bürgerrechtsbewegungen ein, die sich vor allem dann auf die Geschichte besinnen, wenn in der Verfolgung eine neue Studie der Identitätsbildung erreicht worden ist. In der Tat haben die Nationalsozialisten immer wieder Menschen durch Verfolgung ein Gefühl tiefer Gemeinsamkeit gegeben. Das hat nichts Künstliches, sondern stellt eine Reaktion auf Gewaltsamkeit dar. Es hat deshalb nichts geschichtspolitisch Verkrampftes an sich, mögen Nachlebende, die nicht in dieser Opfertradition stehen, das auch immer wieder behaupten.

So, wie viele jüdische Deutsche durch die Verfolgung wieder sich auf eigene Traditionen besannen und von Assimilierten und dem jüdischen Glauben entfremdeten wieder zu selbstbewussten Juden oder zu Zionisten wurden, so wurden aus gejagten, gehetzten, verachteten „Zigeunern“ durch den Verfolgungsterror der Nationalsozialisten und ihre Kriminalpolizei sehr bald ihrer selbst bewusste und auf die eigene Geschichte bezogene Sinti und Roma. Natürlich stehen Nachlebende stets in der Gefahr, dem Sinnlosen rückblickend einen Sinn zu geben und so das Leiden erträglicher zu machen. Ein wichtiges Ergebnis der ständigen Ausgrenzung und Verfolgung der Sinti und Roma war, dass sich die Zusammengehörigkeit und das Selbstverständnis der Überlebenden auch auf die Erfahrung einer brutalen Verfolgung und Ausrottung bezog.

Die Zäsuren der Jahre 1933 bis 1945 wurden in ein neues Bewusstsein von der eigenen Gruppe und Kultur integriert, die ziganische Kultur wurde durch den Schrecken und durch die qualvolle Selbstbehauptung der Überlebenden gegenüber ihren Verfolgern eben eine andere als sie vorher war. Mich hat diese bürgerrechtliche Bemühung um die Vergegenwärtigung der Geschichte immer beeindruckt, zunächst als Ausdruck eines bürgerschaftlichen Engagements, dann aber auch als Praktizierung des Versuches, an die Auslöschung „bedrohter Völker“ in unserer Mitte zu erinnern. Der Kampf gegen diese Auslöschung wurde in unseren Sonntagsreden immer wieder beschworen, aber als Verteidigung des Lebens- und Entfaltungsrechtes der Bedrohten wurde die historische Erfahrung selten bemüht. Dies zeigt sich bis heute an unserer Wahrnehmung der Verfolgung von Roma in Südosteuropa, auf dem Balkan, die wieder zu den Opfern der ethnischen Konflikte auf dem Balkan gehören, bis heute.

Nach dem Schweigen der Fünfziger, nach den Diffamierungen noch in den sechziger und
siebziger Jahren und nach den heftigen geschichtspolitischen Kämpfen in den Achtzigern
kann man sich als Zeitgenosse schwer vorstellen, gegen welche Widerstände es der Minder-
heit der Sinti und Roma gelungen ist, einen festen Platz in der Erinnerung an die nationalso-
zialistische Zeit zu finden.

Drei Gruppen hatten die nationalsozialistischen Rassenideologen sehr früh als angeblich minderwertig identifiziert: Geisteskranke, Juden und Zigeuner. Sie hatten bereits vor 1933 die ideologischen Grundlagen ihres Rassenstaates gelegt, in den ersten Monaten ihrer Herrschaft die rechtlichen Voraussetzung angeblich eugenischer Maßnahmen geschaffen und etwa, ein bezeichnender zufälliger Zusammenhang und Gegensatz, das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses am 14. Juli 1933 verkündigt, an selben Tag, an dem die Franzosen den Jahrestag des Sturmes auf die Bastille feierten.

Niemals haben die Nationalsozialisten in ihren Maßnahmen gegen Geisteskranke, gegen Juden und Zigeuner Unterschiede gemacht. Deshalb konnten Menschen, die Hand an Geisteskranke gelegt hatten, auch zum Gegenmenschen von Juden, Sinti und Roma werden. Dies machen viele der zeithistorischen Forschungen über den Völkermord an den Sinti und Roma klar und leistet auf diese Weise gerade keinen, wie man behauptet hat, Beitrag zur Relativierung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, sondern zur genauen Erkenntnis der Voraussetzungen, Umstände und Weiterungen eines Völkermords, der seinen Ursprung in dem Rassenwahn der Nationalsozialisten hatte.

In der Tat: Menschen, die am der Ermordung Geisteskranker beteiligt waren, wurden in die
Vernichtung der Juden einbezogen, Einsatzgruppen, die im Osten Juden erschossen hatten,
registrierten ebenso die Zahl der ermordeten „Zigeuner“, Gesetze, die sich gegen Juden rich-
teten, wurden innerhalb kürzester Zeit auch auf „Zigeuner“ ausgedehnt. Fand sich in Auswei-
sen von Juden ein „J“, so in den Ausweisen der „Zigeuner“ ein „Z“, wurden europäische Ju-
den in die Gettos des Generalgouvernements deportiert, so wurden auf „Zigeuner“ zusam-
mengetrieben, ausgeplündert, ihrer Erkrankung ausgesetzt, immer wieder selektiert, schließlich wie die europäischen Juden nach Auschwitz-Birkenau verschleppt, dort erneut selektiert, in Lagerbaracken zusammen gepfercht und schließlich bis auf wenige Überlebende ermordet. Wie die europäischen Juden, so wurden die europäischen Sinti und Roma im Zigeunerlager Birkenau, wie man den Lagerabschnitt B II a nannte, unter denselben Bedingungen ausgerottet.

Diese Zusammenhänge sind durch viele Forschungen deutlich gemacht worden. Man wende
nicht ein, man hätte dabei leichtfertig nach Parallelen gesucht! Diese drängen sich auf, sie
sind ein Umstand der Verfolgungsgeschichte von Minderheiten, die im Wahn von der Rassenreinheit als Gefahr gedeutet wurden. Vernichtung von Minderheiten aus Angst vor der Zukunft, vor dem Fremden, vor den Folgen der Mitmenschlichkeit.

Sehr schnell wurden von der neuen politischen Führung nach der nationalsozialistischen
Machtergreifung Fremdrassige definiert, Juden ebenso wie Sinti und Roma oder Menschen,
die Schwarze als Vorfahren hatten und als Rheinlandbastarde bezeichnet wurden. Bereits in
der Weimarer Republik hatte man „Zigeuner“ und Farbige erfasst. Diese Registrierung von
sogenannten Zigeunern wurde wenige Jahre später sogar als Forschungsanliegen verbrämt
und begünstigte doch nur die Konzentration der Ausgegrenzten in Lagern, die in einzelnen
Ortschaften entstanden waren.

Wir haben vor allem die Verfolgung der Juden erforscht, auch erst seit den sechziger Jahren
und viel zu spät, gewiss, aber unvergleichlich intensiver als die Verfolgung der Sinti und Ro-
ma. Dabei entsprach der Entrechtung der Juden die Entrechtung der Sinti und Roma ebenso
wie ihre gemeinsame Verfolgung. Schüler mussten die Schulen verlassen, Freundschaften
wurden zertrennt, und dies alles bereitete die Deportation vor. Sie wurde genau so organisiert wie die Deportation polnischer Juden. Kranke und behinderte „Zigeuner“ wurden ermordet, im Osten kam es zu Massenerschießungen durch Einsatzgruppen, die in ihren Ereignismeldungen auch die ermordeten „Zigeuner“ auflisteten, und auch medizinische Experimente wurden, nicht zuletzt an „Zigeuner-Kindern“, durchgeführt.

Im Dezember 1942 ordnete Himmler die Deportation der meisten „Zigeuner“ nach Auschwitz an. Sein Befehl wird auch nicht relativiert durch abstruse, völlig abwegige Vorstellungen, angeblich rassenreine Zigeuner irgendwo anders anzusiedeln. Derartige Überlegungen betrafen zu dieser Zeit auch Versuche, die europäischen Juden zu vertreiben. Ausnahmen gab es in der faktischen Verfolgung nicht. Diese Vorstellungen haben denselben Erklärungs- und Stellenwert wie Überlegungen, irgendwo weit im Osten oder in Madagaskar Juden anzusiedeln oder Zeugen Jehovas in unwirtlichen Grenzgebieten siedeln zu lassen. Die systematische Ausrottung der Juden und der „Zigeuner“ sind miteinander verwoben und
deshalb nicht genau zu unterscheiden. Dies mag erklären, weshalb bis heute Historiker weiterhin ihre Überlegungen zur genauer Bestimmung der Ermordetenzahlen anstellen, und
selbst hier ähneln sich die Untersuchungen des Völkermords an den Juden mit denen zur
Erforschung der Tragödie der Sinti und Roma.

In zwei Punkten unterscheiden sich die beiden Versuche des Völkermordes. Bereits in der
Weimarer Republik lassen sich Versuche nachweisen, die Sinti und Roma zu erfassen, zu
benennen, zu beobachten. Hier ist die Kontinuität zwischen der Weimarer Republik und dem NS-Staat zu greifen und ähnelt der Erfassung der sogenannten „Rheinland-Bastarde“, also der Nachfahren französischer farbiger Soldaten, die vor allem während der Besatzungszeit und der Ruhrbesetzung gezeugt worden waren, die polizeilich erfasst und durch Amtsärzte sterilisiert und zu einem erheblichen Teil nach 1933 ermordet wurden.

Und ebenso bemerkenswert wie die über das Jahr 1933 rückwärts ausstrahlende Kontinuität
ist die über das Jahr 1945 hinaus gehende Kontinuität der Ablehnung, der Befremdung, der
Gleichgültigkeit, ja der Verachtung, die sich gegen jene wenigen Sinti und Roma richtet, die
den Schrecken der NS-Zeit überlebt haben. Diese Kontinuität der Ablehnung überlagert sich
mit der Kontinuität der Täter, die vor allem polizeiliche Maßnahmen gegen die „Zigeuner“ in
der NS-Zeit verantwortet haben, nach 1945 weiterhin im Dienst bleiben und im Geist der
dreißiger Jahre weiter handeln. Sehr spät, in den Achtziger Jahren, werden „Landfahrer-Karteien“ als Fahndungsunterlagen aus dem polizeidienstlichen Geschäftsgang gezogen.

Dies war ebenso wie die Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaft und der Öffentlichkeit das Ergebnis von Bemühungen, die mit dem Namen von Romani Rose verbunden sind. Er hat in den Achtziger Jahren mutige und konsequente Zeichen gesetzt, öffentliche Kontroversen nicht gescheut, Demonstrationen vorbereitet und durchgehalten, sogar Besetzungen besonders symbolträchtiger Orte wie Dachau auf sich genommen. Er hat einiges, keineswegs alles, aber doch erstaunlich und bewundernswert viel erreichen können. Diskussionen über Ermordetenzahlen, in die sie Kritiker verwickeln wollten, sind geschmacklos, denn sie lenken von der wesentlichen und nicht zu bestreitbaren Erkenntnis ab, dass der Völkermord an der „Minderheit“, für die heute ein Zentralrat spricht, aus denselben rassenideologisch motivierten Vorurteilen, Gefühllosigkeiten und Vernichtungsabsichten resultierte, die sich gegen die europäischen Juden richtete. Die Konsequenz, mit der die deutschen Sinti und Roma ihr Ziel verfolgten, lässt sich nur mit Zustimmung und Respekt hervorheben. Die „Minderheit“ hat viel erreicht, was Menschen, die es als Verantwortliche besser wussten, in den Jahrzehnten unmittelbar nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft nicht vollbracht haben.

Wir haben begonnen, – „begonnen“, sagte ich, – die Geschichte des Völkermords an den Sinti
und Roma und an den anderen Stämmen der Minderheit in unser Bild von den Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu integrieren. Dies ist nicht allein die Frage schwebender Denkmalsentscheidungen, sondern dies ist eine Frage unserer Bereitschaft, die Ereignisse zur Kenntnis zu nehmen, die zur Ermordung Hunderttausender Sinti und Roma führten. Täter sind oft leichter identifizierbar als Opfer, vor allem, wenn ihre Zahl in die Hunderttausende geht. Und zugleich wird deutlich, dass zeithistorische Forschung Konturen zeichnete und zugleich auch vielen Menschen, die „entheimatet“ und „enthaust“, ihrer Angehörigen beraubt und ermordet wurden, ein Gesicht gab, in dem ihre Angst und ihre Würde sichtbar wurde. Augenblicklich droht das Erreichte in einem Inschriftenstreit zerstört zu werden, den sich auch dann nicht entschärfen lässt, wenn man den Begriff des „Zigeuners“ durch den des Ghipsy ersetzt. Das würde bedeutet, noch einmal der Verfremdung eines Völkermords Vorschub zu leisten, wie dies möglicherweise durch den Begriff „Holocaust“ oder „Shoah“ gelungen ist.

Mich haben die Menschen, die etwa in der Gedenkstätte der Minderheit in Heidelberg zu sehen sind, berührt und nicht losgelassen, seitdem ich sie zum ersten Male sah. Dies war kein Begleitumstand der Tatsache, dass ich noch niemals zuvor mit derartig vielen Opfern konfrontiert wurde, die meinen eigenen Namen tragen – „Steinbach“ ist ein häufig im Südwesten zu findender Sinti-Name. Dies war viel eher die Folge einer Erinnerung, die ich als kleines Kind machte: Anfang der fünfziger Jahre, ich muss vier Jahre alt gewesen sein, zog durch die Straße, in der unser Wohnhaus lag, in endloser Reihe ein Zug von Wagen vorbei, die damals, Anfang der fünfziger Jahre, noch von Pferden gezogen wurden. Sie fuhren vom Bahnhof meiner lippischen Heimatstadt durch die Straßen, irgendwohin. Ich stand und stand und guckte. Ich merkte, wie Eltern ihre Kinder ins Haus holten und erfuhr erst später, warum. Zigeuner, so hörte ich, sollten doch Kinder klauen. Selbst Elias Canetti, selbst Hilde Spiel, überliefern in ihren hinreißenden Erinnerungen diese dunkle Furcht.

Meine Mutter holte mich nicht ins Haus, warnte mich nicht, kein abschätziges Wort störte
mein Staunen, meine Neugier, meine Aufmerksamkeit an Menschen, Wagen und Tieren. Ab
und zu erblickte ich auch ein Kind, eigentlich aber, ich erinnere mich heute noch daran, wunderte ich mich, dass man keine Kinder sah. Heute kann ich mir das erklären. Und wenn ich rückblickend nachdenke, empfinde ich außer Dankbarkeit dafür, dass ich diesen Zug von
Menschen einfach staunend ansehen konnte, vor allem Zorn auf jene, die uns einreden woll-
ten, Zigeuner würden Kinder klauen, weil sie völlig verdrängt hatten, dass den vorbeiziehen-
den Familien der Minderheit selbst die Kinder von denen geraubt worden waren, die ihnen
Kinderraub unterstellten.

Manche derjenigen, die den Zigeunern in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen weiterhin Kinderraub unterstellten, hatten sich selbst an den Kindern vergangen, indem sie diese aus ihren Familien rissen, an Kindern, die für ihre Eltern Zukunft und Sicherheit verkörperten und die als das größte Glück und der größte Reichtum überhaupt empfunden wurden. Deshalb auch finde ich Diskussionen über Zahlen der Ermordeten so abstoßend, denn in der kollektiven Erinnerung handelt es sich neben den nachweisbaren Zahlen immer auch um die Einschätzung von verschütteten, abgeschnittenen, vernichteten Möglichkeiten, Lebenschancen zu entfalten und zu realisieren.

Das Schicksal der Minderheit der „Zigeuner“ macht deutlich: Wer einem Menschen die Würde streitig macht, leugnet sehr schnell sein Lebensrecht und bezweifelt seinen Lebenswert, gefährdet dessen Leben. Die Erklärung von „Lebensuntauglichkeit“ führt zur Bestreitung des „Lebensrechtes“, tötet das Mitleid und erleichtert, das Recht auf Überleben anzuzweifeln, das jeder hat, der ein Menschenantlitz trägt oder tragen wird. Denn wer den „Lebenswert“ seines Mitmenschen anzweifelt, gewöhnt sich an seine Verfolgung, verliert die Kraft zur Empörungsfähigkeit, zum selbstvertretenden mitmenschlichen Handeln, dessen Verfolgte oft bedürfen.

Wer diese Kraft nicht hat, hat auch keine Chance, bürgerlichen Mut als „letzte verantwortliche Tat“ (Dietrich Bonhoeffer) zu beweisen, also Zivilcourage, die wir heute bereits reklamieren, wenn wir machtvoll für unsere ureigensten Interessen eintreten. Zivilcourage rechtfertigt sich aus dem Eintreten für andere, nicht als Selbstartikulation, als Technik der Ego-Taktiker, die sich empören über die Grenzen ihrer Selbstverwirklichung, nicht aber für die Beschneidung der Rechte und Freiheiten des Anderen eintreten. Empörungsfähigkeit muss geübt werden, nicht als „sterile Aufgeregtheit“, wie der Soziologe Simmel einmal feststellt, sondern als die Kraft, das „Entsetzen im Auge“ des bedrängten, verfolgten Mitmenschen zu sehen, wie es in der alttestamentarischen Josephs-Geschichte heißt, und Folgerungen für das eigene Handeln zu ziehen.

Lebensrecht ist ein absolutes Recht, es lässt sich nicht ableiten aus Nützlichkeitserwägungen.
Es gilt einfach, und man kann nicht darüber streiten, unter welchen Bedingungen, seit wann,
wie lange es gilt oder gelten soll. Nicht alles lasse sich definieren, sagte Jaspers, denn eine
Definition legt Grenzen fest, unwiderruflich, auf Leben und Tod. Nicht bestimmte Grenzen
begründen den Raum einer Verantwortung, die jeder durch tägliche Entscheidung neu be-
gründen und vor allem beweisen kann. Dies macht die historische Reflexion zum wichtigen
Bezugspunkt moralphilosophischer Überlegungen, denn politisches Bewusstsein bezieht sich
häufig auf zeitgeschichtliche Erfahrungen. Vielleicht lernt man nicht aus der Geschichte. Aber man hat durch eine Konfrontation mit der Vergangenheit die Chance, nicht jede Erfahrung noch einmal machen – und zufügen! – zu müssen.

Das geplante Denkmal erinnert nicht nur an ein Verbrechen, sondern zugleich auf eine bewegende Weise an das Schicksal einer europäischen Volksgruppe, die zu unserer Geschichte und zu unserer Kultur gehört, obwohl sie im Laufe ihrer Geschichte exotisiert oder als fremd empfunden wurde wie jede Minderheit, die aber niemals bedrohlich war, sondern von Machthabern als Bedrohung vor die Augen der Zeitgenossen gerückt wurde und deshalb die Maßstäbe eines gebotenen mitmenschlichen Verhaltens verrutschen ließ.

Ausgrenzung hat Folgen: „Zu den artfremden Rassen“, teilte Frick als Reichs- und Preußischer Minister des Innenminister am 3. Januar 1936 den deutschen Landesregierungen, den preußischen Standesämter und den Gesundheitsämtern mit, „gehören alle anderen Rassen, das sind in Europa außen den Juden regelmäßig nur die Zigeuner.“ Wenige Monate nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze wurde festgestellt, dass die Nationalsozialisten keinen Unterschied zwischen Juden und „Zigeunern“ machten. Alles, was folgte, erklärte sich aus dieser Gleichsetzung: Verfolgung, Entrechtung, Deportation, Ermordung.

Der Völkermord, den die Nationalsozialisten an den Sinti und Roma begingen, macht deutlich, dass der industriemäßig betriebene Mord an den Juden und an der Volksgruppe, die man „Zigeuner“ nannte, aus einer gemeinsamen, gleichen rassenideologischen Wurzel legitimiert wurde. Deshalb ist es geschichtswissenschaftlich völlig unangemessen, die parallel verlaufenden Vernichtungsversuche – den Völkermord an den Juden und an den Sinti und Roma – zu isolieren, um die Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit des einen Völkermordes zu betonen und die Bedeutung des anderen zu relativieren.

Aus einem gemeinsamen Prinzip zielten die Nationalsozialisten auf ethnische Säuberungen,
vermischten den Kampf gegen ein Volk mit dem gegen den anderen, politisierten ihren Wahn, legitimierten sich durch ideologisch aufgeladene und moralisch völlig in die Irre führende Begriffe wie „Volksgesundheit“, „Volksschädling“, „Artreinheit“, erzeugten Nachfolgebereitschaft durch die Anfachung von Zukunftsängsten.

Es ist unbestreitbar, dass sich der Völkermord an den europäischen Sinti und Roma, die wie
die Juden seit Jahrhunderten in Europa lebten, ähnlicher Methoden bediente, dass die Praktiken der Vernichtung von Juden und Sinti und Roma völlig identisch waren. Insofern ist es völlig müßig, irreführend und abwegig, die Sinti und Roma auszugrenzen oder zu isolieren, wenn es um die Beschreibung des nationalsozialistischen Völkermordes geht.

Dabei geht es nicht um eine Relativierung des Völkermords an den Juden, den „Holocaust“ zu nennen ich mich trotz des im amerikanischen Sprachgebrauchs üblichen Verwendungszu-
sammenhangs konsequent weigere, weil ich in den Opfern des Völkermords kein Opfer erkennen kann und will, das Gott gefallen könnte, gleich, ob Holocaust amerikanisiert geschrieben oder eingedeutscht, wie seit einer Fernsehserie vorgeschlagen, mit „k“ geschrieben wird.

Singulär war die Energie, mit der die nationalsozialistische Führung ihr Kriegsziel der Ausrottung von Juden und Zigeunern verwirklichten, unvergleichlich war auch die Konsequenz, mit der Tötungsfabriken errichtet wurde, die nur zwei Ziele hatte: Menschen zu töten und Leichname zu vernichten. Und singulär war die Selbstverständlichkeit, mit der unter den Bedingungen der erkennbar gewordenen Niederlage an diesem Kriegsziel einer umfassenden ethnischen „Säuberung“ Europas festgehalten wurden.

Mit dieser Betonung der Einmaligkeit des Völkermords an den Juden und an den Sinti und
Roma soll nicht das eine Verbrechen durch andere relativiert werden, sondern deutlich ma-
chen, auf welche Weise beide Verbrechen des Völkermords miteinander verbunden sind und
zum “Menschheitsverbrechen“ im Sinne von Karl Jaspers werden. Diese Feststellung macht
den Mord an beiden Minderheiten, die in der deutschen und in der europäischen Gesellschaft leben und weiter gefährdet sind, nicht geringer, sondern schafft neue, wichtige, für die „humane Orientierung“ unverzichtbare  Vergleichsmaßstäbe.

Wenn diese Singularität bestritten wird, so erfolgt das aus geschichtspolitischen Gründen, die als erinnerungs- und gedenkpolitische Erklärungen verständlich sind, jedoch aus geschichtswissenschaftlichen nicht nachvollziehbar sind. Dies macht das Schlusskapitel des vorzüglich gestalteten Katalogs zur Heidelberger Dauerausstellung im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma mit der Kontroverse zwischen Yehuda Bauer und Romani Rose deutlich. Behauptet wird die Singularität des Völkermords an den europäischen Juden aus Gründen, die ihre Erklärung nicht in den Tatsachen und Fakten, sondern in einer kontextabhängigen Deutung des Gedenkens an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen finden.

Diese Zusammenhänge der Erinnerung sind in den letzten Monaten in die öffentliche Diskussion gerückt worden, insbesondere durch die bereits erwähnte Untersuchung von Peter Novick, der deutlich machen kann, wie die Erinnerung an der „Endlösung“, der „Final Solution“, an Völkermord, an den „Holocaust“, an die „Shoah“ eine Geschichte hat, die auf unsere Verantwortung für Form und Ziel einer Erinnerung verweist, die in das Gedenken führen kann.

Die Ermordung der Sinti und Roma ist ebenso singulär, weil es keine andere Minderheit gibt, die jener Gruppe gleicht, die man in Deutschland „Zigeuner“ nannte. Sie hatte eine ganz spezifische Kultur, die man nicht nur ahnen kann, wenn man den Jazz-Gitarristen Django Reinhardt liebt. Denn es handelte sich bei der Kultur der Sinti und Roma stets um mehr als um Zigeunerjazz – es handelte sich um einen wichtigen Bestandteil europäischer Kultur, der
durch Sinti und Roma, die seit der Mitte des 15. Jahrhundert nachweislich unter uns gelebt haben, verkörpert wurden und unsere europäische Kultur in ihre ganz charakteristischen Vielfältigkeit bereicherte.

Vielleicht kann man sich sehr schnell darauf einigen, dass jeder Mensch einmalig ist, dass es
sich bei jedem Mord um ein singuläres Verbrechen handelt, dass jeder Täter, der ein Leben
auslöscht, eine Welt vernichtet, dass jeder Helfer eines bedrohten Menschen eine Welt be-
wahrt, indem er ein Leben rettet. Aber das sind letztlich Sinngebungen, die nicht dazu beitra-
gen, die vergangene Wirklichkeit in den Blick zu nehmen.

Als einer der ersten hat dies Simon Wiesenthal ausgedrückt, vor fast fünfzig Jahren. Aber es
hat viele Jahrzehnte gedauert, bis diese Tatsache anerkannt wurde. Zwar wird weiterhin in der Forschung kontrovers das eine oder andere Detail bewertet, diskutiert man Opferzahlen, Entscheidungsfindungen. Das ist legitim, das ist auch notwendig, soll die Erinnerung den Tatsachen entsprechen und in der Entsprechung standhalten.

Aber Kontroversen zielen nicht auf Infragestellung und schon gar nicht auf die Relativierung
der Tatsachen durch bloße Meinungen. Die Realität des Völkermords an den Sinti und Roma
muss man aushalten, so schwer es fällt. Die Auseinandersetzung hilft, der Geschichte in der
Erinnerung standzuhalten. Und wer in dieser Weise standhält, der hat auch die Kraft zum Gedenken. Dies fliegt einen nicht an wie eine Emotion – Gedenken ist eine aktive Tätigkeit, dessen Kern dann die Erinnerung festigen kann.

Manche leben unter uns, die derartige Anstöße nicht brauchen, denn sie tragen sie als Wunden in ihrer Seele, ein Ergebnis der Ausrottung von Angehörigen, von Eltern, von Großeltern, von Elterngeschwistern. Wir können jetzt teilhaben am Schrecken, am Leiden, aber auch an der Vergegenwärtigung des Schrecklichen. Lassen wir uns als Nachlebende in der Konfrontation mit dieser geschichtspolitischen Debatte auf Zusammenhänge ein, stellen wir Verbindungen her, schauen wir auf die Vergangenheit, vergessen wir nicht, dass sich die ethnisch legitimierte Ausrottung von Menschen nach wie vor täglich vor unseren Augen ereignet. Flüchten wir uns nicht in das rhetorische „Nie wieder!“.

Bewahren wir uns das Gefühl unserer eigenen Gefährdung. Sagen wir uns: „Wir stecken mitten drin!“ Diese Satz drückt eine Erfahrung der Zeit unter nationalsozialistischer Herrschaft aus, artikuliert von einem Regimegegner, dem Heidelberger Theologen Hermann Maaß, der sich nicht außerhalb seiner Gesellschaft aufstellte und sich mit dem Ruf besänftige: „Gott sei Dank, ich bin nicht so!“. Er wusste, dass er Teil der Gesellschaft war, manche ihre Vorteile teilte und deshalb gefährdet war: „Nichts von dem, was wir im Anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd.“ Manche der vergangenen Erfahrungen müssen wir nicht machen, glücklicherweise. Aber immer wird der historisch wache Zeitgenosse spüren und ahnen, auf welcher schiefen Ebene er weiterhin steht, nicht nur er, auch ich, wir alle, ein jeder von uns. Und er ahnt in der Wahrnehmung des nationalsozialistischen antiziganischen Rassenhasses, welcher Preis das Versagen hat.

Internet:

http://www.romnokher.de/Romnokher/Willkommen_files/SintiuRomaStuttgart%2015.3.-2_aktuell.pdf

 

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„Nazis ermordeten mindestens 55 Sinti und Roma aus Hohenlohe“ Vortrag Udo Grausam in Waldenburg

Im März 2013 war es genau 70 Jahre her, dass die Nationalsozialisten hunderte Sinti und Roma aus ganz Baden und Württemberg in Sonderwaggons der Deutschen Reichsbahn nach Auschwitz deportierten, so auch auf der Strecke Heilbronn-Waldenburg-Schwäbisch Hall – darunter auch in Hohenlohe geborene.

Von Hans A. Graef, Kulturkneipe Gleis 1 in Waldenburg

NS-Deportationszug fuhr von Waldenburg nach Auschwitz

Eine Gedenktafel am Gleis1 Bahnhof Waldenburg erinnert seit 2011 an Klara Winter (1941 bis 1944, in Bretzfeld-Schwabbach gebürtig). Dem Kulturforscher Udo Grausam (Tübingen) gebührt der Verdienst, die rassistische Verfolgung der deutschen Zigeuner in Hohenlohe aufgearbeitet zu haben, wie er in der Kulturkneipe darlegte. Aus der Gruppe der Sinti und Roma wurden mindestens 73 in Hohenlohe (das heißt auf dem Gebiet der heute bestehenden drei Landkreise Hohenlohe, Main-Tauber und Schwäbisch Hall) geborene Personen inhaftiert und deportiert. Sie wurden in die nationalsozialistischen Haftstätten und Konzentrationslager verschleppt. Von ihnen sind 55 dort umgekommen oder sie wurden ermordet. 17 Personen haben überlebt und eine Person ist in den Lagern verschollen.

Diskriminierung von Sinti und Roma ist noch weit verbreitet

Gleis1-Kulturvorstand Hans A. Graef wies in seiner Begrüßung auf die historische und moralische Notwendigkeit hin, das Gedenken an diese insgesamt eine halbe Million Menschen umfassende deutsche Opfergruppe endlich in die öffentliche regionale Gedenkkultur aufzunehmen – gerade auch deshalb, weil der Anti-Ziganismus in Europa noch weit verbreitet ist und gegen deren Diskriminierung ein Denk-Mal gesetzt werden müsse. Ein nationales Denkmal wurde erst im Oktober 2012 in Berlin eingeweiht.

In der Adenauer-Ära gab es keine Wiedergutmachung

Udo Grausam konnte als besonderen Gast des Geschichtsabends den Sohn der in Bretzfeld-Bitzfeld gebürtigen Paula Schneck, Herrn Franz D. begrüßen, der nach dem Krieg geboren wurde und dessen sechs ältere Brüder im Zuge der Verfolgung in Polen ums Leben kamen. Herr D. berichtete in seinem berührenden Rückblick über die Biografie seiner Familie und wie noch in der Adenauer-Ära die Anerkennung der Verfolgung und Wiedergutmachung von der bundesdeutschen Verwaltung und demokratischen Gerichten abgelehnt wurden – was erst später korrigiert wurde. Seine Mutter habe nach dem deutschen Martyrium der diskriminierenden NS-Verfolgung auch darunter sehr gelitten.

In neun von 16 Gemeinden des Hohenlohekreises gab es Deportationen von Sinti

Auf dem Gebiet des heutigen Hohenlohekreises waren in neun der heute bestehenden 16 Städte und Gemeinden Menschen geboren worden, die von den Nationalsozialisten als „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ inhaftiert und deportiert wurden. Das waren wie bisher festgestellt 25 Menschen, die in 21 Ortschaften geboren worden waren. 15 von ihnen kamen in den Lagern um oder wurden er­mordet, zehn überlebten. Fast alle Akten dieser Verfolgung wurden von den Nazi-Schergen vernichtet oder verbrannten im Krieg. Auf Umwegen fand Udo Grausam in Düsseldorf die Unterlagen auch über die Familie D., die heute in Unterfranken beheimatet ist.

Landkreis Hall: 21 von 24 Deportierten starben

Auf dem Gebiet des heutigen Kreises Schwäbisch Hall wurden damals 24 Sinti geboren, die von den Nazis dann inhaftiert und deportiert wurden. Ihre 22 Geburtsorte liegen heute in 15 der 30 Städte und Gemeinden des Kreises Schwäbisch Hall. Von den 24 Personen kamen 21 ums Leben oder wurden ermordet, drei überlebten. Es gab noch weitere dort geborene Sinti, die aber nicht deportiert wurden, deshalb sind die hier nicht mitgezählt; sie waren aber rassisch verfolgt, weil man ihnen vom Lohn die sogenannte „Sozialausgleichsabgabe“ für Juden und „Zigeuner“ abzog. Diese rassistische Sondersteuer wurde dann nach 1945 bei den sogenannten „Wiedergutmachungsverfahren“ auch tatsächlich am ehesten entschädigt; im Staatsarchiv Ludwigsburg gibt es dazu Entschädigungsakten.

Ab 1936 in Arbeitshäuser und ab 1938 ins KZ verschleppt

Sinti gehörten dazu, wie dezidiert in der verdienstvollen Forchtenberger Schrift „Versperrte Wege, zerstörtes Leben“ (Dezember 2012) von Fritz Roschmann und Werner Beck am Beispiel von Johanna Schneck und Magdalene Reinhardt nachzulesen ist. Die in den bäuerlichen Dorfgesellschaften als Steinschläger, Dienstmägde, Hausierhändler und Musiker eher randständigen Sinti und Roma wurden ab 1936 in Arbeitshäuser und ab 1938 ins KZ Dachau eingewiesen, 1940 ins Generalgouvernement Polen deportiert und ab 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Paula D., geborene Schneck, war Opfer dieser Maßnahmen, ihr Mann Theodor überlebte das KZ Buchenwald. Theodor D. starb 1974, Paula D. 1981. Der Sohn Franz D. erhielt von Udo Grausam eine Kopie der erhaltenen Düsseldorfer Nazi-Akte seiner Mutter Paula D. für die Familienforschung überreicht. Udo Grausam forderte wie die übrigen Besucher, der verfolgten Sinti-Roma, ebenso wie die Gruppe der ermordeten Zwangsarbeiter endlich in das öffentliche Gedenken in Hohenlohe aufzunehmen.

Nachbemerkung von Udo Grausam:

Aufgrund eines Nachgesprächs mit Herrn Franz D., dem Sohn der verfolgten Sintiza Paula D. aus Bitzfeld, korrigiere ich hiermit eine Angabe aus dem Vortrag und aus den beiden Artikeln wie folgt. Nicht drei, sondern sechs Kinder von Paula D. sind im „Generalgouvernement“ umgekommen. Drei von ihnen starben im Ghetto Siedlce an Hungertyphus oder fielen der Gewalt zum Opfer. Ein Sohn starb auf der Flucht zurück nach Deutschland in der Nähe von Traunstein in Bayern an einer auf der Flucht zugezogenen Krankheit. Zuvor waren zwei weitere Brüder im „Generalgouvernement“ umgekommen oder ermordet worden. Von Paula D.s zehn Kindern haben die vier Töchter überlebt. Franz D. kennt seine umgekommenen älteren Brüder mit ihren Sinti-Namen, denn so hat seine Mutter den jüngeren Geschwistern von ihnen erzählt.

Weitere Informationen und Kontakt:

http://www.gleis1.net/index.php?title=kontakt

http://de.wikipedia.org/wiki/Czesław_Trzciński

http://www.vhs-crailsheim.de/Kurse%20Details/fachbereich-FS4d9c36322a587/semester-2-11/kat-CT431d93b94519f/U11160.html

 

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„Warum erinnern wir uns eigentlich?“ – Rede von Hermann G. Abmayr beim Jahrestag des Hessentaler Todesmarschs

Hermann G. Abmayr hat am 5. April 2013 die Rede zum Gedenken an den Hessentaler Todesmarsch 1945 gehalten. Abmayr sprach teilweise frei und ergänzte die schriftlich vorliegende Rede an einigen Stellen. Hohenlohe-ungefiltert dokumentiert den schriftlich vorliegenden Redeteil in voller Länge. Zur besseren Lesbarkeit hat die Redaktion Zwischenüberschriften eingefügt.

Von Hermann G. Abmayr,

Warum erinnern wir uns eigentlich?

Warum brauchen wir heute noch Gedenkorte?

Warum ist Erinnern nach wie vor wichtig?

Oder verkommt es zum bloßen Ritual?

Der Begriff Erinnerung und Erinnerungskultur wird in der üblichen Konnotation vor allem seit der Weizsäcker-Rede von 1985 gebraucht – fast inflationär; er gehört also zur herrschenden Ideologie.

Der damalige Bundespräsident sagte:

„Das Geheimnis der Erinnerung heißt Erlösung.“

Damit ist die Erinnerungskultur im Reich der Religion angekommen. Für einen religiösen Menschen mag das wichtig und berechtigt sein. Aber genügt das und wollen wir das? Wollen wir das Holokaust-Gedenken ein Religionsersatz wird?

„Weltliche Heilige“

Der Historiker Peter Novick meint, dass sich die Erinnerung an Auschwitz in eine „Zivilreligion“ verwandelt hat – mit diversen Dogmen und Ritualen. Die Überlebenden der Shoa seien zu „weltlichen Heiligen“ geworden. Und mit den Gedenkfeiern an den Orten des Leidens habe eine „Sakralisierung“ begonnen. Man mag zu diesen Thesen stehen, wie man will. Doch sie müssen diskutiert werden.

Tag des Gedenkens an die Opfer des NS 

Mitte der 1990er Jahre hat ein anderer Bundespräsident einen neuen Akzent in der Erinnerungskultur gesetzt, Roman Herzog. Er erklärte den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des NS. Am 27. Januar 1945 war Auschwitz befreit worden.

Kaum beachtete Opfergruppe Sinti, Roma und die Jenische 

Seitdem veranstaltet auch der Landtag von Baden-Württemberg alljährlich eine Gedenkfeier. Bei der diesjährigen Feier in Mannheim stand erstmals eine lange Zeit kaum beachtete Opfergruppe im Mittelpunkt, die Sinti, Roma und die Jenische. Die Nazis sprachen von der „Bekämpfung der Zigeunerplage“. Und dies schloss auch „nach Zigeunerart umherziehende Landfahrer“ ein, die man Jenische nannte.

Landtagspräsident sprach von Naziopfern

Ein Jahr zuvor hat Guido Wolf, der Präsident des Landtags, bei der damaligen Gedenkfeier einen, wie ich meine, wichtigen Satz gesagt: „Die Opfer waren Menschen wie du und ich.“ Und er sprach von den Opfern der Nazis, er sprach von „den Nazis“. Auch so kann man „Erlösung“ erfahren.

Überspitzt formuliert:

Die Nazis, eine quasi exterritoriale Gruppe von Verbrechern, jedenfalls nicht Menschen wie du und ich, haben malträtiert, Menschen wie du und ich. Im Mittelpunkt der Erinnerung steht seit Mitte der 1980er Jahre das Opfer, das Leiden der Opfer, die Identifikation mit den Opfern.

Doch genügt das?

Einigen Mitgliedern der Stuttgarter Stolpersteininitiativen genügte es nicht. So entstand die Idee ein NS-Täter-Buch zu machen. Denn auch die Täter waren Menschen wie du und ich.

Primo Levi schrieb:

„Es gibt Ungeheuer, aber es sind zu wenige, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“ Und wer waren die Täter, wer die Opfer, wer die Zuschauer, wenn es die überhaupt gab? Wir haben in unserem Buch Täter beschrieben, die kein Parteibuch der NSDAP hatten:

Paul Binder, der Banker der Arisierung

oder

Dr. Dr. Erwin Goldmann, ein Nazi und Denunziant, den die Partei abgelehnt hat, weil er keine „arische“ Herkunft nachweisen konnte.

Und wir haben Täter erwähnt, die auch Opfer waren:

Artur Nebbe, Einsatzgruppen-Leiter, der 10.000 Opfer auf dem Gewissen hat und als Verschwörer der 20. Juli hingerichtet wurde. Und wiederum Erwin Goldmann, der wegen der Religionszugehörigkeit eines Vorfahren vielfach diskriminiert wurde. Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern müssen also nicht immer eindeutig sein.

Den traditionellen Täterbegriff erweitert

Wir haben in unserem Buch auch den traditionellen Täterbegriff erweitert. Denn mit Hitler und seinen paar Helfern wäre der NS-Terror und seine fürchterliche Erfolgsgeschichte nicht erklärbar. Der Sozialpsychologe Harald Welzer fordert, „dass man sich von der Vorstellung freimachen muss, dass es auf der einen Seite Täter gibt, die Verbrechen planen, vorbereiten und ausführen, und auf der anderen Seite Unbeteiligte oder Zuschauer, die einen tiefgreifenden Gesellschafts- und Wertewandel lediglich indifferent zur Kenntnis nehmen.“

Es gibt keine Unbeteiligten

„Mit solchen Personenkategorien kann der Handlungszusammenhang, der schließlich in den Massenmord und in die Vernichtung führte, nicht angemessen beschrieben werden. Es gibt nämlich in einem solchen Zusammenhang keine Zuschauer, es gibt auch keine Unbeteiligten. Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise, der eine intensiver und engagierter, der andere skeptischer und gleichgültiger, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit von Tätern und Opfern herstellen.“

Und an anderer Stelle:

„Wenn der Holocaust als ein in breiten Teilen der Bevölkerung zustimmungsfähiges Projekt zustande gekommen ist, liegt darin die Herausforderung, in der Gegenwart die Potentiale für antisoziales Verhalten, für die Aufweichung rechtstaatlicher Prinzipien, für gegenmenschliche Praktiken wahrzunehmen. Dann aber wäre die Erinnerung nicht museal und identifikatorisch, sondern gegenwärtig, reflexiv und politisch.“

Worum geht es also beim Gedenken?

Geht es um Orts- oder Landesgeschichte, um NS-Geschichte? Oder um NS-Geschichten? Nach dem Motto: Ich kenne auch noch einen Nazi aus Region, der Dreck am Stecken hat. Oder: Hitler hatte auch in Schwäbisch Hall einige Helfer. Oder: Das war aber schlimm, was man in den Kriegsjahren mit Herr XY gemacht hat.

Ich denke, dies wäre der falsche Ansatz

Beim Gedenken geht es in erster Linie um uns selbst. Wir müssen von der Gegenwart aus denken, gegenwärtig, reflexiv und politisch, wie Harald Welzer sagt. Und mit WIR meine ich nicht die Experten, nicht die Politiker und nicht irgend ein „Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung“. Der Begriff stammt übrigens nicht von mir, sondern aus dem Buch „Das Eigentliche“ von Iris Haneka. WIR, das sind die Bürger. Oder, wie es neudeutch heißt, die Zivilgesellschaft.

Lebendiges Stück Erinnerungsarbeit

Und dieser Prozess der Aneignung hat längst begonnen. Aleida Assmann von der Universität Konstanz hat erklärt, dass die Debatte um Orte des Gedenkens und die Gestaltung dieses Erinnern selbst schon ein lebendiges Stück Erinnerungsarbeit ist.

Und an anderer Stelle sagt Assmann:

„Das Paradoxe an unserer deutschen Geschichte ist, dass wir aus negativen Lektionen die positiven Werte der Achtung des Anderen und des Eintretens für Menschenrechte erworben haben.“ Dies sei nicht rückwärtsgewandt, sondern hochaktuell.

Assmann nennt:

– latenten Rassismus und die leichtfertige Einstufung des Fremden als Bedrohung,

– mangelnde Empathie mit Opfern neonazistischer Gewalt und

– eine ‚Ideologie der Ungleichwertigkeit‘, das heißt die Bereitschaft zur Herabstufung von Bürgern dieses Landes zu Menschen zweiter Klasse“.

Skandal: NSU mordete viele Jahre unerkannt

Und hinzufügen muss man natürlich den Skandal, dass der NSU über viele Jahre unerkannt blieb und zehn Menschen aus rassistischen Gründen ermorden konnte. Und der Verfassungsschutz schaute zu, hatte V-Leute in der Szene, die möglicherweise an den Morden beteiligt waren.

NSU-Prozess in München beginnt

Am 17. April beginnt nun in München der Prozess gegen einige Beteiligte der NSU-Morde. Doch wir kennen noch lange nicht das Netzwerk, das hier am Werk war. Etliche mutmaßlich Täter stehen nicht vor Gericht.

NSU und Ku-Klux Klan in Baden-Württemberg aktiv

Und NSU und Ku-Klux Klan und andere Neonazi-Gruppen waren auch in Baden-Württemberg aktiv. Vor unserer Haustür. Und bis in die Polizei hinein. Der Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages wird sich mit diesem Thema am 18. April befassen.

Warnung vor einem zu engen Blick

Allerdings möchte ich vor einem zu engen Blick warnen. Geschichte wiederholt sich nicht, auch die NS-Geschichte. Die Gefahren lauern vielleicht an ganz anderer Stelle. Ich möchte nur ein Beispiel nennen: Allein im Jahr 2010 sind die Lebensmittelpreise weltweit im Durchschnitt um 33 Prozent in die Höhe geschossen. Dies hat 40 Millionen Menschen in den Hunger und in extreme Armut getrieben. Weder Dürre, noch die Nachfrage für Biosprit können den Preisanstieg vollständig erklären. Viele Experten sind sich einig, dass Spekulationen mit Lebensmitteln und ihren Preisen eine wesentliche Rolle bei den weltweit steigenden Kosten spielen.

Banker als Täter?

Sind die verantwortlichen Banker also Täter? Keiner von ihnen hat ein Parteibuch der NSDAP oder der NPD oder gar der NSU. Auch der vorher erwähnte Arisierungs-Banker Paul Binder hatte kein Parteibuch. Kann man also Josef Ackermann und seine Nachfolger bei der Deutschen Bank und Paul Binder in einem Atemzug nennen? Ich will diese Frage nicht vertiefen. Dies ist nicht der Platz dafür. Doch auch hier gilt es genau hinzuschauen und zu differenzieren.

Orte wie Hessental nicht für tagespolitische Zwecke instrumentalisieren

Ich warne auch vor einer plumpen politischen Instrumentalisierung dieses Ortes hier in Hessental oder anderer historischer Orte für tagespolitische Ziele. Ein Gedenkort sollte immer auch ein Lernort sein, ein Lernort für alle Bürger; er muss er vor allem OFFEN sein, muss Freiräume bieten, Kommunikation ermöglichen. Er muss Fragen zulassen, auch „ketzerische“. Selbst wenn Experten und Politiker oder die Träger damit schwer umgehen können.

Fragen der Menschen behandeln

Nur wenn die Fragen der Gesellschaft, die Fragen, die jüngere Generationen stellen, in diesen Orten verhandelt werden können, werden sie mehr als ein Alibi sein. So könnten die Bürger eigene Erfahrungen machen. Lernort also nicht im Sinne von Konsum mehr oder weniger gut aufbereiteter Angebote, sondern im Sinne von selber tun und selbst erleben.

Ehemalige Gestapo-Zentrale als bürgerschaftlicher Lernort neuen Typs

Harald Welzer fordert „bürgergesellschaftliche Lernorte neuen Typs“. Diese Aufgabe steht jetzt in Stuttgart an. Beim „Hotel Silber“, der ehemaligen Zentrale der württembergischen Gestapo. Rückblick: Das Gebäude im Zentrum von Stuttgart sollte abgerissen werden

… Breuninger, Landtagswahl…

Jetzt geht es vor allem um die Finanzierung. Ein Streit zwischen Stadt und Land. Über Konzepte wird bereits gesprochen. Auch über neue Ansätzen, denn die heutigen Generationen haben andere Gewohnheiten und Standards der Mediennutzung und Wissensgenerierung. aber auch erlebnisorientierte Formate. Damit sind auch besondere Chancen verbunden.

Beim Projekt „Hotel Silber“ in Stuttgart geht es auch um Geld

All diese Fragen sollten nicht von Oben herab diskutiert werden, sondern unter den Bürgern selbst – zusammen mit den Experten, die dafür ausgewählt werden – und natürlich auch bezahlt werden müssen. Deshalb geht es bei dem landesweit bedeutenden Projekt „Hotel Silber“ in Stuttgart auch um Geld. Und dies gilt genauso für vergleichbare Projekte in Landkreisen, Städten und Gemeinden.

1933 wurden wichtige Weichen gestellt

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Art und Weise, wie man vor Ort mit der eigenen Geschichte – und damit auch der NS-Geschichte – umging und umgeht. Historiker sprechen von Rezeptionsgeschichte. Im diesem Jahr können wir dies gut beobachten am Umgang mit dem Jahr 1933. Damals vor 80 Jahren wurden wichtige Weichen gestellt. Im Januar wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Es gibt Städte, die sich mit dem Thema befassen, andere nicht. In Schorndorf wollte die Mehrheit des Gemeinderats eine geplante Veranstaltungsreihe nicht finanzieren. Der OB erklärte dann, er würden das Honorar eines Referenten aus eigener Tasche bezahlen.

Einziger politischer Streik gegen Hitler 

Streit gab es auch in Mössingen bei Tübingen. Obwohl die Mössinger stolz sein könnten auf ihre Geschichte. In Mössingen fand im Januar 1933 der einzige politische Streik gegen Hitler statt. Doch manche wollen sich ungern daran erinnern. Schließlich hatten die Kommunisten zu dem Streik aufgerufen.

Arbeiterinnen und Arbeiter legten in Mössingen die Arbeit nieder 

Am 31. Januar 1933 legten Arbeiterinnen und Arbeiter in Mössingen die Arbeit nieder und marschierten durch ihr Dorf. Vorneweg ein Transparent, worauf stand: „Heraus zum Massenstreik“. Männer und Frauen, Arbeiter und Handwerker, Nebenerwerbsbauern und Arbeitslose. Blechtrommler, die die Nazis aus dem Takt bringen wollten. Ein politischer Streik.

Nicht die Daimler- und Bosch-Arbeiter in Stuttgart gingen auf die Straße

Nicht die Daimler- und Bosch-Arbeiter in Stuttgart gingen auf die Straße, nicht die des roten Ruhrgebiets oder die aus Berlin, sondern Männer und Frauen in einem 4000-Seelen-Dorf. in Mössingen im Steinlachtal am Fuße der Schwäbischen Alb, nicht weit entfernt von der Universitätsstadt Tübingen.

Regierung Hitlers „lahmzulegen und zum Rücktritt zu zwingen“

„Wäre diese Aufforderung zum Generalstreik befolgt worden“, heißt es 21 Jahre später in einem letztinstanzlichen Urteil des Landgerichts Stuttgart, „so wären diese Maßnahmen durchaus geeignet gewesen, das angestrebte Ziel zu erreichen“, die Regierung Hitlers „lahmzulegen und zum Rücktritt zu zwingen“.

Durch Machtübernahme Adolf Hitlers war eine Notstandlage eingetreten 

Die Richter werteten den Eingriff in das Eigentumsrecht der bestreikten Unternehmen, zwar als Straftat, doch sei durch die Machtübernahme Adolf Hitlers eine Notstandlage eingetreten, die zu diesem Eingriff berechtigte. Sie attestierten den Mössinger Rebellen, die auch eine „Arbeiter- und Bauernrepublik“ gefordert hatten, einen „aus Überzeugung geleisteten Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft“. Und das sei „ein Verdienst um das Wohl des Deutschen Volkes“.

Stauffenberg galt vielen immer noch als Verräter

Das Urteil war ungewöhnlich in der Adenauer-Ära. In der Zeit des Kalten Krieges, der Wiederaufrüstung und der großen Legendenbildungen. Als Widerstandskämpfer wurde damals meist nicht einmal Wehrmachtsoffiziere wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg anerkannt. Der Hitler-Attentäter aus einem alten schwäbischen Adelsgeschlecht galt vielen immer noch als Verräter. Für die renitenten Mössinger Proleten hätte er nur Verachtung übrig gehabt. Er hatte die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 ausdrücklich begrüßt und sich vor lauter Begeisterung an der Ausbildung der Schlägertrupps der Nazis, der SA, beteiligt.

Rommel war lange Hitlers Lieblingsoffizier

Verehrt hat die Mehrheit der Deutschen in den 1950er Jahren vor allem eine Propaganda-Erfindung von Josef Goebbels, einen Held des Ersten und Zweiten Weltkriegs, Erwin Rommel. Hitlers Lieblingsoffizier, der in Ostwürttemberg aufgewachsen ist, galt als Inbegriff des „guten sauberen Soldatentums“.

Die Legende vom Widerstandskämpfer

Einer der Drehbuchschreiber dieser Legende war der Schwabe Hans Speidel, Stabschef der Heeresgruppe B unter Rommel. Er adelte Rommel mit dem Titel Widerstandskämpfer und machte ihn zu einer Ikone der jungen Bundeswehr, nach dem Kasernen, ein Kriegsschiff und Straßen benannt wurden. Bundeskanzler Konrad Adenauer machte Speidel 1950 zu seinem militärischen Berater. Später wurde Rommels ehemaliger Stabschef einer der mächtigsten Militärs des westlichen Verteidigungspakts, Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa.

Elser gelang es fast Hitler zu ermorden

Rommel oder Stauffenberg? Das war damals die Frage. An die renitenten Mössinger Arbeiter war gar nicht zu denken. Auch der Handwerker Georg Elser sollte viele Jahrzehnte lang nicht geehrt werden. Der Mann, der ganz in der Nähe von Rommels Geburtsort Heidenheim aufgewachsen ist und es beinahe geschafft hätte, Hitler zu ermorden. Zwei Monate nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und fünf Jahre vor den Attentätern des 20. Juli. Während es über Rommel und Stauffenberg zahlreiche Spielfilme gibt, hat es Elser bisher nur zu einem gebracht, die Mössinger zu keinem.

Rummel um Rommel will nicht aufhören 

Und der Rummel um Rommel will nicht aufhören. Erst im November des Vorjahres fand in deutschen Wohnzimmern ein seltsames Rommel-Gedenken statt. Fast sieben Millionen Menschen verfolgten vor der Glotze die soundsovielte Verfilmung des großen Dramas. Nicht dass Regisseur Niki Stein Rommel erneut zum Widerstandskämpfer gemacht hätte, doch ohne positive Identifikation mit dem Helden, funktioniert ein Drama nun einmal nicht.

Generalstreiker aus Mössingen schafften es noch nie auf ein Spiegel-Cover 

Der Rommel-Mythos bringt Zuschauer; er verkauft sich gut. So war sich der „Spiegel“ nicht zu schade, den Titel-Umschlag mit einem Propaganda-Foto aus der Nazi-Zeit zu präsentieren. Die Generalstreiker aus Mössingen schafften es noch nie auf ein Spiegel-Cover. Warum auch? Für ein großes deutsches Drama sind die Mössinger Rebellen ungeeignet. 80 von ihnen landeten zwar wegen Landesfriedensbruch im Knast, einige sogar wegen Hochverrat, doch es gab keinen Schuss, es gab keine Märtyrer, keinen, der wie Rommel in den Tod gezwungen wurde.

Generalstreik verhinderte Kapp-Putsch

Massenstreik oder Attentat? Was wäre wirksamer gewesen? Immerhin verhinderte ein Generalstreik zwölf Jahr zuvor einen rechten Putsch, den sogenannten Kapp-Putsch.

Arbeiterparteien bekämpften sich bis aufs Messer

Doch warum folgten nur wenige hundert Menschen dem Streikaufruf der KPD-Zentrale? Die SPD und Gewerkschaften verordneten Ruhe als erste Bürgerpflicht. Und die KPD-Spitze hatte sich bei den Arbeitern selbst diskreditiert: Sie hatte bereits so oft erfolglos zum allgemeinen Arbeitsniederlegung gerufen, dass dies kaum mehr ernst genommen wurde. Zudem hatten sich die beiden Arbeiterparteien bis aufs Messer bekämpft. So beschimpfte die KPD die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“, was die Spaltung der Linke noch vertiefte.

Pausa-Chefs gaben ihren Leuten nachmittags frei 

Die Mössinger Linken dagegen nahmen den KPD-Aufruf ernst. Und die Pausa-Arbeiter stimmten mit knapper Mehrheit für den Ausstand, obwohl sich ihr Betriebsratsvorsitzender dagegen ausgesprochen hatte, da keine Anweisung von oben vorlag. Schließlich gaben die Pausa-Chefs ihren Leuten nachmittags frei. Und die Arbeiterinnen und Arbeiter zogen mit Trommeln und Pfeifen weiter durchs Dorf. Sie sangen Lieder und skandierten „Hitler verrecke“.

Tradierte Handlungsmuster bei ländlichen Rebellionen 

Der Schwaben-Streik gegen Hitler sei „kein Implantat gewesen, das dem ‚Dorfkörper’ gänzlich fremd gewesen wäre“, schreibt Bernd Jürgen Warneken von der Universität Tübingen. Die Mössinger hätten „tradierte Handlungsmuster bei ländlichen Rebellionen“ aufgegriffen, ein Thema, das bisher nur wenig erforscht worden ist.

Warum wurden viele zu Tätern?

Es gibt also noch viel zu erforschen. Warum leisteten die Mössinger schon so früh Widerstand? Warum leisteten andere später Widerstand? Warum machten die meisten Leute mit, wurden viele zu Tätern?

Und was lernen wir aus dem politischen Streik in Mössingen, was aus dem Generalstreik 1921?

In Deutschland sind politischen Streiks im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern tabu. Man denke nur an den 14. November 2012. In Griechenland, Portugal, Spanien, Zypern, Malta und in Italien haben Millionen Menschen einen Tag lang die Arbeit niedergelegt, um gegen die anhaltenden Kürzungen ihrer Löhne und Renten, gegen weitere Einschnitte im Gesundheits- und Bildungswesen und immer neue Sparpakete zu protestieren.

Merkels „marktkonforme Demokratie“

Ein Streik gegen die Regierungen. Doch das passt genauso wenig in Angela Merkels „marktkonformer Demokratie“ wie die renitenten Montagsdemonstranten in Stuttgart oder die Menschen im Wendland, die sich seit vielen Jahren gegen das Atomlager in Gorleben wehren.

Grundgesetz garantiert auch Streikfreiheit

Dabei garantieren Verfassung und Völkerrecht mit der Koalitionsfreiheit „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ (Art. 9 Abs. 3 GG) auch die Streikfreiheit. Folgerichtig hat ein von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berufener Sachverständigenausschuss festgestellt, dass ein Verbot von politischen Streiks völkerrechtswidrig ist.

Mössinger scherten sich nicht um Rechtsfragen

Die Mössinger hatten sich um diese Rechtsfragen nicht gekümmert. Schon im 19. Jahrhundert beschrieb der Pfarrbericht den im Ort vorherrschenden „Geist des Spottes und der Lästerung“. Zivilcourage war bei vielen von ihnen Bürgerpflicht. Ein Geist, der bei hohen Militärs wie Stauffenberg viel zu lange oder, wie bei Rommel, überhaupt fehlte.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Weitere Informationen und Kontakt:

http://www.kontextwochenzeitung.de/no_cache/newsartikel/2013/01/vergessener-widerstand/?sword_list%5B0%5D=abmayr

http://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2013/01/die-trommler-des-widerstands/

http://schwaebischer-heimatbund.de/index.php?cid=822

http://www.kz-hessental.de/

 

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„Rassistisches Gefasel kam schon 1924 aus der Mitte der Gesellschaft“ – Gedenkrede von Siegfried Hubele zum Jahrestag des Hessentaler Todesmarschs

Zum Gedenken an die Opfer des Konzentrationslagers Hessental und den Todesmarsch, der dort am 5. April 1945 begann, sprach als erster Redner Siegfried Hubele aus Schwäbisch Hall. Hubele ist einer der Sprecher der Initiative KZ Gedenkstätte Hessental. Hohenlohe-ungefiltert dokumentiert die Rede in voller Länge.

Von Siegfried Hubele, Initiative KZ Gedenkstätte Hessental

Hessentaler Todesmarsch begann am 5. April 1945

Ich begrüße Sie im Namen der Initiative KZ Gedenkstätte Hessental zu unserer Gedenkveranstaltung anlässlich des Beginns des „Hessentaler Todesmarsches“ am 5. April 1945.

Am 2. September 1924 war im Haller Tagblatt folgendes zu lesen:

„Nach der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur, die der Redner anführte, gäbe es 4 Rassen im deutschen Volk. Die Juden seien dort nicht aufgeführt, infolgedessen gehörten sie wissenschaftlich nicht zum deutschen Volk. Es sei auch eine Wunschvorstellung, wenn man meine, alles, was Menschenantlitz trage, gehöre zusammen.“ Dieses rassistische Gefasel stammt aus einem Vortrag des Obermedizinalrates Dr. de Bury, auf einer Veranstaltung der Haller NSDAP.

Heute würde man sagen – von einem Mann aus der „Mitte der Gesellschaft“.

Mit der Machtübertragung am 30. Januar 1933, an Hitler als Reichskanzler, ohne Parlamentsvotum und tatsächliche Mehrheitskoalition – begann der Marsch Deutschlands in Verfolgung, Krieg und Völkermord.

Schweigen, Wegsehen und Mitmachen großer Teile der Gesellschaft

Nachdem die politischen Gegner – Sozialdemokraten, Kommunisten, standhafte Gewerkschafter und aufrichtige Menschen aus dem Bürgertum durch den SA-Terror schwer geschwächt waren – konnte sich der Rassismus des neuen Regimes voll entfalten. Leider auch getragen durch Schweigen, Wegsehen und Mitmachen großer Teile der Gesellschaft.

Synagoge in Steinbach von Nazis und gut situierten Bürgern niedergebrannt

Am 1. April 33 organisierte die SA den ersten Boykott jüdischer Geschäfte in Hall. 1935 wurden alle jüdischen Kinder aus den Haller Schulen verbannt und mussten auf eine jüdische Schule nach Braunsbach. 1938 wurde die Synagoge in Steinbach von Nazis und gut situierten Bürgern – darunter Lehrer, Beamte, Kaufleute… – niedergebrannt und der jüdische Betsaal in Hall zerstört und mehrere jüdische Bürger verhaftet, einige ins KZ Dachau verbracht.

Finanzamt und Polizei waren willige Gehilfen

1939 bereicherte sich der Nazistaat bei der Flucht und Vertreibung der Haller Juden über die so genannte „Reichsfluchtsteuer“ und die „Judenvermögensabgabe“. Das Finanzamt und die Polizei waren dabei willige Gehilfen. 1941 – beim ersten Transport württembergischer Juden in die Vernichtungslager waren vier Hallerinnen und Haller betroffen. Alle vier Menschen überlebten das Ghetto von Riga nicht.

42 Haller wurden Opfer des rassistischen Völkermords

Insgesamt wurden 42, mindestens zeitweise in Schwäbisch Hall lebende Menschen, Opfer des rassistischen Völkermords. Im Mai 1942 stellt der Haller Bürgermeister fest: Dass Schwäbisch Hall nun „judenfrei“ sei. Schon ein Jahr zuvor hatte sich zumindest ein Haller Bürger aktiv bei der Verwirklichung „judenfreier Gebiete“ in der Ukraine hervorgetan.

90 Kinder und Säuglinge ermordet

August Häfner – sorgte dafür, dass 90 jüdische Kinder und Säuglinge am 22. August 1941 in einer von der Wehrmacht ausgehobenen Grube von ukrainischer SS erschossen wurden.

Millonenfacher Mord

„Judenfrei“ war das Reichsgebiet Anfang der 1940er Jahre – weil die in Deutschland lebenden Juden zur Zwangsarbeit und Vernichtung in den europäischen Osten gebracht wurden. Offensichtlich war es den „Volksgenossen“ nicht zuzumuten, die Vernichtungslager der Juden vor der Haustüre zu haben. Den millionenfachen Mord an den jüdischen Menschen aus Osteuropa, durch die SS – und Polizei-Sonderkommandos und die Wehrmacht – wollten viele nur als „Feindpropaganda“ sehen.

800 jüdische Häftlinge sollten den Flugbetrieb in Hessental sicherstellen

1944 angesichts der militärischen Niederlage der Wehrmacht unternahm der Nazistaat nochmals Anstrengungen die Rüstungsproduktion zu steigern, insbesondere mit der Fertigung von Kampfflugzeugen. Auch hier in Hessental. 800 jüdische Häftlinge sollten den Flugbetrieb auf dem Fliegerhorst sicherstellen.

„Wettlauf mit dem Tod“

Izchak Lamhut, der Ende 1944 Häftling hier im KZ Hessental war, musste zuvor Sklavenarbeit für eine deutsche Flugzeugfabrik im polnischen Budzy verrichten. Er stammte aus dem kleinen Städtchen Krasnik. Izchak Lamhut verlor fast die gesamte Familie während der verschiedenen Auflösungen der Ghettos und Arbeitslager durch die Deutschen. Seine Mutter war im Gefängnis des Ghettos mit dem jüngsten Bruder Schlomo eingesperrt. In seinen Erinnerungen „Wettlauf mit dem Tod“ beschreibt Izchak Lamhut in dramatischen Worten den letzten Kontakt mit der Mutter:

Gott, hilf mir doch, meiner Mutter zu helfen!

„Irgendjemand erzählte mir, dass meine Mutter im Gefängnis saß. Ich rannte natürlich sofort dorthin, und meinen Augen bot sich ein schreckliches Bild. Meine Mutter steht am geschlossenen Fenster, das zusätzlich mit einem Gitternetz überzogen ist, hält Shlojmele an der Hand und beide weinen. Als meine Mutter mich unten stehen sah, begann sie mich anzuflehen, liebes Kind, Itzchak, rette uns, morgen wollen sie uns täten. Liebes Kind, schütte Öl in die Lampe, solange der Docht noch brennt, du wirst deine Mutter verlieren. Ich schauderte am ganzen Körper, ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen und sie erzählte mir alles, was in den paar Tagen, seitdem ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, zugestoßen war. Damals war sie noch zuhause gewesen, und jetzt zog sich schon die Schlinge um ihren Hals zu. Erbarme dich meiner, und wenn nicht, dann wenigstens deines kleinen Bruders. Meine Mutter sprach mit heiserer Stimme, und wie in einem Reflex hob ich die Arme hoch und schrie `Gott, hilf mir doch, meiner Mutter zu helfen!´ Ich merkte gar nicht, dass hinter mir zwei von der SS standen. Plötzlich bekam ich eine schallende Ohrfeige und jemand schrie: `Mach, dass du wegkommst, du Hund, sonst erschieß ich dich!´ Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter gesehen habe. Ich hatte überhaupt keine Möglichkeit, Öl in die Lampe zu gießen, und am nächsten Tag brachten sie meine Mutter und das Baby auf den Friedhof und erschossen sie dort.“

Hunger, Krankeit und Mord 

Izchak Lamhut war am 5. April 1945 ein Überlebender des KZ Hessental. Mit seelischen und körperlichen Narben, die wir uns kaum vorstellen können. Mindestens 182 seiner Leidensgenossen aus dem KZ-Außenlager Hessental starben durch Hunger, Krankeit und Mord.

Hessentaler Todesmarsch forderte mehr als 150 Todesopfer

Wahrscheinlich mehr als 150 Todesopfer forderte der Hessentaler Todesmarsch, den die Häftlinge größtenteils zu Fuß ab Sulzdorf – über Ellwangen und Nördlingen nach Dachau-Allach zurücklegen mussten.

Dieser Männer gedenken wir heute!

Gedenken hat aber immer etwas mit nachdenken zu tun. Es gab in den letzten Jahren kaum einen Skandal, der die Menschen in der Bundesrepublik so beschäftigt hat, wie die Morde des terroristischen Nazitrios „Nationalsozialistischer Untergrund“. Die meisten hätten sich die Ausmaße dieser Verbrechen vorher nicht vorstellen können.

Gegen alltäglichen Rassismus kämpfen

Deshalb ist es an solchen Gedenktagen, wo wir an die Opfer des Faschismus erinnern, ein wichtiges Anliegen, nachzudenken, ob Rassismus und rechter Terror eine Gesellschaft wie unsere wieder beherrschen könnte? Welche Warnsignale kommen aus der „Mitte der Gesellschaft“? Was können wir tun gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen Asyl-Hetze, gegen den alltäglichen Rassismus!

Hauptredner ist Hermann Abmayr

Unser Hauptredner heute ist Hermann Abmayr. Er ist Journalist, Buch- und Hörfunkautor und Filmemacher – und hat sich auf vielfältige Weise mit dem Thema befasst. Ich denke er wird in seinem Beitrag die Kontinuität des historischen Faschismus aufzeigen, der bis heute der Bezugspunkt vieler terroristischer Nazigruppen ist. Zuerst spielt nochmals die Gruppe Yondar – die uns auch in diesem Jahr einen würdigen musikalischen Rahmen bereitet. Danke.

Anmerkung von Hohenlohe-ungefiltert:

Die Rede von Hermann Abmayr wird demnächst auf dieser Internetseite veröffentlicht.

Weitere Informationen und Kontakt:

http://www.kz-hessental.de/index.php/geschichte/der-todesmarsch

http://www.kz-hessental.de/index.php/termine

http://stuttgarter-ns-taeter.de/

http://moessingergeneralstreik.wordpress.com/

http://de.wikipedia.org/wiki/Mössinger_Generalstreik

http://www.wdr.de/mediathek/html/regional/2013/01/31/wdr3-wdr5-zeitzeichen-moessinger-generalstreik.xml

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