Einige Überraschungen hat es am Freitag, 20. März 2009, bei der Podiumsdiskussion zum Thema „Wie wenig Demokratie verträgt Europa?“ im Schwäbisch Haller Neubausaal gegeben. Eingeladen hatten unter anderen das Europazentrum Baden-Württemberg, die Stadt Schwäbisch Hall und das Europabüro Wolpertshausen. Von den sechs Diskussionsteilnehmern sind alle gekommen, bis auf einen: Der Bundestagsabgeordnete Christian von Stetten (CDU) aus Künzelsau-Schloss Stetten. Erst zehn Minuten vor Beginn hatte der Organisator Peter Wunderlich (Stadt Schwäbisch Hall) von der Absage von Stettens erfahren. Nicht eingeladen war bei der Diskussion in Schwäbisch Hall ein Vertreter der Freien Wähler, die mit einer bundesweiten Liste bei der Europawahl am 7. Juni 2009 an den Start gehen. Einer ihrer stellvertretenden Kandidaten aus Karlsruhe mischte sich als Zuhörer kräftig in die Diskussion ein.
Von Ralf Garmatter, Freier Journalist aus Kirchberg/Jagst
Hier die Einführung zur Diskussionsrunde : [audio:Einführung.mp3]
Hier der Mitschnitt der Diskussionsrunde Teil 1: [audio:Diskussionsrunde_1.mp3]
Und hier der 2. Teil: [audio:Diskussionsrunde_2.mp3]
Etwa 55 Besucher waren zu der Diskussionsveranstaltung in den Haller Neubausaal gekommen. Halls Oberbürgermeister Hermann-Josef Pelgrim hatte die Zahl mit etwa 100 deutlich zu positiv eingeschätzt. Auf dem Podium saßen Andreas Braun, Kandidat der Grünen für die Europawahl; Davor Kovacevic, FDP-Kandidat für die Europawahl; die EU-Abgeordnete Evelyn Gebhardt (SPD), Schwäbisch Halls Oberbürgermeister Hermann-Josef Pelgrim (SPD), Jochen Kubosch, Leiter des EU-Informationsbüros in München sowie Reiner Gauger, Kreisvorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU und Kandidat auf der Landesliste der CDU für die Bundestagswahl. Gauger nahm als Vertreter von Christian von Stetten an der Diskussion teil. Gaugers Namensschild war vom Veranstalter handgeschrieben, von der Rückseite her schimmerte noch der Name des ursprünglich vorgesehenen Freiherr Christian von Stetten durch. Reiner Gauger aus Gaildorf kandidiert für die CDU bei der Bundestagswahl auf dem Landeslistenplatz 13. Im vergangenen Frühjahr, als Christian von Stetten als damaliger Landesvorsitzender der CDU-Mittelstandsvereinigung (MIT) wegen hoher Portoausgaben im fünfstelligen Bereich bei seinen Parteigenossen schwer in der Kritik gestanden hatte, gab Gauger gegenüber dem Autor dieses Artikel bei einem Treffen am Esszimmertisch des Autors in Kirchberg/Jagst vor, Informationen über Christian von Stetten sammeln zu wollen, um eine mögliche Ablösung Christian von Stettens als MIT-Landesvorsitzender und möglicherweise sogar als Bundestagsabgeordneter untermauern zu können. Gauger war im Frühjahr 2008 in Kirchberg in Begleitung eines weiteren hohen CDU-Funktionärs aus der Region. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern. Jedenfalls vertrat Gauger Christian von Stetten bei der Podiumsdiskussion am vergangenen Freitag in Schwäbisch Hall. Moderiert wurde die Diskussion von Rainer Hocher, Redaktionsleiter der Lokalredaktion des Haller Tagblatts. Hocher entschuldigte Christian von Stetten offiziell mit anderweitigen Verpflichtungen in Berlin.
Wenn es bei der Diskussion in Schwäbisch Hall um die konkrete aktuelle Politik der EU-Komission und des EU-Parlaments im Detail ging, haben alle Diskutanten der einzigen aktuellen EU-Abgeordneten auf dem Podium, Evelyne Gebhardt, freiwillig das Wort überlassen – sie wurde von ihren Diskussionskollegen sogar ausdrücklich zur Antwort aufgefordert. Evelyne Gebhardt ist derzeit eine von insgesamt elf baden-württembergischen EU-Abgeordneten. Jede/r von ihnen muss rein rechnerisch fast eine Million Bürger betreuen. Das EU-Parlament in Straßburg hat derzeit 785 Politiker verschiedener Couleur.
Die wichtigsten Aussagen der Podiumsteilnehmer in Hall im Überblick:
Evelyne Gebhardt (SPD), wies gleich zu Beginn darauf hin, dass die deutsche Verfassungsklage sowie Polen, Tschechien und Irland, dem vorgelegten Lissabon-Vertrag noch im Wege stünden. Den Lissabon-Vertrag hält Gebhardt für einen wichtigen Meilenstein, um die EU demokratischer werden zu lassen. Durch diesen Vertrag würde auch von der Verpflichtung auf die Marktwirtschaft auf die Soziale Marktwirtschaft umgestellt.
Die EU hält Gebhardt für einen Friedensgaranten in Europa. Gebhardt bestätigte auf eine Besucherfrage von Hohenlohe-ungefiltert die starken Einflussnahmeversuche von Lobbyisten in Straßburg und Brüssel auf die Gesetzgebung. Es habe – wie in deutschen Ministerien auch – Mitarbeiter großer Konzerne gegeben, die direkt an Gesetzen mitgeschrieben hätten. Das Problem sei erkannt und größtmögliche Transparenz sei das beste Gegenmittel. Wichtig seien auch die Aktivitäten der EU gegen irreführende Werbung. Unmöglich sei es, dass durch die EU die Todesstrafe wieder eingeführt werden könnte, beantwortete Gebhardt die Frage eines jungen Zuhörers. Die Todesstrafe werde kategorisch abgelehnt.
Hintergrundinfos zum Lissabon-Vertrag sind im Internet beispielsweise zu finden auf den Seiten eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2008:115:SOM:DE:HTML, außerdem im Internetlexikon Wikipedia unter de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Lissabon
Davor Kovacevic, FDP-Kandidat für die Europawahl: Er forderte auch in Deutschland Volksentscheide über wichtige Dinge wie beispielsweise den Lissabon-Vertrag, so wie es auch in einigen anderen EU-Ländern geschehe. Wenn die Menschen über wichtige Dinge selbst abstimmen könnten, gäbe es auch ein höheres Interesse bei der Bevölkerung für EU-Themen, meinte Kovacevic. Die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags hält der FDP-Kandidat für eminent wichtig. In der Außen- und Sicherheitspolitik müsse die EU geschlossener auftreten, mahnte er an. Er forderte eine EU-weite Regelung für die Abschaltung von Kernkraftwerken. Erneuerbare Energien will Kovacevic fördern.
Andreas Braun, EU-Kandidat der Grünen: Die Gesundheitspolitik prangert Braun als pervers an. Er forderte einen Green New Deal, der die Menschenwürde, soziale Rechte und eine gute Daseinsvorsorge in den Vordergrund stellt. Als wichtige Konkurrenten Deutschlands auf dem Weltmarkt nannte er Brasilien, China und Indien. Eine zentrale Aufgabe der deutschen Wirtschaft sei es, immer umweltfreundlichere Autos zu bauen, die dann auch weltweit Abnehmer fänden und zukunftsfähig wären. Die „Subventionitis“ (starke Subventionierung vieler Bereiche) schätzt Braun in der EU als weniger gravierend ein wie in Deutschland.
Reiner Gauger, CDU-Bundestagskandidat auf der Landesliste und Kreisvorsitzender der CDU-Mittelstandsvereinigung (MIT): Christliche Werte sollen in der EU im Vordergrund stehen. Einen Beitritt der Türkei zur EU lehnt Gauger ab. Er betont, dass Deutschland zu den großen EU-Profiteuren gehöre. Pro Kopf der Bevölkerung bezahlten beispielsweise Dänemark und die Niederlande deutlich mehr in die EU-Kasse als Deutschland. Die Subsidiarität (Verantwortlichkeit der Mitgliedsländer hat Vorrang) gelte es in der EU zu beachten. Die EU dürfe nicht alle Politikfelder an sich reißen. Wirtschaft und Mensch seien kein Widerspruch, betonte er. Noch weit weg sei man von einer gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik. Kleiner lokaler Exkurs von Gauger: Das Schenkenseebad in Schwäbisch Hall zählt er nicht zur Daseinsvorsorge, er wolle es aber auch nicht wegdiskutieren.
Schwäbisch Halls Oberbürgermeister Hermann-Josef Pelgrim (SPD) legt großen Wert auf die kommunale Selbstverwaltung und das Subsidiaritätsprinzip. Er wünscht sich für die Europawahl am 7. Juni 2009 eine höhere Wahlbeteiligung als vor fünf Jahren. Damals gingen in Schwäbisch Hall nur 46,5 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl. Die Parlamentarier bräuchten Rückenstärkung für ihre Arbeit durch eine hohe Wahlbeteiligung. Die Stadt Schwäbisch Hall wolle jeden EU-Bürger, der in der Stadt wohnt rechtzeitig vor der Wahl anschreiben, damit sich jeder in das Wahlregister eintragen lassen könne. Anders als bei Bundestags- und Landtagswahlen geschehe dies nicht automatisch, sagte Pelgrim.
Jochen Kubosch, Leiter des Informationsbüros des Europäischen Parlaments in München: „Evelyne Gebhardt ist eine meiner 785 Chefs im EU-Parlament.“ In Deutschland gibt es nur zwei Informationsbüros des EU-Parlaments. Pro Jahr besuchten über 250.000 Menschen das EU-Parlament in Straßburg. Zirka 60 Prozent der deutschen Gesetze sollen laut Kubosch von Straßburg oder Brüssel angestoßen worden sein, zirka 80 Prozent der deutschen Gesetze seien von der EU beeinflusst. Trotzdem gebe es in der Bevölkerung ein großes Informationsdefizit bei europäischen Themen. Derzeit bestimme das EU-Parlament bei rund zwei Dritteln der EU-Gesetze mit; wenn der Lissabon-Vertrag umgesetzt würde, stiege dieser Anteil auf 95 Prozent. Das würde, so Kubosch, zu einem Demokratisierungsschub in der EU führen. Das EU-Parlament bekomme auch mehr Mitspracherecht bei der Ernennung der EU-Kommissare. Die Kommissare würden dadurch kontrollierbarer. Deutschland, als einwohnerstärkstes Land der EU würde durch den Lissabon-Vertrag gestärkt werden. Der Einfluss der Mitgliedsländer hänge dann stärker von der Einwohnerzahl ab. Wenn der Lissabon-Vertrag kommt, könnte es zukünftig aber auch zeitweise so sein, dass einige Länder für eine Legislaturperiode keinen eigenen Vertreter in der EU-Kommission habe, erklärte Kubosch.
Veranstalter der Podiumsdiskussion zum Thema EU in Schwäbisch Hall waren:
Europa Zentrum Baden-Württemberg e.V.
Institut und Akademie für Europafragen
Nadlerstraße 4
70173 Stuttgart
Telefon: 0711 2362375
Fax: 0711 2349368
info@europa-zentrum.de / Internet: www.europa-zentrum.de/
Stadt Schwäbisch Hall, dort insbesondere Büro des Bürgerbeauftragten
Gymnasiumstraße 2
74523 Schwäbisch Hall
Tel.: 0791-751-204, 751-206
Fax: 0791-751-447
E-Mail: peter.wunderlich@schwaebischhall.de / Internet: www.schwaebischhall.de/
Europabüro Wolpertshausen www.europabuero.info/index.php
In Kooperation mit der Volkshochschule Schwäbisch Hall www.vhs-sha.de/; der Europa-Union Deutschland, Landesverband Baden-Württemberg (www.eubw.eu/) und der Organisation Europäische Bewegung Deutschland Landeskomitee Baden-Württemberg (www.europaeische-bewegung.de/index.php?id=4307).
Die Veranstaltung wurde unterstützt durch das Europäische Parlament www.europarl.de/export/index.html
Hintergrundinfos zum Lissabon-Vertrag sind im Internet beispielsweise zu finden auf den Seiten eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2008:115:SOM:DE:HTML, außerdem im Internetlexikon Wikipedia unter de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Lissabon