Umschlagseite des Buches "Das Brave-Tochter-Syndrom"
Die Welt wäre ärmer ohne die vielen tüchtigen Frauen, die jederzeit bereit sind, sich in Familie, Freundeskreis, Kirche und Gesellschaft zu engagieren. Doch wenn sie immer auf Hochtouren laufen, ist es oft nur eine Frage der Zeit, bis sie in heftigen Krisen landen. Manchmal gibt es auch ein Zuviel an Tüchtigkeit. Was dann?
Beate Scherrmann-Gerstetter und Manfred Scherrmann, Schwäbisch Hall, Autoren des Buches „Das Brave-Tochter-Syndrom“
„Ilse fühlt sich abgelehnt, unwichtig, überflüssig“
Was ist nur los mit Ilse? Sie ist Mitte Vierzig, gelernte Krankenschwester, verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr Mann verdient gut. Die Familie wohnt im eigenen Haus. Sie ist eingebunden in einen großen Bekanntenkreis. Darüber hinaus ist sie aktiv in der Kirchengemeinde und im Sportverein. Viele bewundern ihre Einsatzfreude und Hilfsbereitschaft, und ihre Freundinnen schätzen sie als verständnisvolle Zuhörerin. Eigentlich könnte sie zufrieden sein, und früher war sie es auch meist.
Doch in den letzten Monaten versteht sie sich oft selber nicht: Sie fühlt sich erschöpft, allein und leer. Sie ist unzufrieden mit ihrem Mann, der beruflich stark eingespannt ist und wenig Zeit für sie hat. Die Kinder haben ihre eigenen Interessen. Ilses Fürsorge scheint ihnen lästig zu sein. Sie brauchen die Mutter nicht mehr so wie früher. Und in der Kirchengemeinde, so ihr Eindruck, haben inzwischen andere das Sagen. Ihr Einsatz wird nicht mehr so gewürdigt wie früher, es gibt sogar Kritik. Ilse fühlt sich abgelehnt, unwichtig, überflüssig – was ist los mit ihr und wie soll es weitergehen?
Viele Frauen rutschen in eine heftige Krise
Frauen wie Ilse gibt es viele. Sie sind fürsorgliche Ehefrauen und Mütter, haben ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, sind stets hilfsbereit und engagieren sich gerne. Sie machen sich viele Gedanken, wie Probleme zu lösen sind, entwickeln oft gute Ideen und haben alles im Blick und im Griff. Kurz gesagt, sie tragen viel für andere. Sie nehmen sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse nicht wichtig und sind scheinbar grenzenlos belastbar – Hauptsache, die anderen sind zufrieden. Doch irgendwann rutschen viele von ihnen in eine heftige Krise, und alles ist anders.
Wie es ihr wirklich ging, dafür interessierte sich niemand
In den Beratungsgesprächen, zu denen Ilse sich schließlich entschloss, weil es so nicht mehr weitergehen konnte, wurden ihr die Hintergründe ihrer Depressionen klar: Sie hatte sich schon immer über Leistung definiert. Nur wenn sie für andere nützlich war, fühlte sie sich „richtig“. Von klein auf hatte sie sich bemüht, es ihrer kränkelnden Mutter und dem überforderten Vater recht zu machen, was gar nicht so einfach war. Sie meinte, sie sei sehr früh „groß“ geworden. Allenfalls dadurch, dass sie sich nützlich machte, bekam sie Anerkennung von ihren Eltern. Liebe musste verdient werden, und wie es ihr wirklich ging, dafür interessierte sich niemand.
Das Brave-Tochter-Syndrom – Mädchen und Frauen, die zu früh „Groß“ wurden
Wir nennen solch tüchtige Frauen wie Ilse, die sich nur schwer abgrenzen können und für die das Wohl ihrer Lieben so sehr im Vordergrund steht, Brave Töchter, denn ihr Verhalten hat seine Wurzeln in einer Zeit, in der sie noch Kind waren. Typischerweise gibt es in der Lebensgeschichte von Vater und/oder Mutter viel Schweres, das das kleine Mädchen wie ein Seismograph früh spürte. Aus kindlicher Liebe hat es von klein auf versucht, es Papa oder Mama oder auch beiden leichter zu machen. Es hat durch Tüchtigkeit geglänzt und sehr früh gelernt, die eigenen Probleme alleine zu bewältigen und sich überhaupt so zu verhalten, dass es für die Eltern keine zusätzliche Belastung war. In diesem frühen „Großsein“ liegen die Ursachen sowohl für die offensichtlichen Qualitäten der Braven Töchter, als auch für ihre typischen Krisen.
Die Kräfte sind irgendwann erschöpft
In vielen Fällen sind die Kräfte dieser tüchtigen Frauen einfach irgendwann erschöpft, sie sind ausgebrannt. Das strahlende Bild der Stärke hat nämlich eine Kehrseite: Ihr Leben ist sehr anstrengend. Immer tüchtig zu sein, ständig gedanklich um das Wohl anderer zu kreisen, sich für alles und jedes verantwortlich zu fühlen, es allen recht machen zu wollen, den Tagesablauf der Familie optimal zu planen, alle Eventualitäten im Blick zu haben – all das kostet Kraft. Eine zusätzliche Anforderung, wie etwa die anstrengende Pflege der alten Schwiegermutter, kann dann das Fass zum Überlaufen bringen.
Im Inneren kein stabiles Selbstwertgefühl
Oft ist es aber auch so wie bei Ilse: sie werden nicht mehr so wie früher von den Menschen gebraucht, die ihnen wichtig sind. Welchen Sinn hat dann ihr Leben noch? Sie fühlen sich überflüssig und ungeliebt. Der Stärke der Braven Tochter entspricht im Inneren keineswegs ein stabiles Selbstwertgefühl – ganz im Gegenteil, sie ist extrem von äußerer Bestätigung abhängig, und diese erfährt sie hauptsächlich darüber, dass man sie braucht und ihren Einsatz würdigt.
Das gestörte Gleichgewicht
Zahlreiche Brave Töchter reiben sich auch durch Eheprobleme auf. In vielen Fällen kommt es zur Scheidung.
Doris, eine lebhafte, zupackende Frau von 50 Jahren, war 25 Jahre lang verheiratet. Ihr Mann hatte sich vor vier Jahren von ihr getrennt und war mit einer jüngeren Frau zusammengezogen. Die beiden fast erwachsenen Töchter blieben bei ihr. Sie war ihnen neben ihrer Berufstätigkeit weiterhin eine gute Mutter, und viele bewunderten, wie sie nach der Trennung ihr Leben meisterte. Doch entgegen dem äußeren Eindruck, den sie machte, fühlte sich Doris gar nicht stark. Dass ihr Mann sie verlassen hatte, verstand sie immer noch nicht, es machte sie wütend und verunsicherte sie tief. Sie hatte so viel investiert, hatte alles für ihn getan, und trotzdem hatte sie es nicht geschafft, die Familie zusammenzuhalten. Bittere Erinnerungen an die Scheidung ihrer eigenen Eltern kamen hoch; damals, als junges Mädchen, hatte sie in ähnlicher Weise darum gekämpft, dass der Vater nicht ging, und jetzt fühlte sie sich wieder im Stich gelassen, hilflos und wütend wie damals.
Sehnsucht, sich anlehnen zu können
Beide Eltern von Doris hatten Schweres in ihrem Lebensrucksack: die Mutter Flucht aus Schlesien, Verlust der Heimat und Tod ihres ersten Verlobten, der Vater Kriegsteilnahme mit schwerer Verwundung und früher Tod der eigenen Mutter. Beide waren mit ihren eigenen Themen beschäftigt und konnten nicht wirklich als Eltern für Doris da sein. So wurde sie wie Ilse vor der Zeit groß und tüchtig, blieb aber tief innen auch als erwachsene Frau immer noch das kleine Mädchen, das sich danach sehnt, sich endlich einmal anlehnen zu können.
Der Mann kam mit Mutter-Tochter-Mischung nicht zurecht
Dass diese kindlichen Bedürfnisse dann in unguter Weise die Partnerschaft einer Braven Tochter beeinflussen, das ist sicher einleuchtend. Der Mann einer Braven Tochter hat es nicht leicht: Er muss aufpassen, dass er nicht in eine Kindrolle hineingerät – sie umsorgt ihn wie eine gute Mutter, hat aber auch ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie etwas zu laufen hat, kann andere Meinungen schlecht akzeptieren, und Kritik bringt sie schnell aus der Fassung. Andererseits hat seine Frau Erwartungen an ihn wie an einen guten Vater – er soll immer für sie da sein, er soll sie verstehen, er soll dies und das. Auch in dieser Hinsicht ist die Geschichte von Doris typisch: Ihr Mann wollte eigentlich eine selbstständige Partnerin. Auf Dauer kam er nicht mit dieser Mutter-Tochter-Mischung zurecht und ging.
Wie es gut weitergehen kann
Frauen, die wie Ilse und Doris schon in eine heftige Krise gerutscht sind, brauchen in der Regel professionelle Hilfe. Damit es aber erst gar nicht so weit kommt, ist es auf jeden Fall sinnvoll, sich mit der eigenen Kindheitsgeschichte auseinanderzusetzen, um zu verstehen, wie es zu dem übergroßen Tüchtigsein kam. Weiter gilt es, sich klar zu machen: Ich bin jetzt kein Kind mehr, und ich kann und darf mich anders verhalten; ich darf mich selber wichtig nehmen, ich darf Nein sagen und darf mich auch dann gut fühlen, wenn ich nicht gebraucht werde oder wenn ich etwas für mich tue. Und hier gilt „Learning by doing“, die neuen Verhaltensweisen wollen eingeübt werden. Doch nicht immer greifen Selbsthilfemethoden, das in der Kindheit erlernte Verhalten ist sehr stabil.
Weiterführende Informationen: Detailliert werden die Zusammenhänge beschrieben in dem Taschenbuch: Das Brave-Tochter-Syndrom – und wie frau sich davon befreit, von Manfred Scherrmann und Beate Scherrmann-Gerstetter, Herder Spektrum 2006, 3. Auflage 2008. ISDN-Nr.: 3-451-05674-7, Preis im Buchhandel: 8.90 Euro. Weitere Infos zu dem Buch unter www.brave-tochter.de
Zu den Autoren:
Manfred Scherrmann: Langjährige Erfahrung als Gymnasiallehrer und als Heimpädagoge in einem Internat; Ausbildung in Paar- und Familientherapie im Institut für Systemische Supervision in Rottenburg; Kennenlernen der Arbeit von Bert Hellinger seit 1993; Weiterbildung im Familienstellen bei Bert Hellinger, Otto Brink, Albrecht Mahr, Robert Langlotz, Gunthard Weber; Leiter von Hellinger-Seminaren und eigene Praxis für systemische Lösungen für Paare und Einzelpersonen seit 1997. Weiterbildung in systemischer Therapie und Paartherapie bei Fritz Simon, Arnold Retzer, Ulrich Clement; Mitglied der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für systemische Lösungen nach Bert Hellinger (IAG); Die Co – Leitung der Seminare übernimmt Beate Scherrmann-Gerstetter. Internetinfo: www.ohne-wurzeln-kein-wachstum.de/1p.html und www.manfred-scherrmann.de/ oder zu einem vollkommen anders gelagerten Themenbereich, „Palmöl“ von Manfred Scherrmann www.info-palmoel.de/
Zur Person Beate Scherrmann-Gerstetter: Theologin und Diplompädagogin; Ausbildung in Einzel- und Paarberatung (DAJEB). Seit Jahren tätig in der kirchlichen Ehe-, Familien- und Lebensberatung; Weiterbildung in systemischer Therapie und Paartherapie bei Arnold Retzer, Ulrich Clement, Fritz Simon; Weiterbildung im Familienstellen bei Bert Hellinger, Otto Brink, Albrecht Mahr, Robert Langlotz, Gunthard Weber; Leitung von Hellinger-Seminaren seit 1997.