Alle vier Jahre, immer wenn Bundestagswahlen bevorstehen, dreht sich die Diskussion um zwei Themen
1) Wen wählen?
2) Oder lieber gar nicht wählen, weil es ja ohnehin nichts bringt?
Kommentar von Paul Michel, Schwäbisch Hall, Erstveröffentlichung des Artikels in Alpha Press, Ausgabe Juli/August 2009
Der Artikel gibt nur die Meinung des Verfassers wieder.
Reden wir zunächst über Punkt 2. Hier werden ganz unterschiedliche Argumente bemüht. Vereinfacht gesprochen, gibt es die politische Variante, die angesichts der Alternativlosigkeit der Angebote dazu aufruft, in Gestalt eines Wahlboykotts ein politisches Zeichen zu setzen. Wenn es nicht einfach eine persönliche Alibiveranstaltung zur Rechtfertigung der eigenen Passivität ist, folgt daraus ein Bemühen um eine politische Kampagne mit außerparlamentarischen Initiativen mit ähnlichem Anliegen.
Diese Herangehensweise hat gewiss in bestimmten Situationen ihre politische Berechtigung. Jetzt, im Hier und Heute, spielt sie allerdings keine Rolle. Es gibt kaum Menschen, die in diesem Sinne zu Werke gehen. Deshalb erübrigt sich an dieser Stelle eine intensivere Beschäftigung.
SPD und Grüne: Dazugelernt?
Dagegen spielt die Auffassung „Wählen bringt ja nichts“ eine große Rolle. In den letzten Wahlen hat sich gezeigt, dass die Partei der Nichtwähler sich mittlerweile zur größten „Partei“ gemausert hat. Schaut mensch sich die etablierten Parteien an, so ist den Nichtwählern zweifellos zuzustimmen. Wer etwas im Sinne von sozialer Gerechtigkeit oder ökologisch verantwortungsvollen Veränderungen zu erreichen sucht, kann tatsächlich nichts mit einer Stimme für CDU/CSU/SPD/FDP/Grüne erreichen. Jede Stimme für diese Parteien ist tatsächlich eine verschenkte Stimme. Eine der Einsichten, die aus der Schröder/Fischer-Regierung haften bleiben sollte ist doch jene: Diese Regierung hat brutalere soziale Kahlschlagmaßnahmen ergriffen als jede ihre Vorgängerregierungen. Sie hat gleichzeitig die Türen sperrangelweit für jenes ungehemmte Wüten der Finanzmärkte geöffnet, dessen Folgen uns jetzt um die Ohren fliegen. Es sei an dieser Stelle noch ergänzt, dass zu Beginn der zweiten Wahlperiode die Regierung Schröder/Fischer zunächst noch zögerlich war, den von den Kapitalvertretern geäußerten Forderungen zu entsprechen. Dann aber setzte unter dem Motto „Schröder ist Aussitzer wie Kohl“ ein mediales Feuerwerk sondergleichen ein. Das Ende vom Lied war die Agenda 2010, also in etwa das, was das Unternehmerlager von der Regierung erwartet hatte.
Kein Rückgrat, dem Druck des Unternehmerlagers zu widerstehen
Spätestens nach den Erfahrungen von Rot-Grün zwischen 1998 und 2005 kann niemand mehr ernsthaft davon ausgehen, dass SPD und Grüne das Rückgrat haben, dem vom Unternehmerlager ausgeübten Druck zu widerstehen und im Zweifelsfall gegen Hundt und Co eine Politik der sozialen Gerechtigkeit durchzusetzen. Der SPD glaubt das ohnehin kaum noch jemand – was die sinkenden Umfragewerte anschaulich belegen. Anders ist es bei den Grünen. Sie konnten bei den letzten Landtagswahlen deutlich hinzugewinnen und stehen auch bei den Meinungsumfragen gut da. Sie tun jetzt so, als hätten sie bei der Verabschiedung der Hartz-Gesetze überall anders gesessen, bloß nicht auf der Regierungsbank. Der heutige Spitzenkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, sagt, für Hartz IV sei vorrangig der damalige Regierungspartner und der Bundesrat verantwortlich. Er sieht entsprechend auch keinen Anlass, sich bei den Arbeitslosengeld II (ALG II)-Empfängern zu entschuldigen. Interessant an den Grünen ist, dass sie trotz aller Reden über soziale Gerechtigkeit und ökologische Umbauprogramme eine Koalition mit der CDU/ CSU nicht ausschließen, obwohl es kaum einen Zweifel über die Zielrichtung der CDU geben dürfte: Verschärfung des Sozialabbaus und ökologischer Rollback bei Ausstieg aus dem Atomausstieg. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass trotz aller nett klingenden Worte im Falle eines Falls die Rückkehr an die Fleischtöpfe der Macht und die Scheinwerfergewitter bei den Pressekonferenzen der Regierung oberste Priorität hat.
„Bringt ja nix?“
Insofern fällt es schwer, jene Menschen, die ihr Kreuzchen am Wahltag nicht an die etablierten Parteien verschwenden wollen, vom Gegenteil zu überzeugen. Das Problem mit der momentanen Partei der Nichtwähler ist nicht, dass sie am Wahltag nicht wählen, sondern dass sie sich in den vier Jahren zwischen den Wahltagen nicht dazu aufraffen wollen, für ihre eigenen Interessen einzutreten. Entgegen allen Erfahrungen verschließen sie sich jener Einsicht, die ein alter, leider etwas aus der Mode gekommener Evergreen der Arbeiterbewegung so treffend auf den Punkt bringt:
„Es rettet Dich kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser und Tribun, Dich aus dem Elend zu erlösen, das musst Du schon selber tun“
Frustriertes Zuhause-Bleiben am Wahltag ist jedenfalls nichts weiter als ein Akt selbstmitleidiger Hilflosigkeit, der gleichzeitig den mächtigen Geld- und Machteliten freie Hand gibt. Umgekehrt ist allerdings das bloße Anbringen eines Kreuzes auf dem Wahlzettel auch nicht gerade ein besonders bemerkenswerter demokratischer Akt. Das gilt im Jahr 2009 noch stärker als in den vorangegangenen Jahren. Denn in diesem Jahr wird den WählerInnen von den Politikern der etablierten Parteien in einer Kernfrage („Wer zahlt für die Krise?“) nicht einmal gesagt, für welchen Inhalt sie eigentlich stimmen sollen. Die (unausgesprochene) unmissverständliche Botschaft der etablierten Parteien lautet in diesem Jahr: Macht Eurer Kreuzchen und lasst uns dann mal machen. Das ist in der Substanz nicht weit von der Praxis in so genannten Bananenrepubliken entfernt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass es – außer einigen Luftballons im Wahlkampf – hier noch keine offiziellen Angebote für Stimmenkauf gibt. Insofern ist das routinemäßig angestimmte Loblied, dass das Kreuzchen-Machen am Wahltag ein bedeutsamer demokratischer Akt sei bestenfalls gedankenloses oberflächliches Gerede.
Demokratie beinhaltet, sich zumindest bei den Entscheidungen aktiv einzumischen
Das ist kein Plädoyer gegen das Wählen. Es ist ein Hinweis darauf, dass Demokratie mehr ist, als einmal alle vier Jahre ein Kreuz auf dem Wahlzettel zu machen und dann abzuwarten, was passieren wird. Demokratie beinhaltet, sich zumindest bei den Entscheidungen aktiv einzumischen, die das eigene Leben betreffen. Das beinhaltet gegebenenfalls zu sagen „Halt, so nicht“, wenn von den Regierenden Entscheidungen gefällt werden, die einem nicht passen. Das beinhaltet gegebenenfalls auch öffentlich zu protestieren, und sich gegebenenfalls in der Gewerkschaft oder in Bürgerinitiativen zu organisieren. Und es bedeutet, dass Demokratie nicht am Fabriktor enden darf. Es ist absurd, dass in diesem Land nicht gegen ein Gesetz, wie das zur Verlängerung der Leiharbeit, gestreikt werden darf, obwohl klar ist, dass es die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in den Büros und Fabriken dramatisch verschlechtert.
Linke wählen
Kommen wir aber zurück zum Wahltag, den 27. September 2009. Ich meine, dass es richtig ist, diesmal zu wählen – und zwar die Partei „Die Linke“. Sie ist trotz aller Unzulänglichkeiten die einzige der im Bundestag vertretenen Parteien, die bisher auf Bundesebene relativ konsequent gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr aufgetreten ist. In der Bewegung gegen die Abwälzung der Krise auf die lohnabhängige Bevölkerung hatte sie im Vorfeld der Demonstration vom 28.März 2009 eine aktive Rolle gespielt. In ökologischen Fragen spielt sie keine besondere herausragende Rolle, aber sie tritt auch nicht für offenkundig umweltschädliche Politik ein. Sie hat weder die Abwrackprämie unterstützt, noch befürwortet sie etwa den Bau einer neuen Generation von Kohlekraftwerken. „Die Linke“ drückt das Bedürfnis nach einer Alternative zur etablierten bürgerlichen Politik, zur kapitalistischen Krise und ihren Folgen, zu weiterer Verarmung breiter Bevölkerungsteile, zur weiteren Vertiefung der Kluft zwischen arm und reich, zur weiteren Zerstörung unserer Natur und unserer Zukunftsperspektiven aus. Eine Stimme für „Die Linke“ bei den Bundestagswahlen, wäre auf der Wahlebene ein deutliches Signal, das von den herrschenden Elite als deutliche Absage gegen die vorgesehene weitere Abwälzung der Krisenlasten auf die Lohnabhängigen und sozial Schwachen. Ein Wahlergebnis von deutlich über zehn Prozent für die Linke, könnte zwar die künftige, den Kapitalinteressen ergebene Regierung nicht von ihren Plänen abhalten. Möglicherweise würde aber die künftige Regierung nach einem deutlichen Wahlerfolg der Linken etwas vorsichtiger zu Werke gehen. Denn ein solches Wahlergebnis würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass im Falle eines rücksichtslosen Durchzockens der eigenen Pläne es zu den beschworenen „Sozialen Unruhen“ kommen könnte. Den von Sozialabbau betroffenen Menschen könnte ein Wahlerfolg der Linken insofern helfen, als sie daraus die Zuversicht schöpfen könnten, dass ihre Probleme und ihr Anliegen von vielen Menschen geteilt werden.
Hardcore-Version sozialer Grausamkeiten droht
Weder berechtigte Kritik an den Mängeln, noch verständliche Skepsis in Bezug auf die gegenwärtige Führung der Partei „Die Linke“ sollten zu einer wahlpolitischen Abstinenz führen, die letztlich nur den etablierten Parteien in die Hände spielt. Schneidet „Die Linke“ schlechter ab, während die SPD oder gar die Unionsparteien wieder zulegen, dann werden Kabinett und Kapital das so interpretieren, dass sie die Menschen in Griff haben. Dann werden die vorgefertigten Kataloge der sozialen Grausamkeiten in ihrer Hardcore-Version aus aus der Schublade gezogen. (Paul Michel)