In diesem Text geht es um theoretische Grundlagen zu meiner Totalverweigerung. Ein Bericht zu meiner derzeitigen Situation wird folgen. Nur soviel: Im Dezember 2008 habe ich in Göttingen nach zwei Monaten abgeleistetem Zivildienst totalverweigert. Inzwischen wird wegen Dienstflucht gegen mich ermittelt; der Gerichtsprozess wird vermutlich in Schwäbisch Hall stattfinden. Mehr aktuelle Infos gibt es auf meiner Seite www.herrschaftsfrei.blogsport.de.
Hintergrundbericht von Totalverweigerer Hannes, Text zuerst erschienen in der Schwäbisch Haller Zeitschrift Alpha Press, Ausgabe September/Oktober 2009
[Intro]
In Deutschland gilt zur Zeit eine allgemeine neunmonatige Wehrpflicht für alle tauglich gemusterten jungen Männer ab 18 Jahren, die in Form von Kriegs- oder Zivildienst abgeleistet werden muss. Wer den Dienst nicht antritt, wird entweder von den Feldjägern gesucht, bei Befehlsverweigerung in vorübergehende Militärhaft gesteckt (jeweils 21 Tage) und dann wegen Fahnenflucht verurteilt oder, bei anerkannter Kriegsdienstverweigerung, wegen Dienstflucht verurteilt. Die Urteile unterscheiden sich zum Teil stark, eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren ist nach deutschem Gesetz möglich, wurde aber noch nie annähernd ausgesprochen.
Zwangsarbeit
Eine Arbeit, zu der Mensch per Gesetz verpflichtet und durch Androhung von Strafe gezwungen ist, ist eine Zwangsarbeit. Das, was allgemein unter Arbeit verstanden wird, ist Lohnarbeit. Sie ist nicht etwa „schon immer da gewesen“ noch „natürlich“ im Sinne von naturgegeben, sondern resultiert aus der ökonomischen Abhängigkeit der allermeisten Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um überleben zu können. Lohnarbeit allein beruht also auf ökonomischem Zwang. Beim Kriegs- und Zivildienst bleibt es aber nicht dabei, vielmehr kommt hier die staatliche Gewalt als direkt handelnde und bestrafende Macht hinzu. Der staatliche Zwangsdienst unterliegt also gleich zwei Formen von Herrschaft; nämlich indirekt-struktureller Gewalt, die aus kapitalistischen Verwertungsverhältnissen resultiert und institutioneller Gewalt durch das Gewaltmonopol des Staates.
Kriegsdienst
Bei der Bundeswehr kommen ganz offensichtlich weitere Herrschaftsformen hinzu, sie wirkt als Herrschaftsinstrument nach außen und innen. Die Unterdrückung, Ermordung und körperlich-seelische Gewalt, die die Bundeswehr in ihren inzwischen weltweiten Auslands-Kriegseinsätzen ausübt, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Vielmehr dient ein modernes Militär zuallererst als Gewaltandrohung zur Durchsetzung nationaler Interessen – nach innen zusammen mit den weiteren ausführenden Staatsorganen als Garant für das Bestehen eben dieses zwangskollektiven Interesses, nach außen zu dessen Umsetzung. Die Bundeswehr wird zu einer Angriffsarmee umgerüstet, um diese Aufgaben effektiver lösen zu können. Jeder Kriegsdienstleistende sorgt dabei mit für die Legitimation und Akzeptanz dieser Entwicklung, wie auch der Existenz von Militär überhaupt. Dabei geht es mir jedoch nicht darum, jede Form von Gewalt pauschal als unmoralisch abzustempeln. Es kommt darauf an, in welcher Form und von wem sie (miss-)braucht wird. Daneben unterliegt der Kriegsdienstleistende krassen autoritäten Strukturen, die ihn vom handelnden Individuum zum ausführenden Objekt degradieren und ihm jegliche persönliche ethische Verantwortung nehmen.
Zivildienst
Im Zivildienst sind die Herrschaftsverhältnisse weniger sichtbar und weit mehr idealisiert als im Kriegsdienst. Geht es doch hier darum, eine echte soziale Alternative bereitstehen zu haben, in der junge Männer ihre Pflicht der„Allgemeinheit“, dem „Volk“ gegenüber zu leisten haben. Auch hier ist die naheliegende Frage: Wo liegt der Nutzen dabei? Weite Teile der sozialen Versorgung sind von billigen Arbeitskräften abhängig: 1-Euro-JobberInnen, PraktikantInnen und eben Zivildienstleistende dienen als leicht handzuhabendes und ersetzbares Humankapital, um die vorhandenen Lücken behelfsweise zu schließen. Sie stabilisieren ein schlingerndes Gesundheitssystem, bei dessen Zusammenbrechen ungeahnte soziale Kräfte frei würden… Grund genug also, von jedem „Deutschen“ das Seine zur Erhaltung nationaler Interessen, hier des Gesundheitswesens zu fordern. Und wieder stößt mensch auf diese spezifisch „deutschen Interessen“, auf das zu wahrende Allgemeinwohl. Und muss bei genauerer Betrachtung feststellen: „das Allgemeinwohl“ gibt es nicht, ist allenfalls konstruiert und folgt allein ganz speziellen Interessen, und das sind die Interessen von Kapital und Wertevermehrung, sind die Regeln der kapitalistischen Marktwirtschaft, die wie ein Subjekt über die Handlungen von millionen Menschen herrscht und doch selbst völlig leblos ist.
Herrschaftsförmige und ungerechte Welt
Wer dann den Blick weiter auf diese gesellschaftliche Ebene richtet wird feststellen: Jedes kollektive nationale Interesse und jede Legitimation, die sich auf ein Volk und dessen angeblich gemeinsames Interesse bezieht, verschleiert die individuellen Interessen und Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen als auch die gemeinsamen ökonomischen Interessen einer gesellschaftlichen Klasse und sorgt weiter für das Bestehen einer herrschaftsförmigen und ungerechten Welt.
Auch die Argumentation, der Zivildienst sei vom Kriegsdienst völlig losgelöst geht ins Leere, da der Zivildienstleistende im Kriegsfall als ziviler Kriegsdienstleistender ebenso in die nationale Verteidigung eingebunden ist – ob an der Waffe oder in der Versorgung ist für das Funktionieren des Krieges nebensächlich. Und durch den hohen Bedarf an Zivildienstleistenden ist die Existenz des Kriegsdienstes gesichert, denn die Gesetze und Handhabungen bauen aufeinander auf. Wie im Kriegsdienst, aber weniger offensichtlich wird auch der Zivi in seinen sowieso spärlichen Bürgerrechten beschnitten und in eine unfreiwillige Kooperation gezwungen, was nicht selten Depressionen und eine krasse Einschränkung der persönlichen Entfaltung bedeutet.
Rollenbilder
Dem gesellschaftlichen Diskurs folgend reproduziert und prägt der Kriegs- und Zivildienst vorhandene Rollenbilder und reiht sich damit in einen sexistischen, militaristischen, patriarchalen, verwertungsbezogenen und nationalistischen Alltag ein. Zunächst wird vorausgesetzt, dass biologisch männliche Menschen auch dem gesellschaftlichen männlichen Geschlecht entsprechen und damit bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die sie zu geeigneten Kriegs- und Zivildienstleistenden machen. Auf eine biologistische Art werden bestimmte soziale und körperliche Merkmale als zusammengehörig definiert (typisch männlich, z.B. stark, produzierend, dominant/typisch weiblich z.B. weich, reproduzierend etc…) und so Menschen von klein auf in ihre Geschlechterrolle gedrängt. Genauso die Kategorisierung in Nationalität (nur deutsche Männer sind wehrpflichtig) und Gesundheit/Aussehen (wer als nicht gesund/groß genug angesehen wird, wird ausgesondert). Natürlich würde die Forderung nach einer Wehrpflicht für alle nicht weniger herrschaftsförmig sein!
[Exit!]
Jeder Zwangsdienst basiert auf Herrschaft und somit der Grundlage für ökonomische und gesetzliche Zwänge, Unterdrückung und Umweltzerstörung, Krieg und Nationalismus. Und jeder Zwangsdienst reproduziert Herrschaft, wenn er als völlig normal wahrgenommen und nicht hinterfragt wird. Niemand hat das Recht, über einen anderen Menschen zu bestimmen und dessen Autonomie in Frage zu stellen. Emanzipation heißt: Sämtliche Zwangsdienste abschaffen, Herrschaft abschaffen, Kapitalismus abschaffen und der Aufbau freier statt gezwungener Kooperation.
Für eine freie und solidarische Gesellschaft – Deutschland Totalverweigern!
Weitergehende Informationen:
Zur Zeit gibt es mehrere bekannte Totalverweigerer: Jonas und Daniel, die beide bei solid’ Gießen organisiert sind (solid-giessen@gmx.de) und Jan-Patrick, der inzwischen mehrmals in Bundeswehrhaft saß (totalverweigerung@riseup.net, www.totalverweigerung.blogsport.de).
Die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär unterstützt Kriegsdienst- und Totalverweigerer (www.kampagne.de)
Die Internetseite von Totalverweigerer Hannes: www.herrschaftsfrei.blogsport.de / Lesen Sie auch den Artikel in Hohenlohe-ungefiltert über die erste Gerichtsverhandlung von Hannes im Amtgericht Schwäbisch Hall www.hohenlohe-ungefiltert.de/?p=5827