Zwei Tage nach der großen Polizeirazzia ist es ruhig vor der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge (LEA) in Ellwangen. Am frühen Samstagabend steht auf dem Parkplatz vor der LEA nur ein Auto einer Sicherheitsfirma. Journalisten und Kamerateams sind keine mehr da. Vor allem Männer aus Afrika kommen und gehen durch die Pforte der ehemaligen Reinhardt-Kaserne. Viele kommen vom Einkaufen aus dem knapp einen Kilometer entfernten Edeka-Markt.
Von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert
Schild am LEA-Eingang: Willkommen in Ellwangen
Beim Betreten der LEA kontrollieren Security-Mitarbeiter die Ausweise und die Einkaufstaschen der Geflüchteten. Alkohol, Drogen und Waffen (auch Messer) sind verboten, steht auf einem Schild am Eingang. Hinter dem Zaun und dem Wachhäuschen steht ein großes Schild der Stadtverwaltung mit der Aufschrift: „Willkommen in Ellwangen“. Darunter eine Weltkugel mit dem afrikanischen Kontinent im Zentrum. Große und kleine bunte Menschen bevölkern dieses Erdenrund der Willkommenskultur.
Ende der Willkommenskultur
Zwei Tage zuvor war von der Willkommenskultur in der LEA Ellwangen nicht mehr viel zu spüren gewesen. Etwa 500 Polizisten, viele von ihnen vermummt und mit Schlagstöcken bewaffnet, stürmten am Donnerstag in aller Frühe die ehemalige Reinhardt-Kaserne. Sie wollten die Machtverhältnisse wieder gerade rücken, weil in der Nacht von Sonntag auf Montag zwei Polizeistreifen abgezogen waren. Den vier Polizeibeamten (zwei von ihnen waren noch Praktikanten) war es nicht gelungen, einen 23-jährigen Togoer aus der LEA herauszuholen. Er sollte nach Italien abgeschoben werden. Der Mann wehrte sich nach Polizeiangaben nicht. Allerdings forderten etwa 150 afrikanische Männer die Freilassung ihres Kollegen. Die vier Polizisten kapitulierten vor der Übermacht und ließen dem 23-jährigen später von Security-Mitarbeitern die Handschellen wieder abnehmen, die ihn dann gehen ließen. Um ihre Haut zu retten und eine weitere Eskalation zu verhindern, zogen sich die Polizisten zurück. In der Pressemitteilung der Polizeidirektion Aalen vom Mittwoch wurde von „aggressivem“ und „drohendem Verhalten“ seitens der Flüchtlinge berichtet – nicht aber von körperlicher Gewalt.
Widerspruch gegen geplante Abschiebung eingelegt
Am Donnerstagmorgen kehrte die Polizei wieder in die LEA zurück – mit Verstärkung. Mehrere hundert Beamte durchsuchten drei der fünf LEA-Gebäude. 292 der etwa 500 Flüchtlinge wurden überprüft. Bei der Razzia wurde auch der 23-Jährige aus Togo festgenommen. Er wurde in die Abschiebehaftanstalt Pforzheim gebracht. Sein Rechtsanwalt legte Widerspruch gegen die geplante Abschiebung seines Mandanten nach Italien ein.
Polizist verletzte sich „ohne Fremdeinwirkung“
Kritik übte ein 34-jähriger Mann aus Nigeria gegenüber der Ipf- und Jagstzeitung an dem massiven Polizeieinsatz von Donnerstag. „Wir haben geschlafen, da kamen sie rein, weckten uns laut, haben getreten und geschlagen und alle Sachen durcheinander gebracht. Ich wusste gar nicht was los ist. Sie haben alle rausgeholt aus den Zimmern, haben viele gefesselt, manche Leute sind verletzt worden“, sagte er der Lokalzeitung. Nach Polizeiangaben wurden bei dem Einsatz elf LEA-Bewohner verletzt. Ein Polizist verletzte sich „ohne Fremdeinwirkung“.
Polizeieinsatz hält er für völlig überzogen
Ein junger Mann aus Kamerun erzählte Hohenlohe-ungefiltert, dass er vom Großeinsatz der Polizei am Donnerstag geschockt war. „Es war so laut“, viele Flüchtlinge seien vor Angst aus dem Fenster gesprungen und hätten sich dabei verletzt, berichtet er. Vielen Flüchtlingen sei bei der Durchsuchung das Geld abgenommen worden, das sie tags zuvor bei der Taschengeldausgabe bekommen hatten. Den Polizeieinsatz hält er für völlig überzogen. Er glaubt, dass der festgenommene Mann aus Togo deshalb so schnell abgeschoben werden sollte, weil er in der Vergangenheit andere Geflüchtete in der LEA über ihre Rechte informiert habe. Deshalb sei er vom deutschen Staat als Gefahr angesehen worden. Beim ersten Einsatz in der Nacht zum Montag sei die Polizei klug vorgegangen und habe sich auf keine Konfrontation eingelassen. Der Mann aus Kamerun bestreitet, dass gegen die Polizisten und ihre Fahrzeuge am Montag körperliche Gewalt angewendet worden sei. „Das stimmt nicht“, bekräftigt er.
Geflüchtete leben in ständiger Angst
Das Leben in der LEA Ellwangen bezeichnet der Kameruner als frustrierend. „Es gibt keine sinnvolle Beschäftigung. Arbeiten dürfen wir nicht.“ Das Essen in der LEA-Kantine passe für Afrikaner nicht. Das kleine Taschengeld reiche aber nicht aus, um genügend eigene Lebensmittel kaufen zu können. Ständig lebten die Flüchtlinge in der Angst, Deutschland wieder verlassen zu müssen. Das zehre an den Nerven. Der junge Kameruner hofft, dass er die LEA bald verlassen darf. In einer schönen Stadt in Deutschland will er in Frieden leben und arbeiten – seine kleine Familie mit seinem eigenen Verdienst selbst versorgen.
Fotografieren ist nicht gerne gesehen
Noch am Samstagabend reagieren die Security-Mitarbeiter nach den stressigen Tagen gereizt. Ein Sicherheitsmann kommt aus dem Wachhäuschen der ehemaligen Kaserne und will das Fotografieren des LEA-Eingangs verhindern. „Des wella mir hier net“, sagt der ältere Mann mit stark schwäbischem Akzent. „Des wella a die Flichtling net“, erklärt der Security-Mann und geht wieder in sein Wachhäuschen zurück.
Ein-Mann-Demo auf dem Marktplatz
Ortswechsel in die Ellwanger Innenstadt: Während in der St. Vitus-Basilika ein nigerianischer Pfarrvikar mit einigen Kirchenbesuchern den Eucharistie-Gottesdienst am Samstagabend feiert, demonstriert auf dem Marktplatz vor der Kirche ein einzelner Mann – möglicherweise ein AfD-Sympathisant. Er hält ein doppelseitiges Plakat in die Luft. „Es sind genug Polizisten da! Abschiebung Guido Reil (Anmerkung: AfD-Politiker, Mitglied des AfD-Bundesvorstands) am 01.05.2018 hat geklappt! Ellwangen war ein Einzelfall!“ (…) ist darauf zu lesen. Darüber ein Foto von der Festnahme Guido Reils bei einer DGB-Kundgebung am 1. Mai 2018 in Essen. Auf der anderen Seite des Plakats ist Angela Merkel abgebildet. Darunter der kryptisch-vielsagende Text: „Alles wird gut! Macht Euch keine Sorgen! Vertraut der Polizei! Die haut ab und schon nach 3 Tagen ist sie wieder da! Es sind nur noch 12.000 Neue pro Monat! Das Boot ist nie voll. Winfried Kretschmann 2+2=5“
„In Deutschland sind zwar viele Menschen reich…“
Nach kurzer Zeit kommt es zu einer interessanten Begegnung. Ein junger afrikanischer Geflüchteter fährt mit seinem Fahrrad zu dem Demonstrierenden und fragt ihn, was das Plakat bedeuten soll. Am Ende eines längeren Gesprächs sagt der Plakat-Träger zu seinem jugendlichen Gesprächspartner: „In Deutschland sind zwar viele Menschen reich, aber man kann das Geld nur einmal ausgeben.“ Der junge Afrikaner vernahm’s und verabschiedete sich freundlich mit einem Händedruck. „Jeder soll seine Meinung haben. Ich habe auch meine Meinung“, erklärt der junge Afrikaner anschließend und fährt davon.
Kritik an zu wenig Polizeipräsenz
Auch in den Ellwanger Wirtschaften waren die Vorkommnisse der vergangenen Tage in der ehemaligen Bundeswehrkaserne noch am Samstagabend das wichtigste Thema. Gäste einer Rock-Kneipe in LEA-Nähe befürchten, dass die Polizeipräsenz schon bald wieder nachlassen wird. „Jetzt kontrollieren sie eine oder zwei Wochen wieder ganz viel, dann kommt wieder nur sporadisch mal wieder eine Streife vorbei“, prophezeit ein junger Mann. Von den afrikanischen Geflüchteten in der LEA hat die Gruppe junger einheimischer Männer keine gute Meinung. Sie rissen auch schale Witze. „Ich mach’ jetzt auf Flüchtling, dann brauch’ ich auch keine Miete mehr bezahlen“, meinte einer. Ob er dann glücklicher wäre?
Gemeinderat muss über LEA-Vertrag entscheiden
Die Zukunft der LEA in Ellwangen ist ungewiss. Im Frühjahr 2020 endet der Vertrag mit dem Land Baden-Württemberg. Über eine eventuelle Verlängerung entscheidet der Gemeinderat. Die Stimmung in Ellwangen für eine Verlängerung des Vertrags mit dem Land ist derzeit denkbar schlecht. Einem von Bundesinnenminister Horst Seehofer in die Diskussion gebrachten Anker-Zentrum für bis zu 1500 Flüchtlinge erteilte Ellwangens parteiloser Oberbürgermeister Karl Hilsenbeck eine klare Absage. „Sofern sich der Gemeinderat für die Fortsetzung des LEA-Betriebs über das Frühjahr 2020 hinaus entscheidet, müssen in dem neuen Vertrag die `Leitplanken klar definiert werden“, sagte er der „Frankfurter Rundschau“ (Samstagausgabe).