Unsere Medien berichten ausführlich über Horrorszenen, die sich tagtäglich in italienischen und spanischen Krankenhäusern abspielen. Wir erfahren, dass Menschen unter dem maroden Gesundheitssystem zu leiden haben. Darüber wie es dazu kam, dass die Gesundheitssysteme, so marode sind, erfahren wir nichts.
Kommentar von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Bundesregierung als Antreiber und Scharfmacher
Das Corona-Virus traf in Spanien und Italien auf gesellschaftliche Infrastrukturen, die von mindestens einem Jahrzehnt harter Sparpolitik wund geschlagen waren. Kaum jemand in der BRD weiß, dass die Gesundheitssysteme in beiden Ländern nicht immer so schlecht waren wie sie heute sind. Im Jahr 2000 bewertete die WHO das italienische Gesundheitssystem als das zweitbeste der Welt, nach Frankreich. Spanien lag auf Platz 7, weit vor Deutschland auf Platz 25. Dafür, dass das spanische und italienische Gesundheitssystem am Abgrund stehen, gibt es einen Grund: Sie wurden in der „Eurokrise“ kaputtgespart – auf Druck der europäischen Institutionen. Nach einer jüngsten Untersuchung sprach die EU zwischen 2011 und 2018 insgesamt 63 „Empfehlungen“ für Kürzungen oder Privatisierungen im Gesundheitswesen der EU-Staaten aus. Dabei tat sich die Bundesregierung als Antreiber und Scharfmacher hervor.
Verheerende Kürzungen in Italien
Rom, August 2011: In das Postfach der italienischen Regierung flattert ein Brief der Europäischen Zentralbank. Die EZB erklärt in ihrem Schreiben, dass Schutz vor steigenden Zinsen auf italienische Staatsanleihen nur unter der Bedingung harter Einschnitte gewährt würde. Zur gleichen Zeit, Oktober 2011, war auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) unzufrieden mit den Sparanstrengungen Italiens. „Italien muss seine Hausaufgaben machen“, forderte der deutsche Austeritätspolitiker. Die italienische Regierung unter dem ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti tat wie von Schäuble geheißen. Sie verabschiedete eine Reihe von Gesetzen, mit denen die Gesamtfinanzierung der öffentlichen Gesundheit um 900 Millionen Euro im Jahr 2012, 1,8 Milliarden Euro im Jahr 2013 und weitere zwei Milliarden Euro im Jahr 2014 gekürzt wurde. Dadurch gingen die Mittel für unentbehrliche Medikamente und den nationalen Gesundheitsfonds zurück. In der Folge sank die Anzahl von Krankenhäusern im Land um 15 Prozent. „Es wurden verheerende Kürzungen vorgenommen“, sagt Guido Marinoni, Präsident des Ärztebundes der besonders betroffenen Stadt Bergamo. Das Krankenhaus Johannes Paul XXIII. zum Beispiel – Symbol für das Sterben Hunderter Menschen in der Region – habe 400 Betten, vor ein paar Jahren seien es noch 1.000 gewesen.
Ungeheuerliche Einsparungen in Spanien
„Die Einsparungen der vergangenen zehn Jahre waren ungeheuerlich“, sagt Mercedes Romero, Verwaltungsangestellte und Betriebsrätin im Hospital Severo Ochoa in Leganés bei Madrid. Die spanische Regierung sah sich von den gleichen europäischen Institutionen gezwungen, ein Kürzungsprogramm zu unterzeichnen.
Sparkommissare Merkel und Schäuble
Und abermals als Scharfmacher und Sparkommissar im Hintergrund: Merkel und Schäuble. Daraufhin wurden die Ausgaben für das Gesundheitssystem allein im Jahr 2012 um 5,7 Prozent gedrückt. Das Land hat seit 2010 knapp elf Prozent seiner Krankenhausbetten verloren. Nach jüngsten Daten des Europäischen Statistikamtes Eurostat hatte man 2008 noch 320 Betten pro 100.000 Einwohner, 2017 waren es nur noch 297. Vor 20 Jahren waren es sogar noch 365. In der EU-Rangliste ist Spanien weit hinten.
Laut einer Untersuchung der CCOO, der größten Gewerkschaft in Spanien, wurde nach 2010 das Budget des Gesundheitswesens um knapp zehn Prozent, die Personalausgaben um sieben Prozent und das Investitionsbudget um 62 Prozent gekürzt. Die gesamten öffentlichen Gesundheitsausgaben wurden um elf Prozent reduziert, die Gesundheitsausgaben in den öffentlichen Verwaltungen sind pro Einwohner um 12,6 Prozent gesunken. Insgesamt wurden Gehaltskürzungen zwischen 18 Prozent und 23 Prozent (je nach Region und Berufskategorie) vorgenommen.
Kahlschlag in Griechenland
Aber am härtesten traf es bekanntlich Griechenland: Die staatlichen Mittel wurden zwischen 2009 und 2016 von 16,2 Milliarden auf 8,6 Milliarden Euro fast halbiert. Mehr als 13.000 Ärzte und über 26.000 sonstige im Gesundheitswesen Angestellte wurden entlassen. 54 der 137 Krankenhäuser wurden geschlossen und das Budget der übriggebliebenen um 40 Prozent gesenkt. Insgesamt fielen zwischen 2011 und 2016 bei etwa elf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern mehr als drei Millionen Menschen völlig aus dem Schutz einer Krankenversicherung.
Same Old Story
Wer gehofft hatte, dass die Bundesregierung angesichts des zum Himmel schreienden Dramas in den Kliniken Italiens und Spaniens die eigene Verantwortung anerkennen würde, sieht sich getäuscht. Es ist nicht erkennbar, dass die Bundessregierung ihre in den 2010er Jahren praktizierte Erpressungspolitik gegenüber den damals abfällig als PIiGS Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien) bezeichneten Ländern der europäischen Peripherie kritisch überdenken würde. Und es gibt keinerlei Anzeichen, dass die Bundesregierung gegenüber Italien oder Spanien um Wiedergutmachung bemüht wäre.
Politik des „Deutschland Zuerst“
Gegenüber den genannten Ländern hat sich allenfalls die Rhetorik geändert. In der Substanz wird eine Politik des „Deutschland Zuerst“ praktiziert. Dabei schimmert immer wieder die alt bekannte Arroganz gegenüber den „faulen Südländern“ durch, gekoppelt mit dem Anspruch, ihnen vorzuschreiben, was sie zu tun und was sie zu lassen haben.
Das zeigt sich an der Haltung der Bundesregierung zu Corona Bonds – was Thema des nächsten Artikels sein wird.