„Lang beschattete Täler“ – Eine Fortsetzungsgeschichte von Birgit Häbich: Der Episoden neunter Teil. Die geschilderten Handlungen, Personen und Namen sind frei erfunden. Es werden keine realen Namen von Personen angegeben. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder toten Personen wären rein zufällig, und sind weder gewollt noch beabsichtigt.
Von Birgit Häbich
IX Ächtung*
… Auf dem letzten Stück der Fahrt, als der Kappelberg endlich hinter ihnen lag, brach der neue Tag an. Herrlicher Sonnenschein begrüßte die Heimreisenden. Heiner Grün und Carl Eugen Friedner gingen still jeder seinen eigenen Gedanken nach. Heiner sinnierte über den Stromausfall am Stuttgarter Hauptbahnhof und Carl rang mit sich selbst. Ob Paula mit ihm reden würde, wenn sein Anruf so unvermittelt käme, oder ob er ihr nicht vorher doch schreiben sollte, fragte sich Carl immer wieder. Letztlich durchbrach er das Hamsterrad seiner Gedanken und musste bekennen, dass es seine eigene Feigheit war, die ihn von einem offenen Schritt abhielt.
Betrug
Über diesen Schwachpunkt in seinem Charakter war er in der unlösbaren Verbindung mit Paula öfters gestolpert. Bis heute hatte er es nicht geschafft, diesen Persönlichkeitszug an sich derart in den Griff zu bekommen, dass er den damals geschehenen Betrug aufklärte und endlich das nötige Rückgrat zeigte. Als Paula vor ein paar Jahren sein Angebot, sie zu heiraten, nicht gleich annahm, sondern dann ihrerseits schwieg, war er eigentlich ganz froh darüber. Hätte doch jede weitere Begegnung bedeutet, dass das unleidige Thema des Betrugs, den er immer noch deckte, ständig und weiterhin zwischen ihnen stand. Auf das erweiterte Angebot, sein Vermögen mit ihr zu teilen, ging sie dabei nämlich auch nicht ein. Und plötzlich erkannte Carl Paulas Beweggründe klar und deutlich: Sie wollte nicht nur mit Fug und Recht ihr Erbe zurückbekommen, Paula Engel wollte Gerechtigkeit.
Autoritäre Maßnahmen
„Wenn man Seuchen nicht als Auslöser politischer oder sozialer Krisen versteht“, drang erneut Heiners Stimme an Carls rechtes Ohr, „sondern sie als ihr Verstärker oder Katalysator ansieht, wie es Paul uns vorhin ausführlich an Beispielen in Afrika dargelegt hat, ergeben staatstragende, autoritäre Maßnahmen plötzlich einen ganz anderen Sinn.“ Und sein Freund setzte seinen Gedankengang nach einer kleinen Atempause mit einer Frage fort: „Würde das denn bedeuten, dass im Namen der Fürsorge, die lang abgelehnten und mit Widerstand belegten Themen der Überwachung und Kontrolle auf eigentümliche Art und Weise zu richtigen und wichtigen Mitteln, und damit auf einmal bei breiten Teilen der Bevölkerung hoffähig werden?“
„AIDS-Hysterie“
Carl erinnerte sich an die vor knapp vierzig Jahren aufgekommene „AIDS-Hysterie“. Damals stritt sich die Wissenschaft weltweit, hart aber unergiebig, um Herkunft und Ausbreitung des lange nicht einmal isolierten Virus. Die vermeintliche Schuld an der Verbreitung der Lustseuche wurde lapidar den angeblich promiskuitiven* Schwulen in die Schuhe geschoben. Man torpedierte auch die sich treu und gleichgeschlechtlich Liebenden solange, bis viele ihre Symptome verbargen. Aus heutiger Sicht kann man sich fragen, wozu es dienen sollte, Kranke zu stigmatisieren*. Damals war einer der Effekte, dass man die massenhaften Hungertoten in Afrika nicht mehr der Armut und dem Mangel an sauberem Wasser zuordnete, sondern die Statistiken einen immensen Anstieg an Aids-Toten verzeichneten. Irgendwann wurde das Thema dann stillschweigend unter den Tisch fallen gelassen – HIV-Positive starben letztlich an Krebs und einen Impfstoff gibt es bis heute nicht.
Einer von der Risikogruppe
Carl Eugen Friedner kamen die Bemerkungen seiner Kollegen aus der neuen Bürogemeinschaft in den Sinn. Bevor er zu dem kleinen Ausflug in den Schwarzwald aufbrach, wurde er mit den Worten verabschiedet: „Also, gell, Carl, wenn Du Dich nicht mehr in der Lage siehst, ins Büro zu kommen – Du gehörst ja schließlich auch einer der Risikogruppen an – dann kannst Du gern daheim bleiben. Wir haben da volles Verständnis.“ Und auf einmal fühlte Carl nicht mehr die Fürsorge seiner Kollegen, sondern es überkam ihn bei der Erinnerung an diese Sätze blankes Entsetzen: Man würde ihn mit dieser Fürsorge auf ganz sanfte Weise ausmustern. Und nicht nur ihn würde man in eine Art selbstgewählten Hausarrest schicken, sondern alle Berufserfahrenen, die gerade jetzt mit ihrem prallen Kenntnisschatz, den unglaublich vielen fachlichen Kenntnissen und der reifen Gelassenheit der Nachkriegsgeneration dem konstruktiven Fortkommen in Wirtschaft und Politik dienen konnten und wollten.
Eiskalt berechnete Ergebnisse
Den Bürodienst ausschließlich per Telefon und E-Mail-Verkehr in Verbindung mit technisch aufwendigen und nicht immer funktionierenden Videokonferenzen auszuüben, war für Carl Eugen unvorstellbar. Die persönlichen Kontakte zu den Menschen waren es ja gerade, die ihn seine Berufsausübung lieben ließen. Dazu musste er die Mandanten zwar nicht ganz dicht vor sich haben; aber im selben Raum wollte er sie erleben, ihre Vorträge anhören, die Nuancen, das leichte Zittern in der Stimme bei Nennung schwieriger Sachverhalte, wollte er unbedingt wahrnehmen. Man wusste ja bei der Nutzung der modernen Techniken nie, mit was die Menschen am anderen Ende beschäftigt waren, konnte ihre Mimik und Gestik, den wesentlichen Bestandteil der persönlichen Kommunikation, ja gar nicht mehr mit in Gespräche einbeziehen. Es würde alles erheblich komplizierter und vor allem unverständlicher werden. Man würde nicht mehr die verständnisvolle Menschlichkeit in den Vordergrund von Begegnungen und Einigungen rücken, sondern eiskalt berechnete und rigoros durchgesetzte Ergebnisse abhandeln.
Überfall verhinderte Aufklärung
Seine moralischen Überlegungen ließen Carl Eugen wieder zum Bericht von Florian Findus zurückkehren, den er mit Nachforschungen beauftragt hatte. Paula Engel sei vor mehr als drei Jahren in ihrem Atelier überfallen und niedergeschlagen worden und habe dabei einen Schädelbruch erlitten, berichtete ihm sein Informant. Carl Eugen Friedner bekam beim Gedanken an diese Tat noch immer einen heftigen Stich ins Herz. Eine Kundin Paulas hätte die Verletzte dann gefunden und sofort ins Kreiskrankhaus gebracht. Paula war im Dezember des Jahres 2016 anscheinend kurz davor, den an ihr geschehenen Betrug mit Hilfe eines Schweizer Anwalts und Notars aufklären zu können. Dieser Überfall jedoch vereitelte die Wahrnehmung des anstehenden Termins, bei dem man die Beweislage zur Aufklärung des Betrugs erörtern wollte.
Oft beim Vater
Carls Informant Findus berichtete unter anderem von einem Vetter* Paulas, Wilhelm Teufel und dessen jüngstem Sohn Lucian. Dieser Sohn des Cousins sei sonst nur äußerst selten bei seinem Vater zu Besuch gewesen, aber damals einige Wochen vor dem Überfall auf Paula, sei Lucian ungewöhnlich oft in der Zweitwohnung bei seinem Vater in der Kreisstadt ein- und ausgegangen. Um Unauffälligkeit bemüht, erkannte man den ganz jungen Teufel trotzdem immer wieder als den Großcousin von Paula Engel …
Fortsetzung folgt.
Erläuterungen:
*Ächtung: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84chtung
*Stromausfall am Stuttgarter Hauptbahnhof: https://www.dieter-schaefer.eu/newpage9b3e2c4f
*promiskuitiv, Promiskuität: Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden PartnerInnen.
*AIDS bzw. Maßnahmen in der HIV-Pandemie:
Interview in der taz am 18./19.April 2020 von Sabine am Orde mit Malte Thießen: https://taz.de/Historiker-Malte-Thiessen/!5676907/
*Vetter: Vetter oder Base sind blutsverwandte, Vetter ist ein anderer Ausdruck für den Cousin; Base, Baas oder Bäsle für die Cousine.
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