„Rassistisches Gefasel kam schon 1924 aus der Mitte der Gesellschaft“, sagte Siegfried Hubble bei seiner Gedenkrede 2013 zum Jahrestag des Hessentaler Todesmarschs. Dieser begann am 5. April 1945 am Konzentrationslager Hessental. Hubele war 2013 einer der Sprecher der Initiative KZ-Gedenkstätte Hessental. Hohenlohe-ungefiltert dokumentiert die Rede noch einmal in voller Länge.
Von Siegfried Hubele, Initiative KZ-Gedenkstätte Hessental, 2013
Hessentaler Todesmarsch begann am 5. April 1945
Ich begrüße Sie im Namen der Initiative KZ Gedenkstätte Hessental zu unserer Gedenkveranstaltung anlässlich des Beginns des „Hessentaler Todesmarsches“ am 5. April 1945.
Am 2. September 1924 war im Haller Tagblatt folgendes zu lesen:
„Nach der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur, die der Redner anführte, gäbe es 4 Rassen im deutschen Volk. Die Juden seien dort nicht aufgeführt, infolgedessen gehörten sie wissenschaftlich nicht zum deutschen Volk. Es sei auch eine Wunschvorstellung, wenn man meine, alles, was Menschenantlitz trage, gehöre zusammen.“ Dieses rassistische Gefasel stammt aus einem Vortrag des Obermedizinalrates Dr. de Bury, bei einer Veranstaltung der Haller NSDAP.
Heute würde man sagen – von einem Mann aus der „Mitte der Gesellschaft“.
Mit der Machtübertragung am 30. Januar 1933, an Hitler als Reichskanzler, ohne Parlamentsvotum und tatsächliche Mehrheitskoalition – begann der Marsch Deutschlands in Verfolgung, Krieg und Völkermord.
Schweigen, Wegsehen und Mitmachen großer Teile der Gesellschaft
Nachdem die politischen Gegner – Sozialdemokraten, Kommunisten, standhafte Gewerkschafter und aufrichtige Menschen aus dem Bürgertum durch den SA-Terror schwer geschwächt waren – konnte sich der Rassismus des neuen Regimes voll entfalten. Leider auch getragen durch Schweigen, Wegsehen und Mitmachen großer Teile der Gesellschaft.
Synagoge in Steinbach von Nazis und gut situierten Bürgern niedergebrannt
Am 1. April 1933 organisierte die SA den ersten Boykott jüdischer Geschäfte in Hall. 1935 wurden alle jüdischen Kinder aus den Haller Schulen verbannt und mussten auf eine jüdische Schule nach Braunsbach. 1938 wurde die Synagoge in Steinbach von Nazis und gut situierten Bürgern – darunter Lehrer, Beamte, Kaufleute… – niedergebrannt und der jüdische Betsaal in Hall zerstört und mehrere jüdische Bürger verhaftet, einige ins KZ Dachau verbracht.
Finanzamt und Polizei waren willige Gehilfen
1939 bereicherte sich der Nazistaat bei der Flucht und Vertreibung der Haller Juden über die so genannte „Reichsfluchtsteuer“ und die „Judenvermögensabgabe“. Das Finanzamt und die Polizei waren dabei willige Gehilfen. 1941 – beim ersten Transport württembergischer Juden in die Vernichtungslager waren vier Hallerinnen und Haller betroffen. Alle vier Menschen überlebten das Ghetto von Riga nicht.
42 Haller wurden Opfer des rassistischen Völkermords
Insgesamt wurden 42, mindestens zeitweise in Schwäbisch Hall lebende Menschen, Opfer des rassistischen Völkermords. Im Mai 1942 stellt der Haller Bürgermeister fest: Dass Schwäbisch Hall nun „judenfrei“ sei. Schon ein Jahr zuvor hatte sich zumindest ein Haller Bürger aktiv bei der Verwirklichung „judenfreier Gebiete“ in der Ukraine hervorgetan.
90 Kinder und Säuglinge ermordet
August Häfner – sorgte dafür, dass 90 jüdische Kinder und Säuglinge am 22. August 1941 in einer von der Wehrmacht ausgehobenen Grube von ukrainischer SS erschossen wurden.
Millonenfacher Mord
„Judenfrei“ war das Reichsgebiet Anfang der 1940er Jahre – weil die in Deutschland lebenden Juden zur Zwangsarbeit und Vernichtung in den europäischen Osten gebracht wurden. Offensichtlich war es den „Volksgenossen“ nicht zuzumuten, die Vernichtungslager der Juden vor der Haustüre zu haben. Den millionenfachen Mord an den jüdischen Menschen aus Osteuropa, durch die SS – und Polizei-Sonderkommandos und die Wehrmacht – wollten viele nur als „Feindpropaganda“ sehen.
800 jüdische Häftlinge sollten den Flugbetrieb in Hessental sicherstellen
1944 angesichts der militärischen Niederlage der Wehrmacht unternahm der Nazistaat nochmals Anstrengungen, die Rüstungsproduktion zu steigern, insbesondere mit der Fertigung von Kampfflugzeugen. Auch hier in Hessental. 800 jüdische Häftlinge sollten den Flugbetrieb auf dem Fliegerhorst sicherstellen.
„Wettlauf mit dem Tod“
Izchak Lamhut, der Ende 1944 Häftling hier im KZ Hessental war, musste zuvor Sklavenarbeit für eine deutsche Flugzeugfabrik im polnischen Budzy verrichten. Er stammte aus dem kleinen Städtchen Krasnik. Izchak Lamhut verlor fast die gesamte Familie während der verschiedenen Auflösungen der Ghettos und Arbeitslager durch die Deutschen. Seine Mutter war im Gefängnis des Ghettos mit dem jüngsten Bruder Schlomo eingesperrt. In seinen Erinnerungen „Wettlauf mit dem Tod“ beschreibt Izchak Lamhut in dramatischen Worten den letzten Kontakt mit der Mutter:
„Gott, hilf mir doch, meiner Mutter zu helfen“
„Irgendjemand erzählte mir, dass meine Mutter im Gefängnis saß. Ich rannte natürlich sofort dorthin, und meinen Augen bot sich ein schreckliches Bild. Meine Mutter steht am geschlossenen Fenster, das zusätzlich mit einem Gitternetz überzogen ist, hält Shlojmele an der Hand und beide weinen. Als meine Mutter mich unten stehen sah, begann sie mich anzuflehen, liebes Kind, Itzchak, rette uns, morgen wollen sie uns töten. Liebes Kind, schütte Öl in die Lampe, solange der Docht noch brennt, du wirst deine Mutter verlieren. Ich schauderte am ganzen Körper, ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen und sie erzählte mir alles, was in den paar Tagen, seitdem ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, zugestoßen war. Damals war sie noch zuhause gewesen, und jetzt zog sich schon die Schlinge um ihren Hals zu. Erbarme dich meiner, und wenn nicht, dann wenigstens deines kleinen Bruders. Meine Mutter sprach mit heiserer Stimme, und wie in einem Reflex hob ich die Arme hoch und schrie Gott, hilf mir doch, meiner Mutter zu helfen!´ Ich merkte gar nicht, dass hinter mir zwei von der SS standen. Plötzlich bekam ich eine schallende Ohrfeige und jemand schrie:
Mach, dass du wegkommst, du Hund, sonst erschieß ich dich!´ Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter gesehen habe. Ich hatte überhaupt keine Möglichkeit, Öl in die Lampe zu gießen, und am nächsten Tag brachten sie meine Mutter und das Baby auf den Friedhof und erschossen sie dort.“
Hunger, Krankeit und Mord
Izchak Lamhut war am 5. April 1945 ein Überlebender des KZ Hessental. Mit seelischen und körperlichen Narben, die wir uns kaum vorstellen können. Mindestens 182 seiner Leidensgenossen aus dem KZ-Außenlager Hessental starben durch Hunger, Krankeit und Mord.
Hessentaler Todesmarsch forderte mehr als 150 Todesopfer
Wahrscheinlich mehr als 150 Todesopfer forderte der Hessentaler Todesmarsch, den die Häftlinge größtenteils zu Fuß ab Sulzdorf – über Ellwangen und Nördlingen nach Dachau-Allach zurücklegen mussten.
Dieser Männer gedenken wir heute!
Gedenken hat aber immer etwas mit nachdenken zu tun. Es gab in den letzten Jahren kaum einen Skandal, der die Menschen in der Bundesrepublik so beschäftigt hat, wie die Morde des terroristischen Nazitrios „Nationalsozialistischer Untergrund“. Die meisten hätten sich die Ausmaße dieser Verbrechen vorher nicht vorstellen können.
Gegen alltäglichen Rassismus kämpfen
Deshalb ist es an solchen Gedenktagen, wo wir an die Opfer des Faschismus erinnern, ein wichtiges Anliegen, nachzudenken, ob Rassismus und rechter Terror eine Gesellschaft wie unsere wieder beherrschen könnten? Welche Warnsignale kommen aus der „Mitte der Gesellschaft“? Was können wir tun gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen Asyl-Hetze, gegen den alltäglichen Rassismus!
Hauptredner ist Hermann Abmayr
Unser Hauptredner heute ist Hermann Abmayr. Er ist Journalist, Buch- und Hörfunkautor und Filmemacher – und hat sich auf vielfältige Weise mit dem Thema befasst. Ich denke er wird in seinem Beitrag die Kontinuität des historischen Faschismus aufzeigen, der bis heute der Bezugspunkt vieler terroristischer Nazigruppen ist. Zuerst spielt nochmals die Gruppe Yondar – die uns auch in diesem Jahr einen würdigen musikalischen Rahmen bereitet. Danke.
Weitere Informationen und Kontakt:
http://www.kz-hessental.de/index.php/geschichte/der-todesmarsch
http://www.kz-hessental.de/index.php/termine
http://stuttgarter-ns-taeter.de/
http://moessingergeneralstreik.wordpress.com/
http://de.wikipedia.org/wiki/Mössinger_Generalstreik
http://www.wdr.de/mediathek/html/regional/2013/01/31/wdr3-wdr5-zeitzeichen-moessinger-generalstreik.xml
„Stuttgarter NS-Täter – Vom Mitläufer zum Massenmörder“
Abmayr ist bekannt für seine Arbeit als Herausgeber des Buches „Stuttgarter NS-Täter. Vom Mitläufer zum Massenmörder“ aus dem Jahr 2009 oder als Autor von „Wir brauchen kein Denkmal. Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben“, 1992. Sein Film über die „Spur der Erinnerung“ hält eine Bürgeraktion im Jahre 2009 fest, die mit vielen unterschiedlichen Aktionen von BürgerInnen mit und ohne Behinderungen, Vereinen, Archiven, Gemeinden etc. eine breite Spur zwischen Grafeneck, Ort der Vernichtung von Menschen mit Behinderungen, und Stuttgart zog.