„Milliardenspiel: Bezahlung im Amateurfußball: Schwarzgeld von jährlich bis zu 500 Millionen Euro“ – Eine Recherche von Correctiv und ARD

Im deutschen Amateurfußball fließen nach Recherchen von CORRECTIV und ARD jährlich womöglich bis zu 500 Millionen Euro Schwarzgeld. Damit würde flächendeckend gegen die Spielordnung des DFB verstoßen. Amateurfußballer berichten von Bargeldumschlägen, Scheinverträgen und unversteuerten Dienstwagen.

Von Ben Arcioli, Wigbert Löer, Jonathan Sachse, Hajo Seppelt, Arne Steinberg

10.000 Fußballer und Fußballerinnen befragt

Es ist die bislang größte Befragung zu den Geldströmen im deutschen Amateurfußball und sie zeigt erstmals das Ausmaß einer Schwarzgeld-Kultur hinab bis in die Kreisligen. Hochrechnungen auf Grundlage einer Befragung unter mehr als 10.000 Fußballerinnen und Fußballern lassen den Schluss zu, dass Amateurvereine ihnen Jahr für Jahr mehr als eine Milliarde Euro zahlen – die Hälfte davon mutmaßlich an der Steuer vorbei.

Strafen wegen Steuerhinterziehung drohen

Die Aussagen zeigen erstmals im Detail, wie das Geld im Amateurfußball gezahlt wird. Oft werden demnach Summen in einer Höhe gezahlt, für die eigentlich laut Spielordnung des Deutschen Fußballbundes (DFB) ein Vertrag abgeschlossen werden müsste. Stattdessen berichten zahlreiche Spieler von schwarzen Kassen. Ein Sportjurist sieht zudem strafbares Verhalten, das für gemeinnützige Vereine zu Strafzahlungen führen könnte. Auch den Spielern drohen Strafen wegen Steuerhinterziehung.

Die ARD führte die Online-Befragung mit Unterstützung der digitalen Plattform CrowdNewsroom von CORRECTIV durch. Tageszeitungen, Fachzeitschriften und Fußballportale halfen, die Umfrage zu verbreiten. Zudem recherchierten Lokalzeitungen in ihren Amateurvereinen vor Ort, ob und wie Geld gezahlt wird. Die Teilnehmenden gaben im CrowdNewsroom an, in welchen Ligen sie gespielt haben, was sie dort verdient haben und ob ihr Verdienst schriftlich festgehalten wurde. Auch zur Art der Bezahlung – bar, per Überweisung, durch Sachwerte und Dienstleistungen – äußerten sich die Spieler. Manche hinterließen ihren Namen und Kontaktdaten, andere beantworteten die Fragen anonym. In der Bezirksliga kassiert immer noch mehr als jeder dritte Spieler Geld fürs Fußballspielen

Festbetrag oder Prämien

Unter den Teilnehmern waren 8.085 männliche Spieler im Alter von 18 bis 39 Jahren. Von ihnen haben 60,2 Prozent einmal oder häufiger Geld dafür bekommen, in einem Amateurverein Fußball zu spielen. Sie erhielten einen monatlichen Festbetrag und auch Punkt- und Siegprämien. Für den Beispielmonat Oktober 2020 gaben 36,9 Prozent von ihnen an, Geld fürs Fußballspielen kassiert zu haben. Einkünfte im Amateurfußball sind per se nicht illegal, problematisch wird es, wenn bewusst Steuerzahlungen vermieden werden. Auch in tieferen Ligen ist es der Erhebung zufolge keineswegs ungewöhnlich, mit dem Fußballspielen Geld zu verdienen. Demnach geben Spieler aus der fünfthöchsten Spielklasse ein mittleres Einkommen (Median) von 500 Euro an. Ein Amateurfußballer spricht von Einnahmen von bis zu 10.000 Euro im Monat. Der Kreisliga-Spieler Belmin Bikic sagt der ARD: „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass von Jahr zu Jahr immer Rekorde gebrochen werden bei den ganzen Summen.“

Was die Antworten im CrowdNewsroom auch zeigen: Im Frauenfußball wird auf Amateurniveau selten Geld bezahlt.

Nur rund 8.500 Amateurverträge

Laut DFB-Spielordnung (siehe § 8 Absatz 2) dürfen Amateurfußballer nicht mehr als 250 Euro pro Monat an Auslagenerstattung oder Aufwandsentschädigung bekommen. Fließt mehr Geld, muss ein Amateurvertrag abgeschlossen werden. Hier werden dann Steuern und Sozialabgaben fällig. Trotz der hohen Geldflüsse ist die Zahl der Amateurverträge im Amateurfußball allerdings verschwindend gering. In der Saison 2020/2021 kamen auf mehr als 700.000 Amateurspieler laut Angaben der 21 Landesverbände des DFB gerade mal rund 8.500 Amateurverträge. Ein Mäzen aus Hessen, der Unternehmer Gerhard Klapp, sagte der ARD, in den von ihm unterstützten Vereinen gebe es „wenig Amateurverträge“. Er erklärte das mit den Zusatzkosten und bestätigte, den offiziellen Weg zu gehen sei für die Vereine teuer.

Pro Saison 500 Millionen Euro mutmaßliches Schwarzgeld

Geht man davon aus, dass Deutschlands Amateurfußballer im Schnitt etwa so viel Geld bekommen wie die Teilnehmer der bundesweiten Befragung, so ergibt die Hochrechnung der Daten für den Beispielmonat Oktober 2020 eine gewaltige Summe. In diesem Monat wurden demnach in Deutschland rund 100 Millionen Euro an Amateurspieler ausbezahlt. Auf eine Saison mit zehn Verdienstmonaten gerechnet macht dies eine Milliarde Euro.

Geht man zudem davon aus, dass der Anteil verdeckter Zahlungen („schwarz“, „im Umschlag“) ebenso hoch ist wie von den Spielern in der Befragung angegeben, dann würden pro Monat 50 Millionen, pro Saison 500 Millionen Euro mutmaßliches Schwarzgeld bezahlt.

Der Statistik-Professor Andreas Groll von der TU Dortmund hat die Erhebung für die ARD ausgewertet. Groll sagt, eine Online-Befragung dieser Art könne natürlich nicht repräsentativ sein. Die Erhebung sei aber „statistisch und wissenschaftlich sauber durchgeführt“. Das Statistik-Labor der Ludwig-Maximilians-Universität München bescheinigt nach Prüfung der Hochrechnung, diese sei unter den getroffenen Annahmen „korrekt und nachvollziehbar“.

Oft Bargeld im Umschlag

Die Befragung macht deutlich, dass das Schwarzgeld auf ganz unterschiedliche Weise fließen kann. Der mutmaßlich gängigste Weg: Bargeld im Umschlag, ausgehändigt im Vereinsheim. Doch manchmal stecken auch private Geldgeber den Spielern das Geld zu. Andere haben Scheinarbeitsverhältnisse beim Sponsor und kassieren das Geld, ohne dort auch dafür zu arbeiten. Manchmal verrechnen die Vereine auch vorher vereinbarte Prämien mit einem Kilometergeld für Autofahrten – obwohl der Spieler zu Fuß zum Sportplatz kommt. Vereine nutzen das ganze Repertoire, Schwarzgeld gehört wie selbstverständlich dazu. Nachzuweisen sind Geldflüsse dieser Art meistens nicht, weil offenbar in vielen Vereinen schwarze Kassen existieren.

Straftatbestand Untreue

Die ARD hat dem renommierten Münchner Sportrechtler Thomas Summerer die Ergebnisse der Befragung vorgelegt. Summerer erstellte dazu ein juristisches Gutachten. Der ARD sagte er, die Befragung werde „ein kleines Erdbeben auslösen, denn wenn es schwarze Kassen gibt, dann ist das per se schon ein Straftatbestand, nämlich Untreue“. Vereinen, die bei Schwarzgeldzahlungen erwischt würden, drohe „der Entzug der Gemeinnützigkeit“. Und auch ein Spieler, der Schwarzgeld annehme, könne laut Summerer „massive Probleme bekommen“. Er könne „wegen Steuerhinterziehung bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe“ erhalten.

Wohnung, Auto, Handwerkerleistung

Bei der Befragung gab fast jeder fünfte Teilnehmer (18,2 Prozent) an, für das Fußballspielen auch schon mit Sachwerten und Dienstleistungen entlohnt worden zu sein. Die Vereine oder Sponsoren honorieren den Einsatz des Spielers auf dem Platz, indem sie ihm zum Beispiel eine Wohnung oder ein Auto zur Verfügung stellen. Manche Amateure erhalten auch Handwerkerleistungen, und zuweilen bekommt die Freundin oder der Freund auf dem Papier einen Mini-Job. Eine verbreitete Praxis, einen Spieler zu entlohnen, ist auch, ihn zum Schein als Jugendtrainer zu engagieren – ohne dass er irgendeine Mannschaft trainiert.

DFB hält Kontrolle für nicht möglich

Beim Deutschen Fußballbund sieht man die Bezahlung in unteren Ligen grundsätzlich kritisch. Ein DFB-Sprecher bezeichnete der ARD gegenüber Zahlungen in den unteren Amateurligen als den „falschen Weg“. Für die 21 Landesverbände unter dem Dach des DFB sei allerdings „eine Kontrolle nicht möglich“. Die internen Regelungen in den Vereinen seien „Sache der insoweit unabhängigen Vereine“. Die Rahmenbedingungen dafür setze der Gesetzgeber.

Milliardenspiel – Das Projekt

Diese Veröffentlichung ist eine Kooperation zwischen Lokalmedien, CORRECTIV und dem rbb, der für die Recherche federführend verantwortlich war. Auf der Themenseite der Sportschau sind verschiedene Artikel zum Thema veröffentlicht. Am 19. Januar um 23:30 Uhr wird zudem in der ARD die Dokumentation „Milliardenspiel Amateurfußball“ ausgestrahlt und am selben Tag in der ARD-Mediathek veröffentlicht.

In der ARD-Dokumentation „Milliardenspiel Amateurfußball“ berichten Insider, welche Rolle das Geld bei ihnen spielt. Denny Jeske, Spielerberater für Amateurspieler, sagt: „Das Geld hat sich natürlich immer mehr aufgeschaukelt grundsätzlich in den Vereinen. Es ist ja meistens jährlich ein Wettbieten.“

Die ARD-Reporter schickten während ihrer Recherchen auch einen Lockvogel in zwei Amateurvereine. Der Spieler gab vor, sich dem Klub anschließen zu wollen, trainierte zur Probe und handelte vor versteckter Kamera die Bezahlung aus. Beide Vereine boten ihm Geld, das sie teilweise oder komplett bar im Briefumschlag bezahlen wollten. In der TV-Dokumentation sagte ein Finanzbeamter mit engen Kontakten in den Amateurfußball, die meisten Amateure würden die Zahlungen nicht versteuern.

Das Netzwerk CORRECTIV.Lokal teilte die zentralen Rechercheergebnisse zusammen mit der ARD mit Lokalmedien aus ganz Deutschland. Die Reporterinnen und Reporter halfen bereits, die CrowdNewsroom-Befragung in ihren Regionen zu verbreiten. Zusätzlich recherchierten sie eigene Fälle von versteckten Zahlungen vor Ort.

Über CORRECTIV.Lokal

Das Netzwerk CORRECTIV.Lokal fördert Recherchen im Lokaljournalismus. Mehr als 1.100 Lokaljournalistinnen und -journalisten vernetzten sich, nehmen an kostenlosen Fortbildungen teil und recherchieren gemeinsam zu Themen, die eine nationale Bedeutung haben und gleichzeitig vor Ort für die Bürgerinnen und Bürger relevant sind. So beteiligten sich auch zahlreiche Lokalmedien am Projekt #Milliardenspiel.

Das Jeversche Wochenblatt in Niedersachsen sprach mit einem Fußballer, der gleich in seinem ersten Jahr im Männerfußball auf einem Hallenturnier von seinen Trainern ein Modell von Auflauf- und Siegprämien vorgestellt bekam. „Irgendwann kam immer jemand an, der hatte mehrere kleine Briefumschläge dabei und hat die dann in der Kabine verteilt“, erinnert sich der nach wie vor aktive Amateurfußballer.

Daniel Wächtler, Vorsitzender eines niedersächsischen Fußball-Kreisverbandes,, sagt gegenüber der in Soltau erscheinenden Böhme-Zeitung, es solle Fußballern auf Kreis- und Bezirksebene in erster Linie darum gehen, dass es sportlich und zwischenmenschlich passt. „Schöner wäre, wenn wir das Geld nicht bräuchten. Aber jeder weiß auch, dass die Realität eine andere ist.“ Ein Funktionär bestätigt dies: Er sei sicher, dass die besten Fußballer im Bezirk 800 Euro monatlich und mehr mit nach Hause nehmen.

In der Badischen Zeitung mit Sitz in Freiburg spricht ein Funktionär von „legalisiertem Betrug“. Dieser äußert sich skeptisch, ob man das Problem flächendeckend in den Griff bekommen kann. Immerhin hätten Finanzämter manche Vereine durchleuchtet, „dann haben die Vereine vieles nicht mehr so gemacht wie zuvor“.

Dem Badischen Tagblatt und den Badischen Neuesten Nachrichten sagte ein noch aktiver Fußballer, der anonym bleiben will, dass er in einem Zeitraum von zehn Jahren eine erhebliche Summe verdient hat. „Es waren bisher sicher über 100.000 Euro, wahrscheinlich sogar noch etwas mehr.“ Seine fußballerischen Nebeneinkünfte hat er nie beim Finanzamt angemeldet.

Im Amateurfussball werden Spieler falsch als Jugendtrainer gemeldet

Dem Reutlinger General-Anzeiger sagte ein Funktionär, dass einzelne Vereine Spitzenspielern sogar schon in der Kreisliga A (9. Liga) Geld zahlen. In der Bezirksliga (8. Liga) gibt es dann immer weniger Vereine, die kein Geld zahlen. Ein noch aktiver Spieler erzählt, dass er in der Bezirksliga auf rund 150 Euro im Monat gekommen sei. Aus „steuerlichen“ Gründen waren alle Spieler als Jugendtrainer im Verein angemeldet, ohne diese Funktion tatsächlich auszuüben.

Es gibt Vereine, die bei der Bezahlung klare Grenzen definiert haben. „Wenn jemand bei uns kicken möchte, dann weil er Lust dazu hat und nicht, weil er Geld dafür bekommt“, sagt Remo Sahm, Trainer des Lübzer SV aus der Landesliga West in der Schweriner Volkszeitung. Lediglich ein Fahrtkosten-Aufwand für die auswärts Arbeitenden oder Studierenden komme laut Sahm in Lübz in Frage.

Ein Neuntliga-Spieler erhält noch auf dem Platz hunderte Euro

Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse berichten von einem Neuntliga-Spieler, der sich stets unmittelbar nach Abpfiff und noch auf dem Platz vom Manager des Vereins 250 Euro in bar übergeben lässt.

In der Märkischen Allgemeinen Zeitung spricht ein Vereinsvorstand offen darüber, wie sein Verein betrogen hat: „Wir haben lange Zeit den Spielern eine Übungsleiterentschädigung gezahlt, obwohl sie keine Übungsleiter bei uns waren – so wie es viele Vereine auch machen.“ Der Betrug flog auf, als ein Finanzbeamter die Namen der angeblichen Übungsleiter mit den Teamfotos der Jugendmannschaften verglich.

Sechsstellige Strafen in Hohenlohe

Das Hohenloher Lokalmagazin Gschwätz berichtet über zwei baden-württembergische Amateurvereine, die wegen dubioser Zahlungen im Visier der Behörden standen. In einem Fall ermittelte der Zoll gegen Spieler und Vereinsvertreter wegen Schwarzarbeit. Zwei Verantwortliche des Vereins und ein Spieler wurden zu auf Bewährung ausgesetzten Haftstrafen verurteilt. In einem anderen Fall musste ein Vorstand eines Amateurvereins eine Geldstrafe in Höhe von 100.000 Euro an gemeinnützige Einrichtungen bezahlen und Ansprüche bis zu 200.000 Euro an Berufsgenossenschaft, Rentenversicherung und Finanzamt nachzahlen.

In den Kieler Nachrichten warnt Tim Cassel, Präsident des Schleswig-Holsteinischen Fußballverbands, Vereine vor „erheblichen Folgen“, wenn sie unsauber arbeiten. „Wenn man seriös und langfristig erfolgreich einen Verein leiten will, geht das nur, wenn man das solide aufbaut.“

Link zum Originalartikel auf der Internetseite von CORRECTIV:

https://correctiv.org/aktuelles/wirtschaft/2022/01/19/bezahlung-im-amateurfussball-schwarzgeld-von-jaehrlich-bis-zu-500-millionen-euro/

Link zur ARD-Fernsehdokumentation „Milliardenspiel Amateurfußball“:

https://www.sportschau.de/fussball/video-ard-doku-milliardenspiel-amateurfussball—wenn-das-geld-im-umschlag-kommt–100.html

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„Keine Verhandlungen, mehr Waffen, mehr Widerstand“ – Deutschland: Dreht sich die Stimmung zu Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg?

Keine Verhandlungen – mehr Waffen – mehr Eskalation: Es wird immer offensichtlicher, dass sich die westliche Ukraine-Politik auf diese knappe Formel zusammenfassen lässt. Im Zentrum steht dabei die Lieferung schwerer Waffen, die für eine ukrainische Offensive zur Rückeroberung verlorener Gebiete gedacht sind.

Artikel von Jürgen Wagner, auf der Internetseite heise-online vom 7. Mai 2022 / Informationen zugesandt von Paul Michel aus Schwäbisch Hall

Deutschland wird Kriegspartei

Auch Deutschland wird insbesondere mit der nun beschlossenen Lieferung von Panzerhaubitzen immer mehr zur Kriegspartei. Doch je deutlicher sich die Konturen dieser überaus riskanten Stellvertreter-Strategie herauskristallisieren, desto stärker wandelt sich trotz medialer Dauermobilmachung die Stimmung in der Bevölkerung, die wenn sie vielleicht auch nicht komplett kippt, sich dennoch in jüngster Zeit deutlich verschiebt.
Keine Verhandlungen

Verhandlungslösung

Es lohnt noch einmal ein Blick zurück: Ende März 2022 waren die Medien voll mit Berichten, die Ukraine und Russland stünden kurz vor einer Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges. Beim Redaktionsnetzwerk Deutschland hieß es:

Russlands Krieg gegen die Ukraine könnte durch die Verhandlungen schneller beendet werden, als Beobachter bisher angenommen haben. […] Demnach gebe es einen ersten Entwurf des Waffenstillstandsdokuments, in dem einige der Forderungen Russlands aber fehlen. […] Russland [soll] in dem Dokument nicht mehr an seinen Forderungen festhalten, die Ukraine zu "entnazifizieren" und zu "entmilitarisieren". […]

Die Ukraine [soll] in den Gesprächen angeboten haben […], über die Zukunft der Krim Verhandlungen über einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren zu akzeptieren. […] Zudem sei die Ukraine angeblich bereit, einen neutralen Status zu akzeptieren, wenn es Sicherheitsgarantien verschiedener Staaten für den Fall eines erneuten russischen Angriffs geben sollte - darunter auch China.
Redaktionsnetzwerk Deutschland 

Annäherung

Selbst ein EU-Beitritt scheint wohl Gegenstand der Gespräche gewesen und von Russland akzeptiert worden zu sein. Kurz nach Abschluss der Istanbul-Verhandlungen wurde Moskaus Unterhändler Wladimir Medinski mit den Worten zitiert: „Die Russische Föderation hat keine Einwände gegen Bestrebungen der Ukraine, der Europäischen Union beizutreten.“ Was dann genau geschehen ist, wird, wenn überhaupt, wohl erst in vielen Jahren herauskommen. Unmittelbar nach der Annäherung bei den Verhandlungen mehrten sich jedenfalls schon skeptische Stimmen westlicher Regierungschefs, namentlich von Boris Johnson und Joseph Biden. Bereits am 5. April 2022 berichtete die Washington Post darüber, innerhalb der NA werde die Fortsetzung des Krieges gegenüber einer Verhandlungslösung derzeit präferiert (siehe: Schwere Waffen für die Ukraine: „Raus aus der Eskalationslogik“).

Am 7. April 2022 meldete sich dann Russlands Außenminister Sergej Lawrow mit der Aussage, es seien von ukrainischer Seite Änderungen an den Verhandlungsdokumenten vorgenommen worden, die eine Einigung erschweren würden. Anfang Mai 2022 wiederholte Lawrow diese Aussage erneut:

Wir haben den Gesprächen auf Ersuchen von Wolodymyr Selenskyj zugestimmt, und sie begannen, an Dynamik zu gewinnen. Im März wurden auf einem Verhandlungstreffen in Istanbul Vereinbarungen getroffen, die auf den öffentlichen Äußerungen von Wolodymyr Selenskyj beruhten. Er sagte, die Ukraine sei bereit, ein neutrales, blockfreies Land ohne Atomwaffen zu werden, wenn sie Sicherheitsgarantien erhalte.

Wir waren bereit, auf dieser Grundlage zu arbeiten, vorausgesetzt, das Abkommen würde vorsehen, dass die Sicherheitsgarantien nicht für die Krim und den Donbass gelten, wie die Ukrainer selbst vorgeschlagen hatten. Unmittelbar nach diesem Vorschlag, den sie unterzeichnet und uns übergeben haben, haben sie ihre Position geändert.

Westen will derzeit keine Verhandlungslösung

Vor diesem Hintergrund deuten die Indizien deutlich darauf hin, dass der Westen (oder zumindest die USA und eine Reihe weiterer Verbündeter) derzeit von einer Verhandlungslösung nichts wissen will – und dies der Ukraine auch signalisiert haben. Stattdessen soll die sich nun bietende Gelegenheit wohl genutzt werden, um Russland so weit als möglich zu schwächen. Dies wurde im Übrigen von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin nach seinem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski Ende April 2022 auch ganz offen als zentrales Ziel der USA so benannt. Erreicht wird dies, indem erst verhandelt werden soll, wenn die russischen Truppen militärisch vollständig aus der Ukraine vertrieben sind – also erst dann, sollten sie faktisch besiegt worden sein. Ende April äußerte sich beispielsweise die britische Außenministerin Liz Truss derart in einer Grundsatzrede namens „Die Geopolitik ist zurück“, der die britische Regierung auch extra eine deutsche Übersetzung spendierte:

Wir müssen unsere Unterstützung für die Ukraine deutlich ausbauen. […] Der Krieg in der Ukraine ist unser Krieg – er ist unser aller Krieg, denn der Sieg der Ukraine ist für uns alle eine strategische Notwendigkeit. Schwere Waffen, Panzer, Flugzeuge – wir greifen tief in unsere Waffenarsenale, fahren die Produktion hoch. Das alles ist notwendig. […] Wir werden noch schneller noch mehr tun, um Russland aus der gesamten Ukraine zu vertreiben.

Die „Logik“ schwerer Waffen

Die nun von immer mehr westlichen Staaten, unter anderem von Deutschland, beschlossene Lieferung schwerer Waffen passt zur westlichen Stellvertreter-Strategie. Denn die bisherige ukrainische Bewaffnung war zwar „geeignet“, um den russischen Vormarsch zu erschweren, aber für eine Rückeroberung verlorener Gebiete war sie weitgehend untauglich. Dafür braucht es schweres Gerät, das nun massenweise an die Ukraine geliefert wird – zusammen mit der wohl unmissverständlichen Forderung im Gepäck, in die Offensive zu gehen.

Katastrophaler Stellvertreter-Krieg

Das ist jedoch nichts anderes, als das Rezept für einen lang andauernden katastrophalen Stellvertreter-Krieg, wie etwa der Historiker Jörg Baberowski, der seit Jahren eher durch recht putinkritische Töne auffiel, recht unmissverständlich ausführte:

Ich habe Zweifel, ob es gelingen wird, durch die Lieferung schweren Kriegsgeräts an die Ukraine den Konflikt zu beenden. Putin wird sich nicht geschlagen geben, weil er sich eine Niederlage nicht leisten kann. Die Folgen eines langwierigen Zerstörungs- und Vernichtungskrieges werden für Russland und die Ukraine verheerend sein. […] Jetzt kommt es darauf an, einen neutralen Vermittler zu finden, der einen Frieden aushandelt, von dem beide Seiten einen Gewinn haben. Eine andere Lösung kann es gar nicht geben, wenn wir einen langen Zermürbungskrieg verhindern wollen.

Dennoch – oder wohl: gerade deswegen – nimmt die Lieferung schwerer Waffen immer weiter Fahrt auf. Allein die USA sollen seit Kriegsbeginn Waffen im Wert von 3,7 Milliarden US-Dollar an die Ukraine geliefert haben – doch das ist nichts gegenüber dem, was US-Präsident Joseph Biden erst kürzlich zusätzlich dazu beim Kongress beantragt hat:

Die US-Regierung rüstet die Ukraine im großen Stil auf, um das Land im Krieg gegen Russland zu unterstützen. Biden hatte […] angekündigt, den Kongress hierzu um die Bewilligung von weiteren 33 Milliarden US-Dollar (31,4 Milliarden Euro) zu bitten. 20 Milliarden davon sollen für Militärhilfe genutzt werden.
Berliner Zeitung 

50 Gepard-Flugabwehrpanzer bewilligt

Deutschland wiederum will den Großteil der Mitte April neu ausgelobten zwei Milliarden Euro für die „Ertüchtigung“ befreundeter Akteure für die Ukraine verwenden. Zwar berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland erst vor wenigen Tagen, aus einer Anfrage der Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen gehe hervor, der Wert deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine würde sich bislang „nur“ auf rund 190 Millionen Euro belaufen, allerdings dürfte dieser Wert mit der nun beschlossenen Lieferung schwerer Waffen schnell in die Höhe schießen.

Schon Ende April wurden 50 Gepard-Flugabwehrpanzer bewilligt, während es zunächst um die Lieferung von Panzerhaubitzen 2000 noch widersprüchliche Informationen gab (siehe Schickt Scholz Panzerhaubitzen der Bundeswehr in die Ukraine?). Am 6. Mai wurde dann aber auch über deren Bewilligung berichtet:

Deutschland will der Ukraine weitere schwere Waffen liefern: Nach Angaben von Verteidigungsministerin Lambrecht soll Kiew sieben Panzerhaubitzen vom Typ 2000 erhalten. Auch eine Ausbildung werde den ukrainischen Streitkräften angeboten.
Tagesschau 

Kriegsteilnahme

Damit droht Deutschland aber laut dem im Auftrag der Linken erstellten Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste: „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“ die Schwelle zur Kriegspartei zu überschreiten. Bei der bisherigen Unterstützung handele es sich um eine „Gratwanderung“, heißt es darin. Mit ihr seien „gravierende rechtliche und militärische Folgen verbunden – von einer geographischen Ausweitung des Konfliktgebietes bis hin zum (nuklearen) Eskalationspotential“.

Allerdings sei im Falle einer – beim Ukraine-Krieg eindeutigen – Verletzung des Gewaltverbots der UN-Charta „kein Staat mehr zur ‚Neutralität‘ gegenüber den Konfliktparteien verpflichtet“. Dabei wäre durch eine „militärische Unterstützung einer bestimmten Konfliktpartei in Form von Waffenlieferungen […] noch nicht die Grenze zur Konfliktteilnahme“ überschritten.

Allerdings legt das Gutachten nahe, dass durch die nun beschlossene, in Deutschland erfolgende Ausbildung ukrainischer Soldaten für den Gebrauch der Panzerhaubitze 2000 diese rote Linie wohl endgültig überquert werden könnte:

Wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die »Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.
Gutachten Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag 

Gefährlicheres Spiel mit dem Feuer

Zwar weist der militärnahe Blog Augen geradeaus richtigerweise darauf hin, dass sich diese Einschätzung nur auf eine Quelle beziehe, den zitierten Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger. Dennoch ist völlig klar, dass die Bundesregierung wie auch ihre Nato-Verbündeten ein immer gefährlicheres Spiel mit dem Feuer betreiben, dem ein immenses Eskalationspotential innewohnt.

Dreht sich die Stimmung?

Augenscheinlich nimmt die Zahl derer, die im Eskalationskurs des Westens und der Bundesregierung eine große Gefahr erblicken, an Zahl zu. Deutlichstes Beispiel hierfür war der von der Emma veröffentlichte und zunächst von 28 Intellektuellen und Künstler:innen unterzeichnete offene Brief an Olaf Scholz. In ihm wird sowohl vor dem „Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt“ und dem „Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“ gewarnt, die von der westlichen Stellvertreter-Strategie verursacht werden (siehe „Risiko einer Ausweitung des Krieges auf ganz Europa“).

Sorgen eines immer größeren Teils der Bevölkerung

Sofort wurde scharf gegen die Unterzeichner:innen geschossen, unter anderem mit einem von rund 50 Personen unterstützten offenen Brief des Zentrums für Liberale Moderne, das sich immer mehr als Bastion der Hardliner etabliert. Trotz aller Häme gegenüber dem – zugegebenermaßen teils nicht sonderlich elegant formulierten – Schreiben, das in der Emma veröffentlicht wurde, scheint es die Sorgen eines immer größeren Teils der Bevölkerung auf den Punkt gebracht zu haben. Den in eine Petition umgewandelten offenen Brief an Olaf Scholz haben inzwischen immerhin bereits rund 235.000 Menschen unterzeichnet.

Generell bestätigen jüngste Umfrageergebnissen, dass sich die Stimmung in Deutschland dreht – so berichtet das RTL/ntv-Trendbarometer am 3. Mai über seine jüngsten Befragungsergebnisse:

Hatten sich in der letzten Erhebung Anfang April noch 55 Prozent der Bundesbürger für eine Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät an die Ukraine durch Deutschland ausgesprochen, ist dieser Anteil im aktuellen RTL/ntv Trendbarometer auf 46 Prozent gesunken. Von 33 auf 44 Prozent gestiegen ist demgegenüber der Anteil der Bundesbürger, die sich generell gegen die Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät an die Ukraine aussprechen.
RTL/ntv Trendbarometer


Link zum Originalartikel auf der Internetseite von heise-online:

https://www.heise.de/tp/features/Keine-Verhandlungen-mehr-Waffen-mehr-Widerstand-7078407.html?seite=all
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