Neu in der deutschen Erinnerungskultur ist der Verband „Verleugnete Opfer des Nationalsozialismus“. Bei der Gründungsversammlung am 21. und 22. Januar 2023 in Nürnberg wurde Frank Nonnenmacher zum Vorsitzenden gewählt. Ines Eichmüller aus Nürnberg ist die stellvertretende Vorsitzende.
Vom Verband „Verleugnete Opfer des Nationalsozialismus“
Ohne jede Rechtsgrundlage in die KZ verschleppt
In einem zweitägigen Kongress am 21./22. Januar 2023 wurde in Nürnberg ein Verband für die „Erinnerung an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ gegründet. Zusammen kamen Menschen, deren Vorfahren von den Nazis als „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ ohne jede Rechtsgrundlage in die KZ verschleppt, dort geschunden und in großer Zahl ermordet wurden. Zum ersten Mal seit über 75 Jahren kamen Angehörige dieser in der deutschen Gesellschaft so lange verschwiegenen und diskriminierten NS-Opfergruppen zusammen. Im Mittelpunkt des Kongresses stand zunächst der Austausch über die jeweilige Verfolgungsgeschichte. Über bewegende Schicksale wurde berichtet und von den Teilnehmenden mit der jeweils eigenen Familiengeschichte verbunden. Manche Nachkommen redeten zum ersten Mal öffentlich.
„Diffamierung von Menschen als ‚asozial‘ knüpft an die Nazisprache an“
Es herrschte eine empathische, geschützte Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens. Aber dabei sollte es nicht stehen bleiben. Die Anwesenden beschlossen, einen Verband zu gründen, der in Zukunft eine aktive Stimme im erinnerungskulturellen Geschehen darstellen soll. Er will dafür Sorge tragen, dass alle bisher nicht wahrgenommenen Opfer des NS ein „geachteter Teil der deutschen Erinnerungskultur werden“. Ines Eichmüller (Nürnberg), die Zweite Vorsitzende des neuen Verbandes sagte: “Mit der Einführung des Begriffs ‚die Verleugneten‘ wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass eine aktuelle Diffamierung von Menschen als ‚asozial‘ an die Nazisprache anknüpft.“
Geplante Aktivitäten:
Der Verband wird Trägerinstitutionen der historisch-politischen Bildung, die sogenannte „Zweitzeugen“ suchen, zur Verfügung stehen. Er ist bereit mit anderen erinnerungspolitischen Institutionen und Initiativen zusammenzuarbeiten. Der Verband wird öffentlich dafür eintreten, dass die Bundesregierung den Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020 vollständig umsetzt, insbesondere dafür, dass die dort längst beschlossenen Forschungen, z. B. zur historischen Rolle der Verfolgungsinstanzen sowie zu den Biografien der Verfolgten, endlich einen konkreten Etat für die Finanzierung bekommen.
Es gibt einen Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2020
Frank Nonnenmacher (Frankfurt am Main), der 1. Vorsitzende, erklärte hierzu: „Es ist gut, dass es den Bundestagsbeschluss von 2020 gibt und damit auch die so lange Verleugneten als Opfer des Nationalsozialismus offiziell anerkannt sind. Erfreulich auch, dass alle Fraktionen (außer der AfD) ihm zugestimmt haben. Aber bis der Geist dieses Beschlusses im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen ist, ist noch viel zu tun.“ Schließlich tritt der Verband auch dafür ein, dass an geeigneter Stelle in Berlin ein zentrales Mahnmal für die jahrzehntelang diskriminierten und verleugneten Opfer des Nazisystems errichtet wird. Mitglied können laut verabschiedeter Satzung alle Personen werden, die die Menschenrechte achten und sich den Verbandszielen verpflichtet fühlt.
Grußworte von der IG-Metall, VVN-BdA und der SPD
Der frische gewählte Vorstand freut sich besonders über einige Grußworte, die zur Verbandgründung eingingen: IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans Urban hofft, dass der Verband „eine hörbare, ja unüberhörbare Stimme in der deutschen Erinnerungskultur wird.“
Der Bundesvorstand der VVN-BdA: „Wir wünschen Eurem Verband einen guten Start und Eurem Anliegen Erfolg und freuen uns auf eine produktive Zusammenarbeit.“
Bundestagsabgeordnete Marianne Schieder (SPD), eine der engagiertesten Politikerinnen bei den Diskussionen im Vorfeld des Bundestagsbeschlusses von 2020, schreibt: „In mir werden Sie immer eine politische Mitstreiterin finden.“
Weitere Informationen und Kontakt:
Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus – vorläufige Kontaktadresse:
E-Mail: fnoma@gmx.de
Frank Nonnenmacher ist
• emeritierter Professor für Politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt,
• Autor der Biografie seines Onkels, den die Nazis als „Berufsverbrecher“ im KZ „durch Arbeit vernichten“ wollten (Titel: „DU hattest es besser als ICH“),
• Initiator des erfolgreichen Appells an den Deutschen Bundestag zur Anerkennung der ignorierten NS-Opfer (siehe: change.org/vergessene-opfer) und
• war mehrfach als Experte im kulturpolitischen Ausschuss des Deutschen Bundestages eingeladen
Ines Eichmüller ist
• Politik- und Sozialwissenschaftlerin
• Projektmanagerin im Bereich Energie und Klima,
• Urenkelin eines KZ-Häftlings mit schwarzem Winkel und
• erinnerungskulturell engagierte Privatperson
Grußworte zur Verbandsgründung:
Grußwort Schieder:
GRUßWORT MARIANNE SCHIEDER MDB ZUR GRÜNDUNG DES VERBANDES FÜR DAS ERINNERN
AN DIE VERLEUGNETEN OPFER DES NATIONALSOZIALISMUS
Sehr geehrter Herr Professor Nonnenmacher,
sehr geehrte Frau Eichmüller,
liebe Gründungsmitglieder des Verbandes für das Erinnern an die verleugneten Opfer des
Nationalsozialismus,
sehr geehrte Damen und Herren,
herzlichen Dank, dass Sie sich in dieser herausragenden Weise für die Würde der Menschen
einsetzen, die von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verhöhnt und verfolgt wurden.
Herzlichen Dank ebenfalls für die Möglichkeit, ein Grußwort an Sie richten zu dürfen.
Als der Deutsche Bundestag im Februar 2020 beschloss, vergessene Opfergruppen des
Nationalsozialismus anzuerkennen, da war das ein erinnerungspolitischer Meilenstein. Endlich
erfolgte das staatliche Bekenntnis, dass niemand zurecht im KZ gewesen war. Dieser Grundsatz einte
alle Demokratinnen und Demokraten im Parlament und ich bin froh, dass wir dies gemeinsam
umsetzen konnten.
Dieser Beschluss wäre jedoch niemals ohne den leidenschaftlichen Einsatz persönlich betroffener
Menschen zustande gekommen, die diese Lücke in Gedenken und Aufarbeitung mit Nachdruck
anmahnten. Die darauf verwiesen, dass die Opfer weit über das Ende der nationalsozialistischen
Verbrechensherrschaft unter gesellschaftlicher Ausgrenzung und Ablehnung zu leiden hatten. Die
immer wieder von bewegenden Einzelschicksalen berichteten.
Ihnen allen bin ich sehr dankbar für die Unterstützung. Umso mehr freut es mich, dass Sie nun einen
Verband gründen, um die bisherigen Einzelaktivitäten unter einem geeinten Dach zu bündeln. Mit
Gründung dieses Verbandes schaffen Sie etwas, das bleibt und nicht mehr verschwindet: Eine
Interessengruppe und einen öffentlich wahrnehmbaren Akteur. Einen institutionalisierten
Ansprechpartner für Nachkommen wie auch Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik. Und einen
Ort, wo Menschen zusammenfinden können, deren Familiengeschichten einander gleichen.
Von Herzen wünsche ich Ihnen und dem Verband Erfolg und alles Gute. Die Anerkennung war ein
Anfang und nicht ein Abschluss. Die Politik muss dranbleiben, damit den Opfern Gerechtigkeit
widerfahren kann. Wir haben die Schaffung einer Wanderausstellung erreicht und müssen nun dafür
sorgen, dass die Verbrechen wie auch die Lebensgeschichten der Opfer aufgearbeitet werden. Ich bin
überzeugt, dass Ihr Verband dazu einen unschätzbaren Beitrag leisten wird. In mir werden Sie immer
eine politische Mitstreiterin finden.
Ihre Marianne Schieder
Grußwort des IG Metall Vorstands, Wilhelm-Leuschner-Straße 79, 60329 Frankfurt am Main:
An den
„Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“
Grußadresse anlässlich der Verbands-Gründung am 21./22. Januar 2023
Der Deutsche Bundestag hat am 13. Februar 2020 die Anerkennung der von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ genannten KZ-Häftlinge als Verfolgte des Naziregimes beschlossen. Das war überfällig. Es wäre gleichwohl naiv zu glauben, dass damit das Erinnern an diese Opfergruppe seinen Abschluss gefunden hätte. Die Beschlüsse des Bundestages zur Finanzierung der bislang ausgebliebenen Forschungen zu den Biografien dieser NS-Opfer und zur Rolle der Verfolgungsinstanzen sind noch nicht in Gang gesetzt. Die diskriminierende Rhetorik bei der Bezeichnung dieser Menschen, die im KZ mit einem grünen beziehungsweise schwarzen Winkel markiert wurden, ist immer noch üblich. Und in den Veranstaltungen zur Erinnerung an den Terror der Nazizeit werden diese NS-Opfer nach wie vor weitgehend ausgeblendet.
Die IG Metall versteht sich als gesellschaftliche Kraft, die Antifaschismus, Humanismus und Demokratie gleichermaßen verpflichtet ist. Das Gedenken an alle Opfer des deutschen Faschismus ist fester Bestandteil unseres Geschichte- und Gegenwartsverständnisses. Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet. Daher begrüße ich, dass sich zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgesellschaft – initiiert von Nachkommen dieser Opfer – ein „Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ gründet. Ich wünsche diesem Verband viel Erfolg und vor allem, dass er eine hörbare, ja unüberhörbare Stimme in der deutschen Erinnerungskultur wird.
Mit solidarischen Grüßen
Dr. Hans-Jürgen Urban, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall
Weitere Informationen im Internet über die Verbandsgründung:
https://www.sonntagsblatt.de/artikel/gesellschaft/verband-will-auf-verleugnete-opfer-der-ns-herrschaft-aufmerksam-machen
„Aus dem Raster gefallen“ – Über verleugnete NS-Opfer. Ein antifaschistische-Gespräch mit Frank Nonnenmacher
Aus dem Raster gefallen
antifa: Du hast schon in der antifa-Ausgabe Mai/Juni 2022 mit einem auch sehr persönlichen Beitrag über die NS-Verfolgten mit grünem und schwarzem Winkel geschrieben, also die von den Nationalsozialisten als »Berufsverbrecher« und »Asoziale« Stigmatisierten und Verfolgten. Gib doch bitte unseren Leserinnen und Lesern einen Einblick in deinen persönlichen und familiären Bezug zum Thema.
Frank Nonnenmacher: Während mein Vater Gustav für Hitlers Luftwaffe flog, war sein Halbbruder Ernst im KZ. Dieser hatte aus materieller Not kleinkriminelle Delikte begangen und seine Haftstrafen vollständig abgesessen.1 Ernst fühlte sich als Opfer der Aussortierungsmaschine »Kapitalismus« und als Teil des Proletariats, als »Kommunist«, ohne Parteimitglied zu sein. Die Differenz im Lebenslauf der Brüder hat später zu dramatischen innerfamiliären Diskussionen geführt. Durch Forschungen zu solchen Biografien habe ich gelernt, dass Delinquenz und Kriminalität eher eine Folge der Klassenlage als der persönlichen Moral sind. Warum schlafen die Reichen nicht unter den Brücken, betteln nicht und stehlen kein Brot? Die Antwort auf diese Frage, die Anatol France schon vor über hundert Jahren gestellt hat, ist heute so aufschlussreich wie damals. Nur stellt sie kaum jemand, und die Diskriminierung derer, die aus dem bürgerlichen Raster fallen, ist immer noch allgegenwärtig.
antifa: Ab und an wird, wenn einmal von sogenannten Berufsverbrechern bzw. Asozialen die Rede ist, von den »vergessenen Opfergruppen« gesprochen. Was ist damit gemeint, und welche Hintergründe siehst du?
Frank Nonnenmacher zum geplanten neuen Verband: »Im Moment suchen wir Menschen, die Angehörige der verleugneten NS-Opfer sind. Mit diesen zusammen wollen wir einen Verband gründen. Die Gründung des Verbands wird am 21./22. Januar 2023 in Nürnberg stattfinden. Wir werden dann über Details informieren. An Adressen ist schwer heranzukommen. Deshalb die Bitte: Wenn unter den Leserinnen und Lesern der antifa Nachkommen, Verwandte oder Angehörige der »Verleugneten« sind, bitte ich diese, an fnoma@gmx.de zu schreiben.«
Frank Nonnenmacher zum geplanten neuen Verband: »Im Moment suchen wir Menschen, die Angehörige der verleugneten NS-Opfer sind. Mit diesen zusammen wollen wir einen Verband gründen. Die Gründung des Verbands wird am 21./22. Januar 2023 in Nürnberg stattfinden. Wir werden dann über Details informieren. An Adressen ist schwer heranzukommen. Deshalb die Bitte: Wenn unter den Leserinnen und Lesern der antifa Nachkommen, Verwandte oder Angehörige der »Verleugneten« sind, bitte ich diese, an fnoma@gmx.de zu schreiben.«
F.N.: In den ersten Jahrzehnten nach 1945 sprach man nur von »politisch, religiös, rassisch oder weltanschaulich Verfolgten«. Sie wurden im BEG (Bundesentschädigungsgesetz) als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Andere, wie Sinti und Roma oder Homosexuelle, mussten beschämend lange kämpfen, bis sie anerkannt wurden. Die von den Nazis »Asoziale« und »Berufsverbrecher« genannten Menschen wurden weiterhin diskriminiert, sogar von den Verfolgtenverbänden ausgeschlossen. Ihnen wurden genetische Defekte unterstellt, weshalb sie einem »Trieb« zur Wanderschaft, Nicht-Sesshaftigkeit oder zur Kriminalität folgen würden. Dieses Menschenbild gab es schon vor den Nazis, und es gibt es bis heute. Die Nazis haben es auf die Spitze getrieben und wollten Delinquenz abschaffen, indem sie die so definierten Menschen »ausmerzen« und »vernichten« wollten. Das schafften sie auch in Zehntausenden von Fällen. Diese NS-Opfer wurden also nicht »vergessen«, son-dern bewusst ignoriert, weiterhin diskriminiert und verschwiegen. Das Schweigen herrschte nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Familien, in der Forschung, in der Erinnerungskultur. Ich finde inzwischen, sie sind die immer noch verleugneten Opfer des NS-Staats, und ich plädiere dafür, sie in Zukunft so zu benennen: Die Verleugneten. Der Ausdruck signalisiert die Art des Umgangs mit diesen KZ-Opfern.
antifa: Du bist gerade dabei, mit anderen eine neue Gruppe ins Leben zu rufen. Was verbindet euch, und warum dieser Schritt gerade jetzt?
Quelle: Beweise für die Nachwelt. Die Zeichnung des Dachau-Überlebenden Georg Tauber, Metropol-Verlag, Berlin 2018, S. 119
Quelle: Beweise für die Nachwelt. Die Zeichnung des Dachau-Überlebenden Georg Tauber, Metropol-Verlag, Berlin 2018, S. 119
F.N.: Uns verbindet, dass wir Nachkommen und Angehörige von Menschen sind, die zu den bis heute verleugneten NS-Opfern gehören. Uns verbindet das Bedürfnis, durch den Austausch mit anderen Nachfahren das innerfamiliäre Schweigen zu beenden. Uns verbindet das Bedauern, dass auch die Verbände der politisch Verfolgten an der Diskriminierung lange mitgewirkt haben. Das beschreiben zum Beispiel Christa Schikorra in »Kontinuitäten der Ausgrenzung« (Berlin 2001), Christa Paul (»Frühe Weichenstellungen« in: »Opfer als Akteure«, Frankfurt am Main 2008, S. 67 ff.) oder Wolfgang Ayaß in: »Ausgegrenzt. ›Asoziale‹ und ›Kriminelle‹ im nationalsozialistischen Lagersystem« (Bremen 2016, S. 16 ff.). Uns berührt noch heute das nebenstehende Bild des Malers Georg Tauber, eines »grünen« Dachau-Häftlings. Es ist ein Appell an die politisch Verfolgten, sie nicht zu vergessen, sie nicht auszugrenzen. Der Appell wurde nicht gehört. Auch der Versuch Georg Taubers, 1946 eine Verfolgtenzeitschrift unter dem Titel Die Vergessenen zu gründen, wurde sehr schnell wieder aufgegeben. Uns verbindet auch die Erfahrung, dass sich niemand für die vollständige Umsetzung aller Punkte des Bundestagsbeschlusses von 2020 einsetzt, ebenso wenig für die Einbeziehung der verleugneten NS-Opfer in das erinnerungskulturelle Gedenken der Republik, wenn wir es nicht tun.
Das Gespräch führte Andreas Siegmund-Schultze
1 Die beiden Biografien lassen sich nachlesen in Frank Nonnenmacher: DU hattest es besser als ICH: Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. Westarp, Bad Homburg 2015, 352 Seiten, 19,80 Euro