Eines vorweg: Ich bin kein Gegner des Lockdowns. Im Gegenteil: Durch konsequente Lockdowns wurde in Australien und Neuseeland erreicht, dass die Zahl der Corona Infektionen drastisch abgesenkt wurde. Ich bin der Meinung, dass der Lockdown nicht konsequent betrieben wird, weil er einen wichtigen Teil der Gesellschaft weitgehend außen vor lässt: Die Arbeitswelt.
Kommentar von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Trotz Lockdown: Wo stecken sich die Menschen an?
Als nach dem Sommer die Infektionszahlen wieder stiegen, wurde der Eindruck erweckt, junge Menschen, die verantwortungslos Party feiern, seien die Schuldigen für diesen Anstieg. Wenig später wurde dieses Bild noch ergänzt um “ausufernde” Familienfeiern und “maßlose” private Treffen (hier gern mit sozialer Abwertung: Garagenpartys) als hauptsächliche Treiber der pandemischen Dynamik. Entsprechend nehmen sich fast alle Maßnahmen den privaten Bereich vor: Alkoholverbot, Schließung von Nachtlokalen, Sperrstunden, Einschränkungen von Familienfeiern, später dann diverse “Lockdowns (light)”.
(Laut-)stärkste Interessengruppe
Um nicht missverstanden zu werden: Ja, es kommt aktuell auch auf individuelles Verhalten an: auf Abstand halten, auf Hygieneregeln, auf Kontaktreduzierung im Alltag. Irritierend aber ist: Bisher ist bei der Identifizierung möglicher Infektionsherde das verarbeitende Gewerbe, also vor allem die Industrie ein absolutes Tabu. Dass dem so ist, hat wohl damit zu tun: Das Lager der Unternehmer ist die (laut-)stärkste Interessengruppe in der Gesellschaft. Das zeigt Wirkung. Die Haltung des politischen Führungspersonals und der tonangebenden Medien brachte Wirtschaftsminister Peter Altmaier im November 2020 anlässlich einer Diskussion um strengere Auflagen für die Bereitstellung von Home-Office-Arbeitsplätzen auf den Punkt: „Arbeit im Homeoffice muss Sache der Firmen und ihrer Mitarbeiter bleiben.“
Corona- Infektionen in den Betrieben – ein Tabu
Dementsprechend ist jegliche Diskussion über die Zustände in der Arbeitswelt tabu. Es gibt so gut wie keine Untersuchungen dazu, welchen Anteil Infektionen, die am Arbeitsplatz weitergereicht werden, am gesamten Infektionsgeschehen haben. Corona-Ausbrüche in Betrieben werden überaus diskret behandelt und nach Möglichkeit vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Dabei gab es durchaus eine Reihe von Corona-Infektionen in Betrieben. Und zwar nicht nur in der Fleisch verarbeitenden Industrie. Im Logistikzentrum von Amazon in Garbsen bei Hannover haben sich 250 MitarbeiterInnen mit dem Coronavirus infiziert. Die Gewerkschaft Verdi geht von mehreren hundert Kolleginnen und Kollegen aus, die sich bei der Arbeit in den Lagerhallen mit COVID-19 infiziert hätten. Auch 61 der rund 250 Beschäftigten im Amazon-Verteilerlager in Bayreuth haben sich infiziert. Das gab das örtliche Landratsamt bekannt. Das Landratsamt verfügt aber nur über Informationen zu Mitarbeitern, die in Stadt und Landkreis Bayreuth leben. Ob darüber hinaus überhaupt weitere Amazon-Angestellte des Standorts in Oberfranken positiv getestet wurden, blieb offen. Offenbar war das für das örtliche Gesundheitsamt kein Grund genauer hinzusehen. Die Presse meldete: „Der Online-Händler selbst macht – unter Verweis auf den Datenschutz – keine Angaben zur Anzahl seiner infizierten Angestellten.“
Ein absoluter Skandal, aber kaum jemand regt sich auf!
Auch bei Audi in Neckarsulm kam es zu Infektionen von Mitarbeitern. In der Rhein-Neckar-Zeitung (RNZ) war am 5. Januar 2021 zu lesen: „Nach Informationen, die der RNZ aus Mitarbeiterkreisen vorliegen, sollen sich vor allem Angestellte aus der Fertigung mit dem Virus infiziert haben.“ Diese Meldung schaffte es aber nicht in die überregionalen Medien. Warum wohl? Ein Schuft, der Böses dabei denkt!?
Mein Name ist Hase….
Es ist kein Zufall, dass es zum Infektionsgeschehen am Arbeitsplatz kaum belastbare Daten gibt. Kein Wunder, die Gesundheitsämter verzichten darauf, die erforderlichen Daten zu erheben. Die »Augsburger Allgemeine“ berichtet: Das Gesundheitsamt wird gemäß den bestehenden Regelungen nur über Betroffene informiert, die im Landkreis leben. Fragt man die Behörden nach der Zahl von infizierten oder in Quarantäne befindlichen Beschäftigten in verschiedenen Branchen, bekommt man etwa vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit die Auskunft: »Die Gesundheitsämter sind gehalten, möglichst detailliert bekannte Infektionsquellen an uns zu übermitteln. Die Angabe des Berufs ist nach Infektionsschutzgesetz jedoch nicht vorgesehen. Anlässlich von Corona Infektionen Logistikzentrum Graben bei Augsburg sagte die Verdi-Sekretärin Sylwia Lech: « Das Einzugsgebiet der Amazon-Beschäftigten reiche »vom Allgäu bis nach München«. Die Mitarbeiter würden von unterschiedlichen Ämtern abgedeckt, ein Corona-Hotspot falle deshalb nicht sofort auf. »Die Gesundheitsämter müssten landkreisübergreifend besser zusammenarbeiten«, fordert sie.
Genauer hinschauen
Ohne die systematische Erfassung von Branche oder Beruf fällt es aber schwer, bei Infektionen irgendwo Häufungen zu erkennen. Damit wäre zwar immer noch nicht klar, ob sich jemand tatsächlich am Arbeitsplatz angesteckt hat, aber es wäre ein Anhaltspunkt, um genauer hinzuschauen. Bei Einrichtungen, die »für den Infektionsschutz relevant« sind, wie Altenheime, Sammelunterkünfte, Krankenhäuser oder Schulen gibt es Meldevorgaben – und entsprechend Daten und eine öffentliche Debatte. Warum soll das nicht auch für alle Bereiche möglich sein? In Slowenien ist das der Fall. Hier veröffentlicht das Nationale Institut für öffentliche Gesundheit regelmäßig Daten zu Infektionsorten. Ende November 2020 lag hierbei der Arbeitsplatz mit 25 Prozent vor dem privaten Haushalt mit 23 Prozent Anteil am Infektionsgeschehen (siehe https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-wirtschaft-ist-sicher).
Höchstes Risiko bei Industrie-Beschäftigten in Leiharbeit
Die wenigen punktuellen Untersuchungen, die es in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gibt, zeigen, dass aus den Betrieben durchaus Gefahr droht. Eine Studie der Krankenkasse Barmer, die im vergangenen Jahr untersuchte, in welchen Berufen das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, am höchsten ist, kam zu dem Ergebnis: „Das höchste Risiko wurde unter den Beschäftigten in Leiharbeit im industriellen Bereich sowie in der Post- und Logistikbranche beobachtet“. Zudem sei zu befürchten, so die Autoren weiter, „dass es in dieser Gruppe weitere Erkrankungsfälle gab, die jedoch aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes nicht zu einem Arztbesuch führten“. Jörg Boewe nennt im „Freitag“ eine interne Studie, über die in den anderen Medien allerdings nicht berichtet wird. Darin geht es um ein großes Automobilwerk, zu dem eine interne Auswertung vorliegt. Diese listet für Ende November 2020 „aktive Fälle“ – das entspricht 0,41 Prozent der insgesamt 17.000 Beschäftigten am Standort. Handelt es sich dabei vielleicht um Audi Neckarsulm?
Kontrolle? Fehlanzeige!
In der Bundesrepublik gibt es zwar Auflagen zur Einhaltung von Corona-Schutzmaßnahmen in den Betrieben. Staatliche Kontrollen der Gewerbeaufsichtsämter zur Umsetzung des Infektionsschutzes finden in Betrieben kaum statt. Drei Jahrzehnte Neoliberalismus haben ihre Spuren hinterlassen. Eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Jutta Krellmann (Die Linke) im Sommer 2020 ergab: Die Anzahl der Betriebsbesichtigungen hat sich zwischen 2008 und 2018 halbiert: Wurden Betriebe damals im Schnitt noch alle 11,8 Jahre überprüft, gab es 2018 Kontrollen nur noch alle 25 Jahre. Selbst da, wo Mitarbeiter der Behörden willens wären, solche Kontrollen durchzuführen – sie sind dazu nicht in der Lage. Mehrere leitende Mitarbeiter aus Behörden in drei Bundesländern sagten „BuzzFeed News“ (https://www.buzzfeed.de/buzz/gefaehrliche-arbeitsplaetze-werden-in-der-corona-krise-extrem-selten-kontrolliert-90142878.html) in den vergangenen Wochen, dass die Anzahl der Kontrollen in den vergangenen Wochen massiv zurückgegangen sei. „Ich hätte große Lust, bei Amazon eine Begehung zu machen“, sagt ein leitender Arbeitsschützer, der dafür zuständig ist, Beamten bei solchen Betriebskontrollen anzuleiten. „Aber personell ist das im Moment nicht möglich.“
Systematisches Nicht-Wissen-Wollen
Angesichts solch haarsträubender Untätigkeit der Behörden bei der Nachverfolgung von Corona-Infektionen in den Betrieben drängt sich der Verdacht auf, dass es sich von Seiten der Behörden und der politischen Verantwortlichen um ein systematisches Nicht-Wissen-Wollen handelt. Es wird Zeit, dass diese Gefälligkeitspolitik gegenüber dem Unternehmerlager endlich Thema öffentlicher Debatten wird.