Was sich seit dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs über der Ostukraine abspielt ist bizzarr. Angesichts des Missverhältnisses zwischen bekannten Fakten und der von westlichen politischem Führungspersonal und deutschen Leitmedien verkündeten Version der Verhältnisse, glaubt „mensch“ im falschen Film zu sitzen.
Leserbrief von Paul Michel, Schwäbisch Hall
US-Geheimdienste und nationalistische Regierung
Schon unmittelbar nach dem Abschuss von MH17 über der Ostukraine stand für jene Kreise im Westen, die die veröffentlichte Meinung bestimmen fest: Putin war’s! Als Kronzeugen wurden US-Geheimdienste und natürlich die nationalistische ukrainische Regierung in Kiew bemüht.
Keine „smoking gun“
Der von der amerikanischen Regierung in den ersten Tagen großspurig angekündigte Geheimdienstbeweis dafür, dass Putin für den Abschuss verantwortlich sei, erwies sich alsbald als klassischer Fall eines Rohrkrepierers. Auf einer Pressekonferenz mussten die US- Geheimdienstler kleinlaut einräumen, dass sie über keinen „Nachweis“ für die Verstrickung Russlands in den Abschuss von MH17, sondern lediglich über „Vermutungen“ verfügten – worauf selbst die nachhaltig Putinfeindliche Spätausgabe der „Tagesschau“ hämisch feststellte, dass das ja wohl keineswegs die angekündigte „smoking gun“ gewesen sei.
Fälschungen
Zwei weitere, vom ukrainischen Geheimdienst SBU in die Welt gesetzte Beweise (ein Tonmitschnitt und eine Videoaufnahme), die beweisen sollten, dass das malaysische Passagierflugzeug von den Separatisten des Donbass mit Hilfe einer aus Russland gelieferten Flugabwehrrakete des Typs Buk M abgeschossen worden sei, erwiesen sich als Fälschungen. 1).
Lügenpropaganda und Heuchelei
Man sollte annehmen, dass nun nach solch eigentlich peinlichen öffentlichen Entlarvungen von Falschaussagen und Fälschungen die lautstarke Propaganda zurückgefahren wird, zugunsten einer ernsthaften Recherche nach Fakten.
Kampagne gegen Putin
Aber nichts dergleichen passierte. Westliche Politiker setzten ihre Kampagne gegen Putin in der bisherigen Intensität fort. Lediglich der Schwerpunkt änderte sich etwas. Nun hagelte es Berichte, wonach die Rebellen die Untersuchungen rund um die Absturzstelle behinderten. Im gleichen Atemzug wurde Putin angegriffen, weil er die Rebellen nicht zur Räson bringe.
Kampfhandlungen einstellen
Westliche Spitzenpolitiker dachten ihrerseits nicht daran, von ihren Verbündeten, der ukrainischen Regierung in Kiew, dasselbe einzufordern wie von Putin: Nämlich ihrerseits endlich die Kampfhandlungen einzustellen, damit die internationalen Spezialisten ihre Untersuchungen aufnehmen können. Der frisch gewählte ukrainische Präsident Poroschenko hatte zunächst noch erklärt, man wolle von nun an bei den eigenen Militäraktionen einen 40 Kilometer-Abstand zur Absturzzone einhalten. Am Wochenende 27./28.Juli 2014 aber wurde bekannt, dass offenbar jetzt das ukrainische Militär beschlossen hatte, das Absturzgebiet zur Kampfzone zu machen.
Noch nicht geborgene Leichenteile
Die Kiewer Regierung erklärte, dass man dazu übergegangen sei, das Absturzgebiet unter die eigene militärische Kontrolle zu bringen. Was das bedeutet, dürfte auch für Laien klar sein: Wenn im Absturzgebiet mit Artillerie und Panzerkanonen geschossen wird, so werden sowohl die im weiten Gelände verstreuten Teile des Flugzeugwracks wie auch die immer noch im Gelände befindlichen noch nicht geborgenen Leichenteile der Opfer des Absturzes in Mitleidenschaft gezogen. 2) Klar ist, dass eine Untersuchung der Abschussursachen nicht mehr möglich ist, wenn potentielle Beweise tagelangem heftigen Artilleriebeschuss ausgesetzt sind.
Kein öffentliches Wort der Kritik
Angesichts dieses Vorgehens der Kiewer Regierung, sollte mensch davon ausgehen, dass spätestens jetzt im Westen ein Sturm der Empörung über das Vorgehen der Kiewer Regierung ausbrechen würde. Aber: weit gefehlt. Die Mehrzahl der Politiker und dieselben Medien, die sich in den Tagen nach dem Abschuss theatralisch darüber empört hatten, dass Kämpfer der Aufständischen im Absturzgelände sich unsachgemäß verhalten und gegenüber den Toten nicht das nötige Taktgefühl an den Tag gelegt hätten, verloren über das unglaubliche Verhalten der Kiewer Regierung kein öffentliches Wort der Kritik! Über die wenigen Politiker, die hier zumindest Bedenken äußerten, berichteten die Leitmedien nicht. 1)
Neue Sanktionen gegen Russland
Man „übersah“ die Ausweitung der Kriegszone seitens der Kiewer Regierung und machte mit dem weiter, was man schon vorher getan hatte: Putin an den Pranger stellen. Es zeigte sich, dass das unverminderte Propagandatrommelfeuer ein konkretes Ziel hatte: Es wurde damit publizistisch eine neue Eskalationsstufe bei den Sanktionen gegen Russland vorbereitet.
EU-Bürger dürfen keine russischen Anleihen mehr kaufen
Am 29. Juli 2014, nach einer Telefonkonferenz zwischen Merkel und Obama wurde dann die Stufe drei der Sanktionen gezündet. Künftig dürfen keine Rüstungsgüter zwischen Russland und der EU gehandelt oder Produkte zur zivilen wie auch militärischen Verwendung nach Russland exportiert werden. Ein Exportstopp gilt auch für Hochtechnologie-Geräte, vor allem im Bereich der Ölförderung. Ausgenommen sind ausdrücklich aber Produkte für die Erdgasförderung. Zentral zielen die Sanktionen auf den Finanzsektor ab. Russische Banken, die vom Staat kontrolliert werden, dürfen keine neuen Wertpapiere in der EU mehr verkaufen. Es kommt ein Handelsverbot für neue Anleihen und EU-Bürger dürfen fortan keine russischen Anleihen mehr kaufen. Die Banken sollen nicht mehr in der Lage sein, die russische Wirtschaft zu finanzieren.
Viertgrößter Exportmarkt für deutsche Maschinenbauer
Deutsche Unternehmen dürfte besonders hart treffen, dass keine Dual-Use-Güter mehr geliefert werden können. Das trifft viele Maschinenbauer, deren Produkte häufig in diese Kategorie fallen, weil sie sowohl zivil, als auch militärisch genutzt werden können. Russland ist der viertgrößte Exportmarkt für die deutschen Maschinenbauer. Daher rechnet der VDMA mit gravierenden Auswirkungen auf die gesamte Maschinenbaukonjunktur. Schon bis Ende Mai gab es im Russlandgeschäft der Maschinenbauer einen Rückgang um 19,5 Prozent. „Das dicke Ende kommt erst noch“, sagt der VDMA-Chefvolkswirt Ralf Wiechers. Laut Eckhard Cordes, Vorsitzender des Ostausschusses der Wirtschaft, sind mindestens 25.000 Arbeitsplätze in Gefahr. Zeitungskommentare dazu sind aufschlussreich: „Unvermeidbar, aber bitter“ kommentiert Dieter Keller in der Südwestpresse Ulm und schreibt weiter: „Gut, dass sich die Spitzenvertreter der Wirtschaft ausdrücklich zum Primat der Politik bekennen und der Bundesregierung Lob für ihr Krisenmanagement zollen.“
Rasche politische Lösung des Ukraine-Konflikts angemahnt
Damit benennt der Kommentator einen weiteren möglichen Grund für das publizistische Trommelfeuer der zweiten Julihälfte: Jene bislang noch widerspenstigen Teile der Bourgeoisie, vor allem jene Unternehmer, die im Russlandgeschäft bisher saftige Gewinne eingefahren haben, sollten auf Linie gebracht werden. Weil sie zu Recht von den Sanktionen einen Einbruch bei ihren einträglichen Geschäften befürchten, hatten Spitzen-Repräsentanten der Wirtschaft über Monate hinweg vor neuen Sanktionen gegen Russland gewarnt und eine rasche politische Lösung des Ukraine-Konflikts angemahnt. Damit ist jetzt Schluss.
Mittelständler stehen geistig stramm
Es ist wohl kein Zufall, dass der Verkündigung der Stufe Drei der Sanktionen, ein öffentliches Ergebenheitsbekenntnis des Cheflobbyisten jener Firmen, die bei Geschäften mit Russland dicke Profite einstreichen, voranging. Ein paar Tage vor Verkündung der Sanktionen, als öffentlich noch niemand von neuen Sanktionen redete, war Eckhard Cordes, der Vorsitzende des Ostausschusses der Wirtschaft, vor die Mikrofone getreten und ließ wissen, dass von nun an auch seine Zunft, wenn auch mit Schmerzen, ihrer staatbürgerlichen Verantwortung gerecht werden und von nun an Sanktionen mittragen wolle. Inzwischen ist das offenbar ein integraler Textbaustein in den öffentlichen Erklärungen der Exportwirtschaft. Pflichtschuldigst erklärt jetzt auch der VDMA: „Das Primat der Politik steht außer Frage, die Notwendigkeit, eine deutliches Stopp zu zeigen, auch“. Selbst Mittelständler haben offenbar die Lektion gelernt und stehen geistig stramm. Ein baden-württembergischer Mittelständler, der vor den Kameras des SWR über zu befürchtende Einbußen im Russlandgeschäft klagt, fügte sofort devot staatstragend hinzu, dass es für ihn neben dem Gewinn selbstverständlich noch „andere Werte“ gebe. „Umsatz um jeden Preis – das ist auch nicht unsere Devise. Da stehen schon unsere Werte dagegen.“
Kurs auf Eskalation
Die Führungsstaaten der NATO scheinen entschlossen, den gegenüber Russland eingeschlagenen Eskalationskurs weiter zu führen. Verschiedene Experten deuten an, dass die jetzigen Sanktionen nur der Anfang sind. Offenbar gibt es in den Eliten der NATO-Staaten bedeutende Teile, die darauf setzen, dass eine Eskalation in Richtung Wirtschaftskrieg gegen Russland in den Kreisen der russischen Bourgeoisie zu Unruhe und möglicherweise zu einem Abrücken von Putin führen könnte. Laut SPIEGEL sieht der Bundesnachrichtendienst bereits Anzeichen „für ein nervöses Machtgerangel in Moskau“. Jetzt würden sich Brüche im Machtblock Putins zeigen, berichtet BND-Chef Gerhard Schindler. Es sei durchaus möglich, dass einige der wegen der Sanktionen besorgten Oligarchen wirtschaftlich über politische Interessen stellten und Putin zu bremsen versuchten. Einiges deutet darauf hin, dass sich diese „Falken“ gegenüber den pragmatischen Geschäftemachern durchgesetzt haben.
Primat der Machtpolitik
Für das politische Führungspersonal gilt im Umgang mit Russland jetzt offenbar ohne Einschränkung der Primat der Machtpolitik. Verhandlungen mit dem Ziel der Konfliktlösung sind für die herrschende Elite offenbar mega-out, angesagt ist das Zur-Schaustellen von Macht, Superman-Gehabe und der Aufbau von Drohpotentialen. Momentan tobt sich das (noch) auf dem Feld der wirtschaftlichen Erpressung aus. Aus historischen Erfahrungen wissen wir, dass solche Prozesse ihre eigene Dynamik bekommen können….
Leidtragende der imperialen Anmaßungen
Klar ist, dass damit keine der bestehenden Probleme gelöst werden. Die von Obama und Merkel mit den neuen Sanktionen in Gang gesetzte „neue Ostpolitik“ setzt unverkennbar auf Konfrontation, statt auf Kooperation. Die jüngste Medienkampagne hat auch den Ton in der innenpolitischen Debatte deutlich verschärft. Das was früher der „Vaterlandsverräter“ war, wird jetzt der „Putin-Freund“. Neu ist auch, dass jetzt zumindest Teile der Lohnabhängigen in diesem Land unmittelbar zu Leidtragenden der imperialen Anmaßungen der politischen Eliten werden, indem sie verstärkt mit Arbeitslosigkeit für die Ambitionen der sich im Machttaumel sulenden Eliten zahlen.
Höchste Zeit, dass die sozialen Bewegungen – und natürlich die Gewerkschaften in die Gänge kommen!
Anmerkungen:
Falsche Zeit
1) Zwar stammen die auf dem Tonband zu hörenden Stimmen von denselben Personen, allerdings sind zwei zu unterschiedlicher Zeit geführte Gespräche der beiden Milizionäre zu einem neuen zusammengeschnitten worden. Im ersten Gespräch freuen sich die Volksmilizionäre über den erfolgreichen Abschuß einer AN-26 des ukrainischen Militärs einige Tage vor dem Vorfall mit der MH 17, und im zweiten am Tag des Absturzes der malaysischen Zivilmaschine zeigen sie sich von der Tragödie sichtbar betroffen. Geschickt zusammenmontiert ergeben beide Sequenzen jedoch ein vermeintliches Schuldeingeständnis für den Abschuss von MH-17. Das war leicht aufzudecken, da die Aufnahme zwischen dem ersten Teil der Unterhaltung und dem zweiten einen Bruch in der Zeitkodierung aufweist.
Falscher Ort
Der als zweiter Beweis gehandelte Videoclip zeigte vermutlich ein Transportfahrzeug der Volksmiliz, auf dem Buk-Raketen montiert sind. Angeblich ist darauf zu sehen, wie die Volksmiliz nach dem Abschuss von MH 17 ihre Buk-Raketen über die Grenze »zurück« nach Russland schafft. Tatsächlich wurde das vom Putschregime verbreitete Video weit entfernt von der russischen Grenze, tief in dem von den Kiewer Machthabern kontrollierten Gebiet aufgenommen.
Baustofflager in Krasnoarmeisk
Die erste Szene des Clips zeigt links vor dem Raketentransporter am Straßenrand ein halb von Büschen verdecktes Plakat mit Reklame für einen lokalen Autohändler in Krasnoarmeisk (»Krasnoarmiysk« auf Ukrainisch), ein Ort, der 120 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, in einem Gebiet, das seit Mai 2014 vom Regime in Kiew kontrolliert wird. Zudem wurde das Konstrukt im Bildhintergrund, das sichtbar wird, sobald der Transporter sich bewegt, als ein Baustofflager in der Gorki-Straße von Krasnoarmeisk identifiziert. Statt einfach die Bilder der eigenen Luftüberwachung vorzulegen, greift der Westen lieber zu solch fabrizierten »Beweisen«.
Bis zu 80 Leichen noch nicht geborgen
2) Nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ vom 31. Juli 2014 sind bis zu 80 Leichen noch nicht geborgen.
Humanitäre Arbeit ermöglichen
3) Der holländische Ministerpräsident Rutte forderte immerhin den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko auf, die Gefechte zu stoppen, um die humanitäre Arbeit zu ermöglichen, teilte ein Regierungssprecher in Den Haag mit. Kostbare Zeit gehe verloren, sagte Rutte nach den Worten des Sprechers. Bereits am Montag hatte die deutsche Bundesregierung gefordert, die Kämpfe in der Region zu stoppen. Dabei sei auch die Regierung in Kiew gefragt, sich beim Vorgehen gegen die Separatisten zurückzuhalten, sagte eine Regierungssprecherin in Berlin. Das alles war aber kein Thema für die Schlagzeilen.