Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Putin ist ein abgezockter, machtversessener Despot, der großrussischen Chauvinismus als Staatsräson festschreibt und oft brutal die Opposition im Land unterdrückt.
Kommentar von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Wer ist der Aggressor?
Im gegenwärtigen Machtpoker um die Ukraine ist Putin derjenige, der das, was er für seinen angestammten Machtbereich hält, abzusichern versucht. Dagegen spielen die westlichen Mächte (USA, GB und BRD) den offensiven, ja aggressiven Part. Sie sind es, die ein Land (nämlich die Ukraine) aus dem Einflussbereich des Konkurrenten Russland herauszubrechen und in den eigenen Einflussbereich einzuverleiben versuchen. Dieser Drang nach Osten ist nicht neu. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat der Westen Moskau schon mehrfach brüskiert: Nach dem Ende des kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Paktes gab es eine Absprache mit Moskau, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Berauscht von der eigenen Stärke kippten die NATO-Staaten diese Verabredungen alsbald in die Tonne und betrieben mit Nachdruck (und einigem Erfolg) das Projekt der NATO-Osterweiterung. Auch der Krieg der NATO gegen Jugoslawien erfolgte gegen den ausdrücklichen Einspruch Moskaus. 2008 unterstützte die NATO sogar die Gedankenspiele des georgischen Despoten Michail Saakaschwili, in die NATO einzutreten.
Anbindung an die EU ohne Konfrontation kaum möglich
Auch in Richtung Ukraine hatten die westlichen Staaten verschiedentlich schon Zugriffe versucht. 2008 gab es parallel zu Georgien auch an die Adresse der Ukraine das Angebot, der NATO beizutreten. Davon nahm man nach dem russischen Angriff auf Georgien aber Abstand. 2009 wurde die »östliche Partnerschaft« (Ukraine, Moldau, Georgien, Belarus, Armenien und Aserbaidschan) ausgerufen – der Versuch, den nächsten Ring von insgesamt sechs Staaten (welche) per Abkommen unumkehrbar mit der EU zu assoziieren. Weil es sich bei diesen sechs Staaten um Länder handelt, die zum unmittelbaren russischen Interessengebiet gehören und teilweise eminente strategische Bedeutung für Russland haben, ist von Anfang an klargewesen, dass ihre Anbindung an die EU ohne Konfrontation kaum möglich sein würde.
Außenminister Deutschlands, Polens und Großbritanniens in Hausherrenmanier
Als sich Ende 2013 durch die eskalierenden Proteste auf dem Maidan in Kiew die Möglichkeit ergab, die Ukraine aus dem Einflussbereich Putins herauszubrechen, machten die westlichen Regierungen einen erneuten Anlauf in Sachen „Regime Change“. Unverhohlen ließen sie der prowestlichen Opposition alle politische Unterstützung zukommen. Ob und wie viel Geld dabei auch floss, werden wir vielleicht erst später mal erfahren. Bei den Vermittlungsgesprächen zwischen Yanukowitch und den Oppositionsparteien ab Mitte Februar agierten allein die Außenminister Deutschlands, Polens und Großbritanniens in Hausherrenmanier als alleinige „Schiedsrichter“ . Dabei den russischen Außenminister mit hinzuzuziehen, hielten sie für abwegig.
Verteidiger der Demokratie?
Während der Besetzung des Maidan war in den westlichen Medien ausschließlich von einer „Demokratiebewegung“ die Rede. Dass es sich bei einer der drei Oppositionsparteien auf dem Maidan um die rechtsextrem bis offen faschistische Partei „Svoboda“ handelte, die mit der deutschen NPD enge Beziehungen pflegt, wurde geflissentlich unter den Teppich gekehrt. Bis 2004 benutzten sie ein “ukrainisiertes” Hakenkreuz als ihr Parteisymbol. Tjahnibok selbst hasst jegliche Linke und rechtfertigt jene, welche mit Hitler kollaborierten, als Kämpfer gegen “Moskali, Deutsche, Juden und andere unreine Elemente”. Aus wahltaktischen Gründen hat Svoboda versucht, ihr Image zu mäßigen, spielte aber, zusammen mit der noch abscheulicheren Vereinigung von ultrarechten Parteien und Fußballhooligans, eine immer gefährlichere Rolle im Maidan-Protest. Trotzdem wurde der Parteichef von Svoboda auf dem Maidan vom deutschen Außenminister Steinmeier wie ein ganz normaler Verhandlungspartner behandelt.
Der »Rechte Sektor« verfügt über paramilitärische Strukturen
Dazu kommt noch der „Rechte Sektor“, Die Organisation ist ein Bündnis von ultra-nationalistischen und faschistischen Gruppen. Darunter sind auch die im Straßenkampf erfahrenen Kader der Ultra-Fanklubs des Fußballvereins Dynamo Kiew. Der »Rechte Sektor« verfügt über paramilitärische Strukturen. Sie treten unter rot-schwarzen Fahnen auf und sehen sich in der Tradition der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) sowie der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die im Zweiten Weltkrieg eng mit den Nazibesatzern kollaborierte. Der „Rechte Sektor“ profilierte sich auf dem Maidan als die am besten organisierte paramilitärische Kampftruppe gegen die Polizeikräfte von Yanukowitch und gewann so in der Bewegung stark an Ansehen und Einfluss.
Faschistische Gruppierungen
Diese faschistischen Gruppierungen konnten nach der der Flucht von Yanukowitch in der neugebildeten Regierung einflussreiche Positionen besetzen. Die braune Svoboda-Partei stellt im Kiewer Kabinett mehrere Minister, den Vizepremier und den Generalstaatsanwalt Oleg Machnitzkij. Der hatte sich offenbar dadurch empfohlen, dass er 2007 den heutigen Svoboda-Parteivorsitzenden Oleg Tjagnibok erfolgreich vor Gericht vertreten hatte, als dieser wegen einer Hetzrede gegen die „Moskauer jüdische Mafia“ angeklagt war. All das ist sicherlich Merkel und Obama bekannt, aber bislang ist kein Wort der Kritik an den Nazis zu vernehmen.
Putins Gegenschlag
Es konnte auch nicht wirklich überraschen, dass eine der ersten Maßnahme der neugebildeten Regierung darin bestand, Russisch als zweite Amtssprache in der Ukraine abzuschaffen. Dass dies beim russischsprachigen Teil der ukrainischen Bevölkerung große Ängste auslösen musste und diese Putin geradezu in die Arme trieb, dürfte kaum jemanden überraschen. So, wie der Westen die reale Unzufriedenheit mit Yanukowitsch für seine Zwecke ausnutzte, macht Putin nun dasselbe auf der Krim und im Osten der Ukraine. Präsident Putin hat sich vom russischen Parlament einen Freibrief für ein militärisches Eingreifen geben lassen. De facto haben russische Truppen wohl schon die Krim übernommen. Auf der Krim sieht ein Großteil der Bevölkerung die dubiosen, offensichtlich russischen Militärs, ohne Hoheitskennzeichnung als Schutztruppe.
Es wird mit zweierlei Maß gemessen
Dass die Bevölkerung auf der Krim und in weiten Teilen der östlichen Ukraine die neue Regierung in Kiew ablehnt und nicht anerkennt, wollen aber nicht nur die neuen Machthaber in Kiew nicht akzeptieren. Auch die EU sorgt sich wegen dieser Aktionen. Galt die Maidan-Bewegung, selbst noch als bewaffnete Nazi-Stoßtruppen die Polizei angriffen, der deutschen und westlichen Politik als „friedliche Protestbewegung“, so ist die Erstürmung eines Rathauses in Charkow nun ein „krimineller Akt“.
Heuchlerisches Geschrei
Schaut man sich das hierzulande veranstaltete offizielle Geschrei über die Aggression Putins auf der Krim an, so ist das schlicht heuchlerisch. Zuerst soll das Land an die EU angeschlossen und dessen „Souveränität“ durch ein Assoziierungs-Abkommen und IWF-Programme weiter ausgehöhlt werden – dann aber kommt das große Jammern, wenn Russland seinerseits die Souveränität der Ukraine mit Füßen tritt und diese als Teil ihrer Einflusssphäre reklamiert. Weder Brüssel mit der Unterstützung der USA noch Moskau und seine Oligarchen handeln im Interesse der arbeitenden Menschen in der Ukraine.
Um die sozialen Interessen der ukrainischen Bevölkerung geht es nicht
Um eines geht es bei diesem geostrategischen Gerangel und internen Machtkämpfen nie – die sozialen Interessen der ukrainischen Bevölkerung. Nationalistisch aufgeblasenes Muskelspiel auf beiden Seiten birgt immer die Gefahr einer Eskalation des Konflikts aufgrund von nebensächlichen Fragen der „Ehre“ in sich. Weder die EU noch Russland bieten auch nur ein Fünkchen Perspektive, das für die Menschen in der Region entscheidende Probleme anzugehen: Die extremen Unterschiede zwischen Reich und Arm zu beseitigen und die Macht der Oligarchen zu beschneiden.
Ein armes Land …
Die Ukraine ist auch im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern ein armes Land. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 kam eine vom Internationalen Währungsfond (IWF) durchgesetzte „Schocktherapie“. Diese führte in den Jahren 1992-95 zu einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von 60 Prozent. Im Gefolge der Stabilisierung der russischen Ökonomie wuchs die ukrainische Wirtschaft um die Jahrtausendwende mit sieben Prozent relativ schnell. Von der globalen Krise wurde dann die Ukraine besonders hart getroffen. Allein 2009 sank die Wirtschaftsleistung um 18 Prozent. Die Industrie brach ein, die Landeswährung, die Hrywnja, verlor enorm. Die Staatsverschuldung stieg massiv an. Die Arbeitslosigkeit ist mit rund acht Prozent vergleichsweise niedrig – dafür ist die Einkommenssituation katastrophal. Der Durchschnittslohn beträgt gerade 300 Euro pro Monat, der Mindestlohn 110 Euro. Dabei existiert zudem ein enormes Gefälle zwischen der Westukraine (dem Zentrum der gegenwärtigen Aufstandsbewegung) und dem industrialisierten Osten. Das Durchschnittsgehalt im Bezirk Ternopil in der Westukraine beträgt mit 200 Euro weniger als halb so viel wie im Donezkbecken mit über 400 Euro.
…unter der Fuchtel der Oligarchen
Dem gegenüber steht enormer gesellschaftlicher Reichtum, konzentriert in der Hand der sogenannten „Oligarchen“. Hierbei handelt es sich um Individuen, oft ehemalige KP-Funktionäre mit guten Verbindungen zu staatlichen Stellen, die in der Umbruchphase nach 1990 schnell enorme Reichtümer zusammengerafft haben. Das Kapital der 100 reichsten Ukrainer beträgt laut der ukrainischen Forbes 37,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Während einige von ihnen, wie die Zechenbarone im Donezbecken und die energieabhängigen Chemiekonzerne, bisher eher an Moskau orientiert waren, standen Unternehmer in der West-Ukraine der EU näher. Doch weit wichtiger als die Frage Ost- oder Westorientierung ist für jeden dieser Oligarchen die Steigerung seines privaten Reichtums und politischen Einflusses. Die verschiedenen Fraktionen der Oligarchen manövrieren seit Jahren gegeneinander, um die politische Macht in ihrem ökonomischen Interesse zu organisieren. Einigkeit herrscht hingegen, wenn es darum geht, die Gesamtinteressen der Oligarchie gegen die ukrainische Bevölkerung zu verteidigen. Bestes Beispiel dafür ist die Steuergesetzgebung: Die Besteuerung der Reichen sowohl als Individuen als auch ihrer Unternehmen ist extrem niedrig. Die ukrainischen Unternehmen haben ihre offiziellen Firmensitze größtenteils in Offshore-Steueroasen und führen keine Gelder an den Staat ab. Der hatte deshalb in den letzten Jahren immer wieder Haushaltsnotlagen. Zahlen dafür müssen die lohnabhängig Beschäftigten, Rentner und Jugendlichen – immer wieder werden Lohnzahlungen im Staatssektor reduziert oder gar ausgesetzt und Sozialleistungen gestrichen. Die Regierungen wechselten in den letzten Jahren zwischen EU- und russlandfreundlichen Fraktionen der Oligarchie – bei der Steuergesetzgebung blieb jedoch alles beim Alten. Diese Zustände sind die eigentliche Triebfeder der Proteste. Artikuliert wurde dies auf dem Maidan allerdings kaum – die Proteste hatten kein erkennbares soziales Programm, sondern nur ein Ziel: Den Sturz der Regierung Yanukowitschs. Nicht zuletzt durch diese Schwäche der Protestbewegung konnten konservative und nationalistische Kräfte eine Führungsrolle übernehmen.
EU wirft Rettungsringe aus Blei
Was die Menschen von einem prowestlichen Regime in der Ukraine zu erwarten haben, deutet sich in den Bedingungen an, die die EU der ukrainischen Regierung in Vorfeld des verhandelten Assoziierungsabkommens gestellt hat. Der mittlerweile entlassene Premier Asarow hatte umrissen, wie diese Bedingungen aussahen: „Die Bedingungen bestanden darin, die Gas- und Heizkosten für die Bevölkerung um etwa 40 Prozent anzuheben, die Grund-, und Nettolöhne auf dem jetzigen Stand einzufrieren, die staatlichen Ausgaben merklich herunterzufahren, Subventionen für Strom zu senken und die Ausnahmeregelungen bei der Mehrwertsteuer in den Bereichen Landwirtschaft und anderen Sektoren allmählich zurückzunehmen“. Dieses Muster, nämlich Rettungsringe aus Blei zu werfen, ist aus Südeuropa, insbesondere Griechenland bekannt. Auch hier bedeuteten EU-Vorgaben Massenverarmung der Bevölkerung während die reichen Eliten nicht zur Krisenlösung herangezogen werden.
Wir sollten also ganz hinschauen, welche Gegenleistung die EU für den jetzt angebotenen Kredit in Höhe von elf Milliarden Euro macht.