Eine „Kleine Anfrage“ zum Sachstand zur Förderung der Einfachen Sprache in Deutschland haben SPD-Bundestagsabgeordnete am 24. Oktober 2012 an die Bundesregierung gestellt (Deutscher Bundestag Drucksache 17/11171). Hohenlohe-ungefiltert veröffentlicht den Inhalt der Kleinen Anfrage und weitere Informationen zum Thema „Einfache Sprache“.
Informationen zusammengestellt von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert
Deutscher Bundestag Drucksache 17/11171
17. Wahlperiode 24. 10. 2012
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Oliver Kaczmarek, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, Willi Brase, Ulla Burchardt, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke, Klaus Hagemann, Christel Humme, Daniela Kolbe (Leipzig), Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Caren Marks, Thomas Oppermann, Florian Pronold, René Röspel, Marianne Schieder (Schwandorf), Ulla Schmidt (Aachen), Swen Schulz (Spandau), Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Andrea Wicklein, Dagmar Ziegler, Brigitte Zypries, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD.
Sachstand zur Förderung der Einfachen Sprache in Deutschland:
Über 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland sind funktionale Analphabeten
Die Studie „leo. – Level-One“ hat 2010 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung als erste Studie in Deutschland die Größenordnung des Analphabetismus unter der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren untersucht. Seit Anfang 2011 wissen wir, dass 7,5 Millionen Menschen in diesem Alter mindestens als funktionale Analphabeten eingestuft werden müssen. Das sind 14,5 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren.
Entsprechende Angebote schaffen
Darüber hinaus ist aber auch zu beachten, dass weitere 13,3 Millionen Menschen nur langsam und/oder sehr fehlerhaft lesen und schreiben können sowie das Lesen nach Möglichkeit generell vermeiden. Das sind rund 26 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Sie kommen über das in der „leo. – Level-One“-Studie zu Grunde gelegte Alpha Level 4 nicht hinaus. Neben Analphabetinnen und Analphabeten im engeren Sinne und funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten bilden diese Menschen eine weitere Gruppe, für die entsprechende Angebote geschaffen werden müssen, um sie ansprechen bzw. erreichen zu können.
Einfache Sprache (Leichte Sprache) verwenden
Eine Möglichkeit liegt in dem Angebot der Einfachen Sprache (Leichte Sprache). Unter dem Begriff „Einfache Sprache“ versteht man gut verständliche einfache Texte in einer Sprache, die Fremdwörter vermeidet und kurze Sätze beinhaltet. Durch solche niederschwelligen Leseangebote wird die Scheu vor dem Lesen überwunden. Die Lesematerialien mit dem passenden Sprachniveau ermöglichen den Aufbau von Selbstvertrauen. Die Lesefähigkeit wächst und es kann eine positive „Lesespirale“ entstehen. Im besten Fall führt dies dazu, dass diese Menschen aus der Einfachen Sprache herauswachsen und auf einem höheren Niveau lesen lernen. Mit diesem Zugang zur Literalität kann die Erweiterung der gesellschaftlichen Teilhabe und der Aufbau von Weiterbildungs- und Beschäftigungsfähigkeit einhergehen.
Verwaltungen sollen in einfacher Sprache schreiben
Einfache Sprache kann auch dort einen Beitrag leisten, wo Verwaltungshandeln oder der Wille des Gesetzgebers in komplexer Amtssprache verklausuliert ist. Einfache und adressatenorientierte Bescheide und Stellungnahmen sind ein Beitrag zu Transparenz und Nachvollziehbarkeit politischen und administrativen Handelns unabhängig von der Lesekompetenz.
Niederlande und Schweden als Vorreiter
In anderen Ländern, wie z. B. in den Niederlanden oder in Schweden, wird die Einfache Sprache neben der Leichten Sprache gezielt gefördert, um allen Menschen mit oder ohne Behinderung und Schwächen im Lesen und Schreiben zu helfen, ein ausreichendes Literalitätsniveau zu erreichen.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welcher wissenschaftlichen Definition von Einfacher Sprache im Vergleich zur Leichten Sprache folgt die Bundesregierung?
2. Welche wesentlichen Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zum sozialen, beruflichen und bildungsbiographischen Hintergrund von lese- und schreibschwachen Menschen (Alpha Level 4) vor?
3. Plant die Bundesregierung Forschungsprogramme, um diese Gruppe von lese- und schreibschwachen Menschen ähnlich der der funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten genauer zu untersuchen?
4. Wie schätzt die Bundesregierung die Auswirkungen mangelnder Lese- und Schreibkompetenz auf die Partizipation insbesondere am Erwerbsleben und an demokratischen Prozessen ein?
5. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels eine Ansprache und gezielte Förderung dieser Zielgruppe von Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwächen im wirtschaftlichen Interesse Deutschlands liegt?
6. Wie schätzt die Bundesregierung die Möglichkeiten des Einsatzes von Einfacher Sprache ein, um die Literalität von Menschen zu erhöhen und sie somit besser in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu integrieren?
7. Unterstützt die Bundesregierung aktuell Forschungsprojekte, die sich mit der Bedeutung, den Möglichkeiten und der Akzeptanz der Einfachen Sprache befassen?
Wenn ja, welche und in welchem Umfang?
Wenn nicht, ist die Bundesregierung bereit, im Rahmen einer erweiterten Nationalen Strategie gegen Analphabetismus auch Forschungsprojekte, die sich mit der Bedeutung und den Möglichkeiten der Einfachen Sprache befassen, zu fördern?
8. Liegen der Bundesregierung Forschungsergebnisse von Studien in anderen europäischen Staaten zu diesem Thema vor?
9. Sind der Bundesregierung Initiativen und Instrumente in anderen europäischen Ländern zur Ansprache und Weiterbildung von Betroffenen mit schwachen Lese- und Rechtschreibkompetenzen bekannt?
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus diesen für ihre Politik?
10. Ist die Bundesregierung bereit, neben der aktuellen Öffentlichkeitskampagne zum Thema funktionaler Analphabetismus auch eine Kampagne zur Ansprache der rund 13,3 Millionen Menschen mit starken Schreib- und Leseschwächen zu initiieren und zu fördern?
11. Sind der Bundesregierung Verlage oder Initiativen bekannt, die in Deutschland Erzeugnisse (Zeitungen, Magazine, digitale Medien) in Einfacher Sprache anbieten bzw. fördern?
12. Welche Möglichkeiten der Förderung solcher Initiativen/Verlage sieht die Bundesregierung durch den Bund, die Länder, die Kommunen und andere Träger in Wirtschaft und Zivilgesellschaft, damit die Einfache Sprache als Instrument zu mehr Literalität breiter eingesetzt werden kann?
13. Plant die Bundesregierung eigene Initiativen in der Verantwortung des Bundes, und auf welche Bereiche und Maßnahmen richten sich diese Initiativen?
14. Sind der Bundesregierung Bestrebungen öffentlicher Verwaltungen bzw. Behörden oder auch privater Unternehmen bekannt, die Einfache Sprache verstärkt zu nutzen, um Menschen mit geringer Literalität zu erreichen?
15. Wie schätzt die Bundesregierung die Möglichkeiten und den Aufwand ein, ein regelmäßiges Informationsangebot des Bundes in Einfacher Sprache zu entwickeln, zum Beispiel bei der Information und Präsentation der Regierungsarbeit auf den Homepages und in den Printmedien der Bundesministerien und des Bundeskanzleramtes?
16. Welche Möglichkeiten der Einbeziehung Einfacher Sprache in Bescheide und Stellungnahmen der Bundesregierung, die zu Petitionen abgegeben werden, erwägt die Bundesregierung, um diese verständlich und adressatenorientiert zu gestalten?
17. Unterstützt die Bundesregierung das Ziel, dass Zeitungen und andere Publikationen in Einfacher Sprache in Behörden und Ämtern (z. B. auch in Jobcentern und Arbeitsagenturen) flächendeckend angeboten werden sollten?
18. In welcher Form kann sich die Bundesregierung die Unterstützung einer solchen Zielsetzung vorstellen?
Welche Initiativen wird die Bundesregierung zur Unterstützung dieser Zielsetzung ergreifen?
19. Unterstützt die Bundesregierung die Entwicklung eines Qualitätssiegels für Leseprodukte in Einfacher oder Leichter Sprache, und in welcher Form ist die Bundesregierung gegebensfalls bereit, eine solche Entwicklung zu unterstützen?
20. Ist der Bundesregierung bekannt, wie groß die Zahl der Fachleute in Deutschland ist, die die notwendige Ausbildung und Qualifikation aufweisen, um normal verfasste Schriftstücke in die Einfache oder in die Leichte Sprache zu übersetzen?
21. Welche Einrichtungen, Vereinigungen oder sonstigen Träger von Angeboten zur Ausbildung und Qualifkation solcher Fachleute sind der Bundesregierung in Deutschland bekannt?
22. Hält die Bundesregierung die Zahl, die Qualifikation und die Strukturen zur Aus- und Weiterbildung solcher Fachleute gegenwärtig für ausreichend, und welche Erfordernisse sieht die Bundesregierung für die Zukunft?
Berlin, den 24. Oktober 2012
Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion
Weitere Informationen und Kontakt:
http://leichtesprache.org/
Fachinformationen „funktionaler Analphabetismus in Deutschland“
Zahlen:
Jahrelang gab es nur eine Schätzung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V.. Danach könnten in Deutschland etwa vier Millionen Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben. Anfang 2011 offenbarte die LevelOne-Studie („leo“), dass das Problem in Deutschland auch von Experten eher unterschätzt wurde: 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren lesen auf dem Niveau eines Grundschülers oder schlechter.
Definition der Bundesregierung
Im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunktes „Forschung und Entwicklung in der Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ ist eine gemeinsame Definition entstanden, die aus den Ergebnissen der verschiedenen Projekte hervorgeht: „Funktionaler Analphabetismus ist gegeben, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die minimal erforderlich sind und als selbstverständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Diese schriftsprachlichen Kompetenzen werden als notwendig erachtet, um gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung individueller Verwirklichungschancen zu eröffnen.“
Die Lesefähigkeit entspricht Grundschulniveau
Wie lesen Analphabeten?
Sie sind nicht oder kaum in der Lage:
• Formulare auszufüllen
• amtliche Schreiben oder Briefe zu lesen
• Gebrauchsanweisungen zu verstehen
• finanzielle Angelegenheiten zu regeln (z.B. Rechnungen lesen, Geld abheben)
• ihren Kindern vorzulesen.
• Sie verstehen nur einfache Anweisungen und Mitteilungen.
• Sie brauchen bekannte Wörter und kurze Sätze.
• Sie sind abhängig von Informationen, die ohne Vorwissen zu verstehen sind.
Ursachen für funktionalen Analphabetismus
• Allgemeine Lern- und Verhaltensprobleme (Konzentrations- und Sprachschwäche, Legasthenie).
• Ein allgemeiner Sprachrückstand aufgrund einer anderen Muttersprache.
• Aufwachsen in einer “spracharmen” Umgebung.
• Schlechter Zugang zu Bildung (z.B. durch Krankheit, körperliche Behinderung, Schule
schwänzen, vorzeitigen Abbruch des Schulbesuches oder häufige Umzüge).
• Zu wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung in der Schule.
• Nachlassen der Fähigkeiten durch mangelnde Übung. Gerade für Lesen und Schreiben gilt das Motto “use it or loose it”.
Lesefähigkeiten
Sie werden in sechs Niveaustufen eingeteilt:
A1 und A2 bezeichnet Leseanfänger.
B1 und B2 sind unabhängige Leser.
C1 und C2 erreichen geübte Leser.
Forschungsergebnisse für Deutschland:
Pisa 2010
15-Jährige in Deutschland: 18,5 Prozent können nicht ausreichend lesen
18,5 Prozent der 15-jährigen haben keine ausreichenden Lesefähigkeiten. Nur 7,6 Prozent der Schülerinnen und Schüler können sehr gut lesen. In Deutschland ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und mangelnder Leseleistung signifikant: Der Abstand zwischen der Leseleistung von Kindern mit Migrationshintergrund und deutschstämmigen Kindern hat sich seit der ersten Pisastudie von 65 auf 44 Punkte verringert.
Quelle: DIE ZEIT. Nr. 0 vom 9.12.2010.
leo-Studie 2011
Die LevelOne-Studie („leo“) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegeben und von der Universität Hamburg durchgeführt. Sie hat zum ersten Mal überhaupt wisschenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über die Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland gebracht. Die Studie teilt die Lesekenntnisse in „Alpha Level“ ein. Untersucht wurden die Lesekenntnisse der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren. Dabei kamen 14,5 Prozent nicht über „Alpha Level 3“ hinaus. „Alpha Level 3“ bedeutet, dass eine Person zwar die Buchstaben kennt und einzelne Wörter oder auch Sätze lesen kann. Von einfachen zusammenhängenden Texten ist die Person jedoch überfordert. 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, das entspricht 7,5 Millionen Menschen. Weitere 13,3 Millionen Menschen erreichen „Alpha Level 4“. Auf diesem Niveau werden einfache Texte zwar verstanden, lesen und schreiben gelingt aber auch bei gebräuchlichen Worten nur fehlerhaft.
Regeln für einfache Sprache
Aus jahrelanger Erfahrung hat Eenvoudig Communiceren Regeln für einfache Sprache festgelegt und entwickelt diese immer weiter. Inzwischen gibt es etwa 50, an die sich die AutorInnen halten. Neben einigen allgemeinen Richtlinien betreffen sie die Textstruktur, den Satzbau, die Wortwahl und Formatierung.
Einige Beispiele:
− Haupt- und Nebenaussagen werden voneinander getrennt.
− Die Sätze sind so kurz wie möglich.
− Bilder, Redewendungen und Metaphern werden vermieden, z.B. „In Berlin schieben sich alle gegenseitig den Schwarzen Peter zu.“
− Fremdwörter werden vermieden oder dort, wo sie unumgänglich sind, erklärt.z.B. „Ein
Manager ist jemand, der…“
− Wir schreiben in Alltagssprache, z.B. „Problem“ statt „Problematik“
Interview mit Ralf Beekveldt, Geschäftsführer Spaß am Lesen, Deutschland, und Eenvoudig Communiceren”, Niederlande. Die Fragen stellte Daniela Kaminski im April 2011.
Seit wann gibt es Ihren Verlag in den Niederlanden und was sind Ihre Angebote dort?
Seit 1994 ist der Verlag aktiv. Das Angebot besteht aus ca. 120 Titeln, angefangen bei der Klassikerserie (Welt-)geschichten über moderne Literatur bis hin zu Ratgeberbüchern über Themen wie Gesundheit, Geschichte und Sozial- und Arbeitskompetenzen. Unser Flagschiff sind die sechs Zeitungen in einfacher Sprache, die wir für unsere Hauptzielgruppen machen. Die Zeitungen erscheinen einmal im Monat, im Tabloidformat. Sie regen die Zielgruppe zum Lesen an und machen sie mit dem Medium Zeitung vertraut.
Woher kommt Ihr Engagement für dieses Thema?
Das “Engagement” ist zweigeteilt: Für einen Verleger ist es eine große Herausforderung, Lesematerialien für Menschen mit Leseschwierigkeiten herauszugeben. Stellen Sie sich einen Unternehmer vor, der eine Disco für Schwerhörige oder Gehörlose betreibt oder ein Kino für Sehbehinderte. Außerdem ist es ein sehr idealistisches Engagement: Lesen und Schreiben sind in unseren entwickelten Ländern fast so wichtig wie Atmen und Essen. Ohne diese Fähigkeiten ist man rettungslos verloren und fällt schnell aus dem Boot der Gesellschaft heraus. Man hat viel weniger Chancen – in beruflicher und sozialer Hinsicht gleichermaßen. Um den Menschen diese Chancen zu bieten, geben wir Lesematerial heraus, das an das Niveau schwacher Leser angepasst ist. Dadurch bieten wir ihnen die Möglichkeit, am Zusammenleben teilzuhaben und hoffen, auf diese Weise als Verlag einen kleinen Beitrag zu leisten.
Wie hat sich Ihr Unternehmen entwickelt? Was waren wichtige Schritte?
Es gab mehrere wichtige Stufen und Schritte: Ursprünglich haben wir als Verlag Material für geistig behinderte Menschen entwickelt. Doch ziemlich schnell wurde klar, dass vereinfachte Informationen auch für andere Zielgruppen sinnvoll sind. So haben wir unsere Ziele und unser Angebot erweitert und begonnen, Material für alle Menschen zu machen, die Mühe mit dem Lesen haben. Wir konnten uns zusätzlich als Herausgeber allgemeiner Informationen profilieren, denn wir geben neben Zeitungen auch informative Bücher, Klassiker, Comicromane und zeitgenössische Literatur in einfacher Sprache heraus.
Ein ebenfalls wichtiger Schritt war auch der Beginn unserer inhaltlichen Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen und Schreiben von Prinzessin Laurentien. Mit Hilfe des königlichen Hauses nahm die gesellschaftliche Aufmerksamkeit am Thema “funktionaler Analphabetismus” enorm zu. Mit Unterstützung der Stiftung geben wir die Serie “Leeslicht” (etwa: Leseleicht) heraus, eine Serie für Erwachsene mit vereinfachten Erzählungen bekannter niederländischer Autoren.
Welche Strukturen unterstützen Ihre Arbeit in den Niederlanden noch?
Wir wurden nicht finanziell unterstützt, aber weil wir schon so lange im Geschäft sind, ist unser Name inzwischen unter den relevanten Bildungsinstitutionen sehr bekannt. Wir haben es geschafft, uns eine große, treue Leserschaft aufzubauen. Sehr wichtig ist die bereits erwähnte inhaltliche Zusammenarbeit mit der königlichen Stiftung Lesen und Schreiben.
Welche Erfahrungen aus Ihrem Heimatland konnten Sie übertragen und was ist in Deutschland anders?
Der große Unterschied zu Deutschland ist, dass es hier noch sehr wenige Angebote für Menschen mit Leseschwierigkeiten gibt. Und die vorhandenen Angebote sind auf verschiedene – und getrennte – Zielgruppen aufgeteilt, z.B. Menschen mit Migrationshintergrund und geistig behinderte Menschen. Das Thema als solches ist in Deutschland noch nicht so bekannt, damit auch nicht so im Bewusstsein und nicht so akzeptiert. In Deutschland erschwert es die Länderstruktur zu einem einheitlichen Lösungsansatz zu kommen. Die zwingende Rolle einer zentralen Obrigkeit fehlt hier beim Thema Bildung, was es schwer macht, mit einer einheitlichen Politik zu einer strukturellen Lösung zu kommen.
Pisa hat bei uns zwar eine Besserung bei der Lesefähigkeit der 15-jährigen ermittelt, allerdings ist immer noch jeder sechste Jugendliche potentieller Kunde Ihres Verlages. Wie sieht es bei Ihnen aus?
In den Niederlanden ist es ungefähr die gleiche Situation. Wir glauben, dass man nicht unterschätzen sollte, wie schlecht die Lesefähigkeiten z.B. in der Hauptschule oft sind. Die Ziele der Stiftung „Lezen & Schrijven“ für Ihr Heimatland sind u.a. die Verringerung der Zahl der funktionalen Analphabeten unter den Berufstätigen um 60 Prozent und die strukturelle Verankerung eines Bildungssystems für Erwachsenenalphabetisierung in den Betrieben.
Wie funktioniert das? Wie eruieren Sie Ihre Erfolge?
Die Mission der Stiftung Lezen & Schrijven ist, das Problem des funktionalen Analphabetismus strukturell zu lösen. Um das zu schaffen, arbeitet die Stiftung mit Einzelpersonen, Unternehmen, Behörden und gesellschaftlichen Organisationen zusammen. Die Stiftung hilft ihnen dabei, ein Bewusstsein für ihre aktive Verantwortung und ihre konkrete Rolle bei der Bekämpfung von Analphabetismus zu bekommen. Mit dem Projekt “Taalkracht voor bedrijven” (etwa: Kraft der Sprache in Unternehmen) unterstützt die Stiftung Branchenorganisationen und große Betriebe dabei, ihre eigenen Lösungen zu finden. Die Zeitarbeitsbranche hat den Kampf gegen Analphabetismus in ihre Tarifverträge aufgenommen und auch andere Branchen, z.B. die Reinigungs- und die Baubranche, haben Absprachen zu Sprachschulungen am Arbeitsplatz in ihre Tarifverträge aufgenommen. Daneben gibt es eine ganze Reihe großer Firmen, die im Kampf gegen funktionalen Analphabetismus sehr aktiv sind, z.B. KLM, HEMA, Floraholland und CSU. Diese großen Unternehmen haben eine Vorbildfunktion für andere Betriebe, eine ähnliche Arbeit zu starten.
Erwachsene sind die Hauptzielgruppe Ihrer Schriften. Wie erreichen Sie diese Zielgruppe?
Erwachsene, aber eigentlich vor allem junge Erwachsene. Wir erreichen sie vor allem über das Bildungssystem.
Warum das?
Weil wir es für sehr wichtig halten, das Problem bei der Wurzel zu packen. Je älter Menschen werden und je länger sie der Bildung fern sind, desto schwieriger wird es, sie zu erreichen.
Kann ich in den Niederlanden Ihre Bücher in jedem Buchladen kaufen?
Planen Sie einen Vertrieb über den Fachhandel für Deutschland? Ja, unsere Bücher sind über den Buchhandel erhältlich. Sie sind nicht immer vorrätig, aber sie können auf jeden Fall bestellt werden. In Deutschland haben wir dafür vorläufig keine Pläne, aber wir schließen es nicht aus, dass das für die Zukunft möglich ist. Vorläufig klappt der Vertrieb über das Internet gut und wir haben, was das betrifft, noch Zeit.
Welches sind die absoluten Renner Ihres Verlages?
Die absoluten Renner sind: Unsere Jugendserien über gesellschaftliche Themen, die Jugendliche betreffen wie Magersucht, Drogen, die Krimis und die Bücher von berühmten Autoren bzw. verfilmte oder im Theater aufgeführte Bücher.
Welche Werke planen Sie für Deutschland als nächstes?
Für Deutschland planen wir vor allem ein Buch eines zeitgenössischen deutschen Autors. Mehr können wir darüber aber noch nicht sagen.
Wie muss ich mir das vorstellen, wenn Sie das Werk eines zeitgenössischen Schriftstellers auf die einfache Sprache umstellen wollen? Sind die dann nicht schon bei der Anfrage beleidigt?
Nein, nicht beleidigt. Wir sagen zuerst, dass die bearbeitete Version anders wird als das ursprüngliche Werk. Wir zeigen Beispiele schon bearbeiteter Bücher. Außerdem ist es uns wichtig zu betonen, dass das bearbeitete Werk nicht in Konkurrenz zum ursprünglichen Buch stehen wird. Die Zielgruppe besteht aus Menschen, für die das “echte” Buch zu schwer, unerreichbar und uninteressant ist. Für manche fungiert das bearbeitete Buch sogar als Zwischenschritt, um das echte Buch ein bisschen später ganz zu lesen.
Es gibt jetzt ein 26 Millionen-Lernförderungsprogramm „Lesestart – drei Meilensteine für das Lesen“ der Bundesregierung als Kooperationsprojekt des BMBF und der Stiftung Lesen. Was halten Sie davon? Welche Maßnahmen wären Ihrer Meinung nach sinnvoll?
Es gibt durchaus interessante Ansätze der Politik bei der Leseförderung. Das Projekt „Lesestart“ ist sicher einer davon. Dieses Projekt richtet sich an Kinder, die von Haus aus wenig Kontakt zu Büchern hätten und will sie ans Lesen heranführen. Dabei werden auch die Eltern einbezogen. Das ist sicher sinnvoll. Bei aller Bedeutung, die Leseförderung im Kindesalter hat, darf man aber nicht vergessen, dass Jugendliche und Erwachsene, die selbst Leseschwierigkeiten haben, von einem solchen Programm nicht sehr stark profitieren. Und gerade an diese Personengruppe wenden wir uns ja. Insofern ist ein solches Programm begrüßenswert, die Schnittpunkte zu unserer Arbeit sind aber eher gering. Es gibt andere Maßnahmen der Politik, die für unseren Verlag noch interessanter sind. So gibt es z.B. einen Förderschwerpunkt des BMBF namens „Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsene“ im Rahmen der UN-Weltalphabetisierungsdekade. Dort wird seit 2008 ganz wichtige Grundlagenarbeit geleistet. Wir stehen in diesem Bereich noch sehr am Anfang. Es ist ja bezeichnend, dass wir vor wenigen Tagen das erste Mal wissenschaftlich gesicherte Zahlen zur Größenordnung des Problems bekommen haben. Allerdings ist dieser Förderschwerpunkt auf die Jahre 2008 bis 2012 beschränkt. Es wäre also sehr zu begrüßen, solche Bemühungen auch über das Jahr 2012 hinaus fortzuführen und zu intensivieren.
Welche Entwicklungen würden Sie sich für die nächsten fünf Jahre wünschen?
Wir sollten uns wünschen, dass in den kommenden fünf Jahren das Thema Leseförderung in Deutschland viel mehr Aufmerksamkeit bekommt. Wichtig ist, dass bei Staat und Schulen ein Prozess des Bewusstwerdens beginnt, dass gut lesen nicht für jeden selbstverständlich ist. Und die Erkenntnis, dass funktionaler Analphabetismus negative Folgen hat: Für die funktionalen Analphabeten selbst, z.B. Isolation, Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und viel größere Gesundheitsrisiken, aber auch für die Allgemeinheit: weniger Wirtschaftswachstum, höhere Kosten im Gesundheitssystem, höhere Kriminalität und weniger soziales Engagement und Zusammenhalt. Das alles kostet die Gesellschaft viel Geld. Deshalb ist es unverzichtbar, das Problem des funktionalen Analphabetismus so schnell wie möglich anzupacken und zu lösen.
Spaß am Lesen vermitteln als gesellschaftliche Aufgabe
Zahlen in Deutschland schrecken auf
leo heißt Löwe und der ist bekanntlich zum Fürchten, wenn man ihm begegnet. leo steht auch für Level-One Studie – und auch deren Ergebnisse lassen erschaudern. Die Studie legt neue Zahlen zur Literalität, sprich: zu den Lesefähigkeiten der Deutschen vor. Bisher ging die Fachwelt geschätzt von einer Zahl von 4 Millionen funktionalen Analphabeten aus, Menschen, deren Lesefähigkeit auf Grundschulniveau liegen. leo legt offen: Über 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, also 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind funktionale Analphabeten. Das bedeutet, dass sie mit ihren Lese- und Schreibkenntnissen im Alltag nicht auskommen.
Leseförderung+Lesemotivation= Lesefähigkeit
„Das erschreckende Ergebnis ist auch Resultat verpasster Chancen,“ zu dem Ergebnis kommt Ralf Beekveldt. Er ist Geschäftsführer eines international tätigen Verlages, der Lesematerial für Jugendliche und Erwachsene „Nichtleser“ herausgibt. „Ich bin froh, dass in Deutschland jetzt die realen Zahlen offen liegen,“ so der engagierte Unternehmer, der seit 16 Jahren in Sachen Leseförderung unterwegs ist. Sein Credo: wir müssen die Leselust fördern gerade bei denen, die nicht lesen können. Die bisherigen Angebote richten sich im Allgemeinen an Menschen, die ganz gute Grundkenntnisse haben. „Wenn das Thema enttabuisiert wird, die Menschen aus ihrer Nische heraustreten können und die Gesellschaft ihnen Hilfen und Unterstützung, geeignete Materialien und einen akzeptierten Raum anbieten, dann kann sich wirklich etwas ändern.“
Lesen können hat persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen
Leo bestätigt: Menschen ohne Lesekenntnisse sind, werden und bleiben eher arbeitslos (Quote: 16,7 Prozent) und bekommen weniger Ausbildungschancen oder ergreifen sie nicht. Bemerkenswert ist, dass Männer 60,3 Prozent der funktionalen Analphabeten ausmachen. Neben den persönlichen Nachteilen wie mangelnde Anerkennung, fehlendes Einkommen und Schwierigkeiten im Alltag, ist auch der volkswirtschaftliche Schaden immens: öffentliche Unterstützung, Fachkräftemangel, Krankheitskosten – die Liste ist lang, die Kosten nicht bezifferbar.
Gezielte Produkte motivieren zum Lesen
Die Produktpalette des Verlags, der in Deutschland unter dem Label „Spaß am Lesen“ auf dem Markt agiert, wendet sich an erwachsene und jugendliche funktionale Analphabeten „Es ist ein Zumutung, wenn Erwachsene über Kinderbücher lesen lernen sollen,“ so Beekveldt. „Es geht uns um einfache Sprache, das heißt aber nicht, dass die Inhalte stupide oder naiv sind.“ Die Skepsis, die einfacher Sprache entgegenschlägt, grenzt oft an Arroganz und betrifft Behörden, Medien und Betriebe gleichermaßen. „Das macht es den Betroffenen noch schwerer, am öffentlichen Leben teilzuhaben.“
Einfaches, kontinuierliches Trainingsprogramm
In den Niederlanden hat sein Verlag besonders mit Jugendbücher und Zeitschriften Erfolg. Darin werden aktuelle Themen aus Gesellschaft, Politik und Kultur aufgegriffen und in einfacher Sprache vermittelt. Lesen lernt man durch Lesen und wer nicht liest, verliert auch seine vorhandenen Fähigkeiten, das ist belegt. Daher plädiert Beekveldt für ein einfaches, kontinuierliches Trainingsprogramm. „Dreimal in der Woche, besser jeden Tag 15 Minuten lesen, hilft bereits.“ so Beekveldt. Und nicht nur der Lesefähigkeit an sich, denn Lesenkönnen steigert zugleich das Selbstbewusstsein, ist ein wichtiger Baustein für gesellschaftliche Integration und berufliche Chancen.
Leseförderung braucht gesellschaftliche und politische Rückendeckung
Aus seiner internationalen Arbeit weiß der Unternehmer, dass nur gesellschaftliches Engagement und politische Unterstützung eine reale Änderung bewirken können. „Ich hoffe, der leo-Schock wird ein heilsamer und führt neue und alte Akteure zusammen, z.B. auch Betriebe, Gewerkschaften, Verbände und Unternehmen.“ Die Fakten liegen jetzt auf dem Tisch, jetzt muss gehandelt werden.
Weitere Informationen und Kontakt:
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