Der Ausgang der Volksabstimmung ist eine Niederlage für die GegnerInnen von Stuttgart 21. Bei einer landesweiten Wahlbeteiligung von 48,3 Prozent haben 58,8 Prozent mit „Nein“ zum Ausstieg gestimmt. Auffällig ist das Stadt-Land Gefälle. In einigen Städten gelang es den GegnerInnen über 50 Prozent zu kommen. Auf dem flachen Land hingegen waren 70:30-Ergebnisse für S21 eher die Regel als die Ausnahme.
Kommentar von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Stuttgarter Ergebnis ist bitter für die Gegner
Bitter für den Widerstand gegen S21 ist zweifellos, dass auch in Stuttgart selbst die Befürworter von S21 mit 52, 9 Prozent der Stimmen eine Mehrheit erreichten. Besonders dieser Umstand kratzte das Selbstbewusstsein der S21-GegnerInnen. Denn sie selbst hatten ja – entgegen den Vereinbarungen der Koalition SPD-Grüne für einen landesweiten Volksentscheid – dafür argumentiert, dass nur die Menschen in der Region Stuttgart entscheiden sollten. Und jetzt das!
Die Macht des Geldes
Ein Teil der Erklärung lautet: Am 27. November gewann das große Geld der wenigen Reichen und Mächtigen gegen das Engagement der Vielen. Die S21-GegnerInnen hatten für ihre Kampagne nur begrenzte finanzielle Spendengelder. Was sie aber von den S21-Befürwortern radikal unterschied, war das enorme Engagement einer großen Zahl von AktivistInnen, die Flyer steckten, gut besuchte Veranstaltungen organisierten, Infotische auf die Beine stellten und am landesweiten Aktionstag in über 80 Orten Präsenz zeigten. Die Überlegenheit der Befürworter und ihre Kontrolle über die Medien konnte damit aber nicht wettgemacht werden. Unternehmer, IHK, Arbeitgeberverbände, Kirchen, Kreisräte, Landräte und Bürgermeister setzten ihre ganze Macht ein, um den S21-GegnerInnen eine Niederlage beizubringen. Bosch, Mahle und andere Konzerne betrieben Stimmungsmache, Daimler platzierte einen „Nein“-Aufruf auf der Rückseite des Gehaltszettels, die Bauindustrie stellte allen Arbeitgebern einen Mitarbeiterbrief zur Verfügung, Daimler und der Arbeitgeberverband Südwestmetall sponserte den „S21-Infobus“, die Bahn als weltweit zweitgrößtes Transportunternehmen nutzte ihre gesamte PR-Abteilung, der Verband der Region Stuttgart ließ eine Million Euro Steuergelder in die S21-Kampagne fließen und OB Wolfgang Schuster veruntreute 130.000 Euro aus der Stadtkasse für einen Brief an alle Stuttgarter (mit persönlicher namentlicher Anrede), in dem er ihnen noch einmal die Argumente der S21 Befürworter einhämmerte.
Ursachensuche
Die Befürworter setzten offenbar darauf, direkte Diskussionen mit Gegnern von S 21 zu vermeiden. Das eigene Klientel sollte nach Möglichkeit vor jeglicher direkten Diskussion mit GenerInnen von S 21 „geschützt“ werden. So gab es im ganzen Land so gut wie keine organisierten öffentlichen Streitgespräche zwischen Gegnern und Befürwortern von S21. So auch in Schwäbisch Hall. Dort hieß es zunächst, dass das „Haller Tagblatt“ ein solches Streitgespräch organisieren werde. Daraus wurde aber nichts, weil von Seiten der Befürworter von S21 sich niemand fand, der/die bereit gewesen wäre sich aufs Podium zu setzen. In dieser sorgsam abgeschirmten Atmosphäre konnte dann die eigene Propaganda ungestört ihre volle Wirkung entfalten.
GegnerInnen auf dem Land strukturell im Hintertreffen
Abgesehen davon, dass die S21-GegnerInnen auf dem Land strukturell im Hintertreffen waren, gelang es aber auch in der Region Stuttgart offensichtlich nicht, alle Schichten der Gesellschaft zu erreichen. Da es nach der Volksabstimmung nicht wie bei Wahlen genaue Analysen des WählerInnenverhaltens gab, ist mensch ein Stück weit auf Spekulation angewiesen. Aber ein Blick auf die Veranstaltungen und die Stuttgarter Demonstrationen, lässt doch erkennen, wer nicht erreicht wurde: Große Teile der Jugend, vor allem aber auch das Gros der abhängig Beschäftigten und MigrantInnen.
Zum Ende keine Massenbewegung
Hinzu kam: Die Volksabstimmung fand zu einem Zeitpunkt statt, als die S21-GegnerInnen durch die „Schlichtung“ und den „Stresstest“ bereits in die Defensive geraten waren. Zwar waren mit der 100. Montagsdemo und der Kundgebung am Tag vor der Abstimmung binnen einer Woche erneut zweimal um die 10.000 Menschen auf der Straße, trotzdem konnten sich die S21-GegnerInnen nicht auf eine Massenbewegung wie in den Hochzeiten des Konflikts stützen.
GegnerInnen ignorierten Meinungsumfragen
Insofern kam das Ergebnis nicht völlig überraschend. Es deutete sich im übrigen auch schon in Meinungsumfragen an, die etwa zwei Wochen vor der Volksabstimmung veröffentlicht wurden. Von den S 21 Gegnern wurden diese Umfragen ignoriert – wohl, weil man/frau glaubte durch eine große Kraftanstrengung und durch zur Schau gestellten Optimismus und Siegesgewissheit das Blatt noch wenden zu können. Insofern war die Enttäuschung natürlich umso größer, als am Abend des 27. November die deutliche Niederlage zur Gewissheit wurde.
Grüne schalten um
Das Spitzenpersonal der Grünen in Baden-Württemberg machte schon am Wahlabend klar, dass sie den Ansprüchen, die der siegreiche schwarz-gelbe Filz an sie stellte erfüllen würden: „Ohne Wenn und Aber für S21“. Winfried Kretschmann (Grüne) stellte fest. „Wir werden dieses Votum akzeptieren“ . Seine neue Sprachregelung lautet. „Wir werden jetzt umschalten von ablehnend-kritisch auf konstruktiv-kritisch.“ Er rief die Stuttgart-21-Gegner auf, das auch zu tun und sich als „gute Demokraten“ zu erweisen. Auch Verkehrsminister Herrmann schaltete um: „Wir stehen jetzt konstruktiv zum Projekt.“ Die Vorsitzenden der Grünen von Baden-Württemberg, Chris Kühn und Thekla Walker, verkündeten einen Tag später, ihre Partei werde die Gegenwehr „grundsätzlich beenden“. Diese Entscheidung des Spitzenpersonals der baden-württembergischen Grünen kommt nicht sonderlich überraschend. Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass für grüne Realos ein paar Regierungsposten wichtiger sind als die eigenen Prinzipien.
Der Widerstand muss weitergehen – aber wie?
Die Frage war: Wie würde das Bündnis gegen S 21 mit dem Ergebnis der Volksabstimmung umgehen. Trotz des Schocks erklärten praktisch alle bekannten SprecherInnen des Bündnisses, dass der Widerstand weitergehen werde. Es wurde angekündigt, dass am darauf folgenden Sonntag im Stuttgarter Rathaus ein Ratschlag der S 21 GegnerInnen stattfinden solle, auf dem über das weitere Vorgehen diskutiert werden solle. Um die 4.000 S-21-GegnerInnen waren auf der 101. Montagsdemo. Die Stimmung bewerteten selbst die Stuttgarter Nachrichten als „kämpferisch“.
Am Sonntag den 4. Dezember strömten über 700 Menschen ins Stuttgarter Rathaus, um gemeinsam drei Fragen zu diskutieren:
1. Welche Legitimation haben wir jetzt noch für unseren Widerstand?
2. Was passiert mit dem Montagsdemonstrationen?
3. Was sind die Schwerpunkte für den Widerstand in den nächsten 3 drei Monaten?
Zu 1. Welche Legitimation haben wir ?
Es gab kaum einen Redebeitrag, der die Legitimation zu Fortsetzung des Widerstands in Frage stellte. Übereinstimmende Auffassung war, was Walter Sittler bereits am 28. November, dem Tag nach der Volksabstimmung im ZDF-Morgenmagazin erklärt hatte: „Ein vergoldetes Stück Blech wird nicht Gold, bloß weil eine Mehrheit das sagt.“ Die Volksabstimmung schafft keine der von den S21 GegnerInnen benannten Risiken und Gefahren aus der Welt. Dazu kamen weitere Argumente. Ein Teilnehmer stellte fest, dass an Ergebnisse von Volksabstimmungen allenfalls die Regierungen gebunden seien. Die GegnerInnen haben nichts desto trotz das demokratische Recht weiter für ihre Auffassungen einzutreten. Ein anderer Redner erwähnte, dass die Legitimation einer Protestbewegung sich nicht aus dem Umstand ableite, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiere. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Protestbewegung gegen Atomkraftwerke in den 1970er Jahren. Damals seien die Gegner von AKWS zweifellos die Minderheit in der Gesellschaft gewesen. Dennoch sei der Protest berechtigt gewesen. Tom Adler, langjähriger oppositioneller Gewerkschafter bei Mercedes Untertürkheim, drückte es grundsätzlicher aus: Außerparlamentarische Opposition bezieht ihre Legitimität nicht aus Mehrheiten, sondern aus der Sache selbst. Im Fall von Stuttgart 21 gelte auch nach der Volksabstimmung: Murks bleibt Murks.
Beim abschließenden Meinungsbild waren rund 90 Prozent der teilnehmenden, dass aktiver Protest auch weiterhin gerechtfertigt sei.
Zu 2. Wie weiter mit den Montagsdemonstrationen?
Zur Sinnhaftigkeit der Fortführung der Montagsdemonstrationen war das Meinungsbild zunächst nicht so eindeutig. Es gab Äußerungen, dass man/frau sehen müsse, dass die mit den Montagsdemonstrationen verursachten Verkehrsbehinderungen in der Bevölkerung Unmut verursacht habe, der dem eigenen Anliegen mehr schade als nutze. Andere Redebeiträge hinterfragten, ob es nicht sinnvoller sei, öfter an anderen Orten zum Beispiel auf den Fildern zu demonstrieren. Gefragt wurde auch, ob nicht ein anderer Wochentag dem Montag vorzuziehen sei. Schließlich fand ein Argument bei den Anwesenden besonderen Wiederhall. Schon seit langem seien die Montagsdemonstrationen weniger ein Mittel gewesen, um neue Kreise zu gewinnen. Auch in den Medien habe man/frau damit – im Unterschied zur Aufschwungsphase der Bewegung nicht mehr besonders gepunktet. Statt dessen haben die Montagsdemonstrationen eine andere Funktion bekommen: Sie wurden Ort der Kommunikation, die Multiplikation von Informationen der Bewegung selbst und nicht zuletzt auch Ort der Selbstvergewisserung der Aktiven. In dieser Funktion seien sie nach wie vor von fundamentaler Bedeutung. Aus diesem Grunde sei es aber nicht mehr dringend erforderlich, sich auf dem Arnulf-Klett-Platz vor dem Bahnhof zu treffen. Man könne sich ebenso gut auf dem Platz vor dem Nordausgang, vor dem Südflügel im Park oder auf dem kleinen Schlossplatz treffen. Dieser Vorschlag erhielt beim Meinungsbild im Plenum rund 90 Prozent Zustimmung – versehen mit dem Zusatz, dass dies nicht für immer und ewig, sondern vorläufig bis Ende Januar 2012 gelte. Nach Ansage der Bahn sollen ja im Januar der Abriss des Südflügel des Bahnhofs und das Abroden der Bäume im Schlosspark erfolgen. Das könne die Bewegung vor ganz neue Aufgaben stellen.
Zu 3. Weitere Schwerpunkte des Widerstands
Peter Grohmann stellte fest, dass die großen „Sünden“ erst jetzt beginnen. Gerade jetzt sei es wichtig auf der Straße zu bleiben. Dass die Bewegung dafür von den Befürwortern ein bisschen „verbale Dresche“ beziehen wird, müssen wir in Kauf nehmen.
Es war klar, dass die Öffentlichkeitsarbeit auch in Zukunft weitergehen müsse. Dabei sollten gerade auch die Büchertische fortgesetzt werden, weil damit im Verlauf der Kampagne gegen S21 gute Erfahrungen gemacht worden seien. Es war klar, dass in den nächsten Wochen der angedrohte Abriss des Südflügels und Baumfäll-Aktion im Park einer der Schwerpunkte der Aktivitäten sein würden. Dagegen gilt es so viele Menschen wie nur möglich zu organisieren. Die Rede war von einer Großdemonstration und von Blockaden. Ein weiterer Schwerpunkt wird das Thema Finanzen sein. Noch im Dezember stehen die Haushaltsberatungen der Stadt Stuttgart auf der Tagesordnung. Dazu stellte Bernd Riexinger, Stuttgarts verdi-Geschäftsführer und Landessprecher der Linkspartei in Baden-Württemberg fest: „Wichtig ist aber, an welchen Punkten es erneut Massenproteste geben kann. Ich bin der Meinung, das wird bei den Kosten und bei der sozialen Frage der Fall sein. So werde die Stadt Stuttgart viel Geld für den Bahnhof ausgeben, zugleich werde bei der Bildung und im sozialen Bereich gekürzt. „Solche Konstellationen werden die Leute in Bewegung bringen“, meint Riexinger.