Zwar ist der von manchem befürchtete „schwarze Montag“ ausgeblieben. Doch die zum Teil dramatische Achterbahnfahrt der Börsen sind Indizien dafür, dass sich die wirtschaftliche Krise, von der bereits Teile von Euroland erfasst sind, ausweitet.
Von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Aufschwung in Deutschland geht die Puste aus
Die Ausweitung der Euroschuldenkrise auf Spanien und Italien sowie die Entscheidung von Standard & Poor’s (S&P) den US-Schulden die Bestnote Triple-A abzusprechen, waren lediglich der Anlass nicht die Ursache der Börsenturbulenzen. In vielen anderen Ländern Europas zeichnet sich eine Wachstumsverlangsamung in der Industrie ab – in Spanien und vor allem vorneweg Italien und seit neuestem auch in Frankreich. In den USA ist die Gefahr einer offenen Rezession gewachsen. Die neuesten Wirtschaftsdaten zeigen, dass nun auch die scheinbare Insel der Seligen, der Exportweltmeister Deutschland, immer stärker betroffen ist. Im zweiten Quartal 2011 ist die deutsche Wirtschaft lediglich um 0,1 Prozent gewachsen. „Dem Aufschwung geht die Puste aus“, schreibt die Frankfurter Rundschau. Der angesehene US-Ökonom Nouriel Roubini meint, es sei so gut wie unmöglich, ein weiteres Abgleiten in die Rezession zu verhindern.
Nach der Krise ist vor der Krise
Auch wenn man es im Land des Exportweltmeisters nicht zur Kenntnis nehmen will: Der Aufschwung nach der großen Krise von 2008/2009 war kein – wie es die Ökonomen ausdrücken – „selbsttragender“ und er war nicht nachhaltig – und offenbar nur von kurzer Dauer. Billionenschwere Rettungsprogramme für die Banken und staatliche Konjunkturprogramme für die „Realwirtschaft“ bewirkten zwar eine überraschend schnelle Erholung der Wirtschaft. Aber in den beiden Zentren des entwickelten Kapitalismus – Europa und USA – sind die Folgen dieser Maßnahmen sichtbar in Form eines dramatischen Anstiegs öffentlicher und/oder privater Verschuldung. In den USA, deren ausufernde private Verschuldung bis 2007 Motor der Weltwirtschaft war, ist der Konsum der privaten Haushalte dramatisch zurückgegangen und fällt damit als potentieller Wirtschaftsmotor aus. Die gigantischen Rettungsprogramme für Unternehmen und Banken sind die Ursache für das dramatische Ansteigen der Staatschulden nach 2008. Die Staaten mussten zusätzliche Kredite auf den Kapitalmärkten aufnehmen, um ihre Banken zu retten, Konjunkturpakete zu schnüren und um die Folgen der Arbeitslosigkeit zu mildern. Spanien, Portugal und Irland galten bis 2008 als Musterknaben tugendhafter Budgetpolitik. Und selbst im viel gescholtenen Griechenland lag der Anteil der Staatsverschuldung an der Wirtschaftsleistung 2007 bei 99,2 Prozent (2010: 140,2 Prozent)
Wie weiter?
Weitere Konjunkturprogramme oder verschärfte Sparpolitik – das ist die Frage, die gegenwärtig bürgerliche Ökonomen und so manche Politiker umtreibt. Die Beispiele von Griechenland, Portugal oder Irland zeigen, dass durch rabiate Sparpolitik die Konjunktur abgewürgt wird. Dessen sind sich auch viele Ökonomen bewusst: Mit Blick auf die USA stellt der US-Ökonom Robert Reich fest: „Die Wahrscheinlichkeit für eine neuerliche Rezession wird durch Ausgabenkürzungen noch erheblich erhöht.“ (SPIEGEL 32/2011) Wirtschaftliche Vernunft würde zwar weitere Staatsausgaben zur Belebung der Konjunktur nahelegen. Aber im Gegensatz zur letzten großen Rezession fehlt den Staaten heute die Munition zu krisendämpfenden Konjunkturpaketen. Sie haben ihr Pulver schon in der letzten Krise verschossen. Es gibt deshalb innerhalb der herrschenden Cliquen kaum Bereitschaft zu konjunkturdämpfenden Maßnahmen. Im übrigen melden hier die Besitzer von Vermögenstiteln und Wertpapieren Widerspruch an. Traditionell fürchten sie, dass Konjunkturprogramme zu Inflation führen und darunter ihre Vermögen leiden könnten. Deshalb fordern sie eine „Politik des Schuldenabbaus“ – natürlich auf dem Rücken der Normalverdiener und der sozial Schwachen.
Die griechische Schocktherapie
In der öffentlichen Theoriedebatte scheint noch keine eindeutige Richtungsentscheidung (Sparpolitik oder weitere Konjunkturspritzen) getroffen zu sein. In der realen Politik ist die Entscheidung aber längst gefallen: Für das Modell Griechenland, für eine gnadenlose Sparpolitik zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung. Dort führte die von Merkel und Co in Form einer Schocktherapie bereits im Mai 2010 verordnete Rosskur bereits zu einem dramatischen Absinken des Lebensstandards weiter Teile der Bevölkerung – mit dem Ergebnis, dass die Wirtschaft tief in die Krise geschickt und die öffentlichen Schulden weiter anstiegen: Bereits in den vergangenen 18 Monaten verloren die Griechen fast ein Fünftel ihres Einkommens. Die Berenberg Bank bezeichnet das griechische Sparprogramm als “die wahrscheinlich härteste fiskalische Anpassung, die je in einem westlichen Land“ stattgefunden habe. Im Juni 2011 wurde den bereits arg gebeutelten Menschen in Griechenland von der Troika (EU, Europäischer Zentralbank und IWF) noch ein weiteres, noch härteres Sparprogramm verordnet. Gut 78 Milliarden Euro sollen bis 2015 eingespart werden. 50 Milliarden sollen Privatisierungen öffentlicher Güter und 28 Milliarden durch Sozialkürzungen und Steuererhöhungen erfolgen.
In Griechenland ist die Zahl der Selbstmorde um 40 Prozent gestiegen
Wie grausam der griechische Sparplan ist, kann mensch ermessen, wenn man ihn auf deutsche Verhältnisse überträgt: Etwa 400 Milliarden Euro müssten hierzulande bis 2015 gespart werden, hat das gewerkschaftsnahe Forschungsinstitut IMK ausgerechnet. Um solche Vorgaben zu erfüllen, müssten sämtliche Ausgaben für die Bundeswehr, für die Entwicklungshilfe sowie das Arbeitslosengeld gestrichen werden. Entsprechend verheerend sind die sozialen Folgen in Griechenland: Die reale Arbeitslosigkeit in Griechenland liegt bei zirka 22 Prozent. Die Zahl der Menschen, die in bitterster Armut leben müssen, wächst dramatisch. Zu tausenden strömen die Hungrigen zu den Essensausgaben, suchen im Müll nach etwas Brauchbarem. Da verwundert es kaum noch, dass in Griechenland seit Beginn der Krise die Zahl der Selbstmorde um 40 Prozent gestiegen ist.
Merkels Modell für Europa und die Welt
Nichtsdestotrotz wurde die griechische Medizin bereits anderen Ländern verordnet – mit ähnlichen Folgen: Portugal, Irland und Spanien. Als in den letzten Wochen die Zinsen für italienische Schuldentitel anstiegen, verordnete Angela Merkel auch Italien die griechische Medizin und die Europäische Zentralbank macht dies zur Voraussetzung für den Aufkauf italienischer Schuldentitel: Abbau von Löhnen und sozialen Errungenschaften und verschärfte Privatisierung von öffentlichen Unternehmen. Daraufhin kündigte die italienische Regierung ein „Blut und Tränen-Programm“ mit Einsparungen von über 45 Milliarden Euro an.
Sparprogramme schwächen die Sozialprogramme
Sparen bis aufs Blut ist im Übrigen keine Frage des Euros. Bereits seit ihrem Amtsantritt wütet die Regierung Cameron in Großbritannien. Sie hat das größte Sparpaket seit dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet. In der jüngsten Auseinandersetzung um die Erhöhung der Schuldengrenze in den USA hat die Obama-Regierung sich auch für den von der reaktionären Tea-Party geforderten Kahlschlag bei den letzten noch verbliebenen Sozialprogramme und gegen eine wie auch immer geartete Erhöhung von Steuern für die Reichen entschieden.
Wirtschaftswunder 2.0 scheint ein schnelleres Ende zu nehmen als alle erwartet haben
Sollte es zu einer erneuten Rezession kommen, wären die Folgen für die Mehrheit der Menschen vermutlich schlimmer als während der letzten Rezession. Im Moment spricht einiges dafür, dass auch die BRD davon nicht verschont bleiben wird. Wenn in der EU, den USA oder in China nicht mehr investiert wird, bekommen das der deutsche Maschinenbau oder die deutsche Autoindustrie in Form von ausbleibenden Aufträgen zu spüren. Ökonomen der US-Bank Morgan Stanley korrigieren die Prognosen für Deutschland stark nach unten. 2012 soll es nur noch ein Plus von 0,7 Prozent geben. „Das Wirtschaftswunder 2.0 scheint ein schnelleres Ende zu nehmen als alle erwartet haben“, meint Carsten Klude von der Bank M.M Warburg. „ Das von einigen Ökonomen ausgerufene ‚Goldene Jahrzehnt‘ der deutschen Wirtschaft ist aus unserer Sicht schon wieder zu Ende, ehe es richtig begonnen hat.“ (Frankfurter Rundschau 18.08.2011) Grund sei, dass Deutschland zu stark von der Weltwirtschaft abhängig sei. Auch wenn es der eine oder andere jetzt schon vergessen hat: In der letzten Krise war die extreme Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft dafür verantwortlich, dass der Wirtschaftsrückgang in der BRD mit fast minus 6 Prozent besonders schlimm ausfiel.
Neoliberalismus ist gescheitert, der Keynesianismus hat sich als Sackgasse erwiesen
Der Neoliberalismus ist gescheitert, der Keynesianismus hat sich als Sackgasse erwiesen. Die Antwort der Herrschenden ist: Ultra-Neoliberalismus. Die sozialen Einschnitte werden noch brutaler, Lohndumping und Privatisierung öffentlicher Güter auf die Spitze getrieben, die Polarisierung zwischen Armut und Reichtum immer weiter verschärft. Ein Blick nach Griechenland gibt einen Eindruck davon, welche Maßnahmen die Menschen in der BRD dann von ihrer Regierung erwarten dürfen. Wir dürfen getrost davon ausgehen, dass die entsprechenden „Blut, Schweiß und Tränen“ Programme bereits griffbereit in den Schubladen der Ministerien liegen.
Und wo sind die Alternativen?
Wie üblich tun auch jetzt die Herrschenden so, als gäbe es zu ihrer Politik des Lohnraubs und des Sozialkahlschlags keine Alternative. Dabei ist es ganz einfach. Man/frau muss allerdings die neoliberale Scheuklappen abnehmen, um sie zu erkennen: Der Abbau der öffentlichen Schulden darf nicht durch die Senkung der öffentlichen Ausgaben für soziale Sicherheit erfolgen, sondern mittels einer stärkeren Besteuerung der Unternehmensgewinne sowie der hohen Einkommen und Vermögen. Den Schuldentürmen der öffentlichen Kassen und sinkenden Realeinkommen der Lohnabhängigen stehen bekanntlich die prall gefüllten Schatzkammern der Reichen gegenüber. Das private Geldvermögen in der BRD ist seit 2000 um 39 Prozent auf die Schwindel erregende Summe von 4.880 Milliarden Euro gestiegen. Noch stärker stieg die Zahl der Geldvermögens-Millionäre. Ihre Zahl dürfte in diesem Jahr eine Million erreichen. 2010 waren es 924.000 – gegenüber 365.000 im Jahr 1999. Sie verfügen über ein Geldvermögen von durchschnittlich 2.300 Mrd. Euro. Die Krise ist nicht zuletzt das Ergebnis der ausufernden sozialen Ungleichheit, der Politik der verschärften Umverteilung zugunsten der reichen Eliten und zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung, wie sie für das neoliberale Zeitalter der Kapitalismus prägend ist. Diese Politik ist nicht nur extrem ungerecht, sie ist auch ihre Kehrtseite. Sie hat zwar die Profite der transnationalen Unternehmen und die des Finanzsektors steigen lassen. Auf der anderen Seite macht sie sich als mangelnde Kaufkraft bemerkbar und führt in periodischen Abständen immer wieder zu Überproduktionskrisen.
Millonärssteuer würde jährlich 115 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen bringen
Eine Millionärssteuer von nur 5 Prozent würde jährlich 115 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen bringen. Sie ist nur recht und billig. Sie würde noch nicht einmal an die Substanz der Millionäre und Milliardäre gehen. Das wird freilich nicht ohne Gegenwehr der Industrie – und Finanzeliten und deren politischem Personal zu erreichen sein. In einer solchen Auseinandersetzung über die (Rück-)Umverteilung des Reichtums von Oben nach Unten werden zahlreiche weitere gesellschaftliche Fragen aufgeworfen. Notwendig ist unter anderem eine Überführung der Banken unter öffentliche Kontrolle, die Vergesellschaftung der in den letzten 30 Jahren privatisierten Unternehmen und eine Anhebung des Lebensniveaus der Mehrheit der Bevölkerung zu Lasten der reichen Minderheit. Es ist höchste Zeit, mit der kapitalistischen Logik zu brechen und die Frage einer gerechten, ökologisch verträglichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf die Tagesordnung zu setzen, in der nicht das Streben der reichen kapitalbesitzenden Minderheit nach mehr Profit, sondern die Befriedigung der Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung Leitschnur des Handelns ist.
Neokoloniales Gehabe einer egoistischen Oberschicht
In einigen der bereits vom Kahlschlag betroffenen Länder ist die Empörung über die Arroganz einer mit neokolonialem Gehabe agierenden Führungsschicht groß. In Griechenland und Portugal gab es bereits Generalstreiks, in Irland, Spanien und Italien Massenproteste. Auf Grund der Sonderstellung als Exportweltmeister gab es in der BRD bisher (noch) keine so einschneidenden Sparmaßnahmen wie in Griechenland, Irland oder Portugal. Im Falle einer Rezession werden die Menschen in der BRD die Erfahrung machen, dass ihre Eliten mit ihnen nicht viel anders umspringen als jetzt schon mit ihren KollegInnen in Griechenland oder Portugal. Die überwiegende Mehrheit der Menschen – auch in der BRD – hat keinen Anlass zum Schulterschluss mit den Bankern und Konzernherrn. Wer sich mit Merkel und Bild in nationalchauvinistisches Schimpfen über die „faulen Griechen“ ergeht und das Märchen vom Zahlmeister Deutschland nachplappert, schießt sich nur selbst ins Knie. Was Kampfkraft und Widerstandsgeist betrifft, können wir in der BRD von den Griechen einiges lernen. Und das werden wir wohl auch müssen.
Wer nicht untergehen will, muss sich wehren
Wie sagte doch Berthold Brecht: „Dass du dich wehren musst, wenn du nicht untergehen willst, wirst Du ja wohl einsehen.“