Mit einer kleinen Zeremonie gedachte der Kunstverein Bahnhof Waldenburg am 23. März 2011 der 68 deportierten Sinti-und Roma aus Hohenlohe. Symbolisch wurde ein Straßenschild für das ermordete Mädchen Klara Winter aus Schwabbach neben dem Gleis 1 angebracht. Genau um 10 Uhr am 23. März 1943 fuhr der aus Mosbach kommende Zug nach Auschwitz ab, der nordbadische Opfer des NS-Rassismus in die Vernichtung transportierte.
Vom Kunstverein Bahnhof Waldenburg Gleis 1
Klara Winter wurde keine drei Jahre alt, ihre Mutter 21
Diese Ereignisse zu dokumentieren hat sich der Tübinger Kulturhistoriker Udo Grausam zum Ziel gesetzt, der in seinem Redebeitrag genaue Informationen über die Schicksale dieser ehemaligen Hohenloher gab, die hier beheimatet waren. Klara Winter wurde keine drei Jahre alt, ihre Mutter 21.
Gesellschaftliche Verantwortung der Kunst und Kultur
Zur Begrüßung wies Gleis-1-Vorstand auf den aktuellen Kontext der Sinti-Verfolgung in Europa hin und erläuterte seine Auffassung zur gesellschaftlichen Verantwortung der Kunst und Kultur. Unter dem Straßenschild, das für die Kommunen der Region ein Anstoß sein soll, das Gedenken an diese große deutsche Menschengruppe in ihre Volkstrauertage und ihr Geschichtsbewusstsein aufzunehmen, hängt eine Informationstafel (Der Text steht unten in diesem Artikel). Der Schwäbisch Haller Klarinettenkünstler Hans Kumpf umrahmte die Veranstaltung mit der Ballade „Nuages“ des Gypsy-Gitarristen Django Reinhardt, einem „Zigeuner-Flamenco“ und interpretierte die philosophische Welthymne „Blowing in the wind“ – die klagenden Klarinettentöne erinnerten die Zuhörer an das unermessliche Leid, das hier seinen Ausgang nahm. Im November wird das Thema im Gleis-1-Programm fortgesetzt.
Gedenktafel für KLARA WINTER und deportierte SINTI-ROMA aus Hohenlohe:
Das Mädchen wurde am 13.09.1941 in Schwabbach geboren. Der Eintrag im Geburtenbuch ist erhalten. Sie starb am 17.01.1944 im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, im Lager B II e. Ihr Tod wurde im „Hauptbuch des Zigeunerlagers (Frauen)“ verzeichnet. Ihre Mutter Helene Emma Winter kam mit 20 am 27.11.1943 ins KZ Birkenau und starb am 28.6.1944.
Im Jahr 1977 hat das dafür zuständige Sonderstandesamt in Bad Arolsen die Sterbeurkunde für Klara Winter ausgestellt. Erst im Jahr 2010 hat das Amt die Urkunde an die jetzt zuständige Gemeinde Bretzfeld mitgeteilt. Ein öffentliches Gedenken am 04.11. 2010 in Waldenburg hat an Klara Winter erinnert.
Am 23.3. 1943 um 10.00 Uhr hielt am Bahnhof Waldenburg der Transport der Deutschen Reichsbahn von Mosbach nach Auschwitz: Abfahrt am 23.3. um 5.06 Uhr, Ankunft am 25.3. um 15.01 Uhr. 29 Frauen und 24 Männer, Sinti, Roma und Jenische aus Baden, wurden in das Vernichtungslager deportiert. Unter ihnen waren auch in Hohenlohe geborene Angehörige der Familie Georges. Von den zehn Familienmitgliedern Georges kehrte niemand zurück. Für sie und für mindestens 68 in Hohenlohe geborene, verschleppte und ermordete Sinti, Roma und Jenische wird vom Kulturverein Gleis1 am Bahnhof Waldenburg eine kleine Gedenktafel angebracht.
Zur Rede von Zoni Weisz am 27. Januar 2011 im Deutschen Bundestag:
Ansprache von Zoni Weisz vor dem Deutschen Bundestag zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar 2011
(Anrede)
Dass ich am heutigen Tage, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, hier im Deutschen Bundestag zu Ihnen sprechen darf, stellt für mich ein besonderes Privileg und eine große Ehre dar. Gemeinsam mit Ihnen an dieser Stelle an die Schrecknisse der Nazizeit zu erinnern, ist eine besondere Erfahrung für mich persönlich, aber auch für die Gemeinschaft der Sinti und Roma insgesamt. Hier heute stehen zu dürfen, empfinde ich als Zeichen der Anerkennung des uns während der Zeit des Nationalsozialismus zugefügten Leids.
Meine Damen und Herren, dies ist nicht das erste Mal, dass ich hier vor diesem Plenum stehen darf. Auch am 7. November 1999 war ich hier. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Deutschen Bundestages durfte ich an dieser Stelle das Geschenk des niederländischen Parlaments, ein Blumenkunstwerk, realisieren. Als ich seinerzeit darum gebeten wurde, habe ich als Überlebender des Holocaust gezweifelt, ob ich diese ehrenvolle Aufgabe übernehmen soll. Sie werden verstehen, dass eine solche Entscheidung nicht einfach war, doch ich bin stolz, dass ich diesen Auftrag angenommen und ausgeführt habe. Die Arbeit an dieser Blumendekoration hat mir ein gutes Gefühl beschert. Gerade hier, im Deutschen Bundestag, konnte ich zeigen, dass die Nazis uns nicht alle haben ermorden können. Dass wir das Leben wieder in die Hand genommen und etwas daraus gemacht haben. Für mich war es auch eine symbolische Geste an das Deutschland von heute.
Heute gedenken wir der Opfer des nationalsozialistischen Genozids an 500.000 Sinti und Roma, wir erinnern an die Opfer der Shoa, des Mordes an sechs Millionen Juden, und wir gedenken all der anderen Opfer des Nazi-Regimes. Es war ein sinnloser, industriell betriebener Mord an wehrlosen, unschuldigen Menschen, ersonnen von fanatischen Nazis, Verbrechern, die dazu in ihren Rassegesetzen eine Legitimation fanden. Jetzt, nahezu 66 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, stelle ich mir immer noch die Frage, wie es möglich war, dass so viele unschuldige Menschen ermordet werden konnten.
Unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers im Jahre 1933 wurde der demokratische Rechtsstaat in schnellem Tempo zerschlagen. Politische Gegner wurden eingesperrt und auch Sinti und Roma wurden seinerzeit schon in die ersten Konzentrationslager abtransportiert.
Der Antisemitismus und der Antiziganismus können in Nazi-Deutschland doch niemandem entgangen sein, ebenso wenig die Politik, dies in Form konkreter antijüdischer und gegen sogenannte „Zigeuner“ gerichteter Maßnahmen und Verfolgungen ins Werk zu setzen. Die Nazis ließen keinen Zweifel aufkommen: weg mit den „Zigeunern“, weg mit den Juden, die sie beide als Gefahr betrachteten. Dass es den Sinti und Roma sowie den Juden schlecht ergehen würde, war klar.
Sinti und Roma sind nach Einführung der Nürnberger Rassengesetze im Jahre 1935, ebenso wie die Juden, aus rassischen Gründen verfolgt worden. Juden und „Zigeuner“ wurden als „fremdrassig“ definiert und all ihrer Rechte beraubt. Sie wurden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Dem lag eine besondere Strategie zugrunde. Eine Strategie, die ich als „Salami-Taktik“ definieren möchte. Immer einen Schritt weiter, was letztlich in einer ganzen Reihe von Maßnahmen gipfelte: Identifizieren, erfassen, isolieren, berauben, ausbeuten, deportieren und schließlich ermorden.
Für die Olympischen Spiele des Jahres 1936 sollte Berlin „zigeunerfrei“ gemacht werden. Sinti und Roma wurden aufgegriffen und in ein Internierungslager im Berliner Vorort Marzahn abtransportiert, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen leben mussten. In den darauf folgenden Jahren wurden immer mehr Sinti- und Roma-Familien interniert, bis dann im Laufe des Jahres 1943 auf Befehl Himmlers nahezu alle Gefangenen nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurden.
Im Jahre 1936 wurde hier in Berlin unter der Leitung von Dr. Robert Ritter die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ gegründet. Hier wurden Menschen fotografiert, es wurden ihre Gesichter und Körper vermessen und allerlei rassische Besonderheiten festgelegt. Der Reichsführer-SS Heinrich Himmler befahl der Forschungsstelle im Jahre 1938 die Erfassung aller Sinti und Roma im Deutschen Reich. 24.000 so genannte „Rassegutachten“ wurden von Dr. Ritter und seinen Mitarbeitern verfasst – dies alles diente der Vorbereitung des Völkermords an den Sinti und Roma.
In der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Ärztebundes schrieb Dr. Kurt Hannemann im Jahre 1938, ich zitiere: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. […] Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen“. Dies, meine Damen und Herren, bedarf meiner Ansicht nach keiner näheren Erläuterung. Das ist Irrsinn in höchster Form.
Diese Art von Einlassungen trugen das ihre zur herrschenden Atmosphäre bei und verschafften den Nazis die Legitimation, diese von ihnen so bezeichneten „Untermenschen“ schließlich im großen Maßstab zu ermorden. Es gab im nationalsozialistisch besetzten Europa keine Familie unter den Sinti und Roma, die nicht vom Holocaust betroffen war.
Xenophobie, die Angst vor dem Fremden und den Fremden, gab es zu allen Zeiten. Für Sinti und Roma waren Verfolgung und Ausgrenzung nichts Neues. Seit Jahrhunderten wurden wir verfolgt und ausgeschlossen. Pogrome kamen regelmäßig vor. Deshalb hatten wir häufig keine Chance, ein normales Leben aufzubauen, zur Schule zu gehen und einen normalen Beruf auszuüben. Viele von uns wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Leider sind Xenophobie und Rassismus in großen Teilen Europas und des Rests der Welt immer noch hochaktuell.
Im Gegensatz zu den Juden, die vielfach nach ihrem Eintreffen in den Vernichtungslagern und nach der Selektion sofort vergast wurden, hat man Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau im Familienverband im sogenannten „Zigeunerlager“ interniert. Nach dem Aufstand im „Zigeunerlager“ im Mai 1944 wurden fast alle Männer aus dem „Zigeunerlager“ ausgesondert und in andere Konzentrationslager verlegt. Mein Vater, mein Onkel und andere Familienmitglieder wurden nach Mittelbau-Dora abtransportiert, wo sie in der unterirdischen Waffenindustrie unter erbärmlichsten Umständen arbeiten mussten. Sie sind dort ums Leben gekommen: „Vernichtung durch Arbeit“.
Die Bedingungen im „Zigeunerlager“ waren unvorstellbar. Hunger, Kälte und ansteckende Krankheiten forderten Tag für Tag ihren Tribut. Ich muss häufig an all die Mütter, auch meine Mutter, denken, die sich um ihre Kinder sorgten und sich das Essen vom Mund absparten, um ihre Kinder am Leben zu erhalten. Sie mussten in manchen Fällen erleben, dass an ihren Kindern die fürchterlichsten medizinischen Experimente durchgeführt wurden. Heute wissen wir, zu was das letztendlich führte. Wir können uns heute nur schwer eine Vorstellung von den unvorstellbaren Leiden machen, die diese Menschen erlitten haben. In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurden die verbliebenen 2.900 Frauen, Kinder und alten Menschen aus dem „Zigeunerlager“ vergast, darunter auch meine Mutter und meine zwei Schwestern und mein Bruder.
Meine Damen und Herren, der Völkermord an den Sinti und Roma ist immer noch ein, wie ich es nenne, „vergessener Holocaust“. Ein vergessener Holocaust, weil ihm in den Medien nach wie vor wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Ich frage mich, warum das so ist. Sind die Opferzahlen ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit, die einem zuteil wird, oder ist das Leid eines einzelnen Menschen wichtig?
Ich habe in den zurückliegenden Jahren Dutzende von Gedenkreden gehört, in denen die Redner in keiner Weise an das Schicksal der Sinti und Roma erinnert haben. Eine halbe Million Sinti und Roma – Männer, Frauen und Kinder – wurden im Holocaust ausgerottet. Nichts oder fast nichts hat die Gesellschaft daraus gelernt, sonst würde sie heute verantwortungsvoller mit uns umgehen.
Deshalb müssen wir weitermachen, wir müssen über den Holocaust immer wieder berichten. Ich engagiere mich im holländischen Verband der Sinti und Roma und bin Mitglied im Nationalen und im Internationalen Auschwitz-Komitee. Ich spreche oft in Schulen, und es ist meine Pflicht gegenüber meiner gesamten ermordeten Familie, dazu beizutragen, dass dies niemals vergessen wird.
Sinti und Roma waren nach dem Krieg nicht organisiert und hatten folglich auch keine Stimme. Aus diesem Grund wurden wir auch nicht gehört. Es dauerte bis in die Siebzigerjahre, bis Selbsthilfeorganisationen entstanden und wir unsere Stimme erhoben haben und diese Gehör fand. Vielleicht tragen Sinti und Roma auch selbst Verantwortung für die geringe Aufmerksamkeit, die unsere Tragödie erfährt. Innerhalb unserer Kultur ist es nämlich nicht üblich, mit Außenstehenden über die Schrecken jener Zeit zu sprechen. Nur wenige sind bereit, ihre Erfahrungen zu Papier zu bringen oder mit anderen zu teilen.
Eine große Ausnahme dazu bildete der Protest während der Ostertage des Jahres 1980. Seinerzeit hatte eine Gruppe von Sinti im früheren Konzentrationslager Dachau als Protest gegen die rassistischen Erfassungsmethoden von Sinti und Roma durch Justiz und Polizei einen Hungerstreik begonnen. Es ist unglaublich, aber diese Erfassung stützte sich auf Akten aus der Nazi-Zeit und wurde teilweise sogar von früherem SS-Personal durchgeführt. Dieser Hungerstreik hat in den Medien seinerzeit, dies gilt gewiss für Deutschland, aber auch darüber hinaus, viel Aufmerksamkeit erregt und für mehr Verständnis für die Schrecken geführt, die unserem Volk während der Nazi-Herrschaft angetan wurden.
Meine Damen und Herren, der 17. März 1982 ist für die Gemeinschaft der Sinti und Roma ein historisches Datum. An diesem Tag empfing der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma unter Leitung des Vorsitzenden Romani Rose. Dabei vollzog der Bundeskanzler einen völkerrechtlich ausgesprochen wichtigen Schritt, in dem er das gegenüber den Sinti und Roma begangene nationalsozialistische Verbrechen als einen Völkermord anerkannte, der auf der Grundlage des Begriffs der „Rasse“ begangen wurde. Diese Aussage wurde durch seinen Nachfolger Helmut Kohl im November 1985 nochmals bestätigt. Bei der Eröffnung der Dauerausstellung über den Holocaust an den Sinti und Roma in Heidelberg durch den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Jahre 1997 erklärte auch er, dass der Genozid an den Sinti und Roma aus denselben rassischen Motiven heraus begangen wurde wie der Genozid an den Juden. Mit ungefähr 12 Millionen Menschen sind Sinti und Roma die wahrscheinlich größte Minderheit in Europa. Unsere Wurzeln liegen weit zurück im alten Indien. Insbesondere Linguisten haben diesen Zusammenhang hergestellt. Unsere Sprache, das Romanes, ist mit dem alten Sanskrit verwandt. Bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde von Sinti und Roma in großen Teilen Europas berichtet. Entgegen vieler Klischeevorstellungen waren unsere Menschen Bestandteil der Gesellschaft ihres Landes, in dem sie lebten und arbeiteten. Sie leisteten auf positive Weise einen Beitrag zur Kultur ihrer Heimat. Sie waren Arbeiter, Handwerker oder Angestellte, Kaufleute oder Künstler.
Ich bin gebeten worden, Ihnen meine persönliche Geschichte und damit auch die Geschichte aller anderen vom Nazi-Regime verfolgten und ermordeten Sinti und Roma zu erzählen. Sie werden verstehen, dass es für mich nicht einfach ist, weil es mich in die traumatischste Phase meines Lebens zurückführt. Meine Damen und Herren, wir waren eine glückliche, angesehene und respektierte Familie. Mein Vater war Musiker und Instrumentenbauer und verkaufte Musikinstrumente. Darüber hinaus spielte er in unserem Familienorchester und hatte in verschiedenen Städten in Holland Engagements. Im Jahr 1943 begannen die Nazis bereits im großen Maßstab von den Niederlanden aus Juden nach Auschwitz und in andere Lager zu deportieren. Zu dieser Zeit hatten wir in Zutphen ein Geschäftshaus gemietet, in dem mein Vater Musikinstrumente reparierte und verkaufte.
Während der Besatzung der Niederlande führten die Nazis allerlei Maßnahmen ein, mit denen sie die Berufsmöglichkeiten für Sinti und Roma einschränken wollten. Diese einschränkenden Maßnahmen kennzeichneten den Beginn der Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma in den Niederlanden. In Deutschland und den anderen von den Nazis besetzten Gebieten waren die Deportationen von Sinti und Roma seinerzeit bereits in vollem Gange.
Der 16. Mai 1944, meine Damen und Herren, ist der schlimmste Tag in der Geschichte der niederländischen Sinti und Roma. Die Nazis hatten angeordnet, dass in einer Großrazzia in den gesamten Niederlanden sämtliche „Zigeuner“ inhaftiert und in das Durchgangslager Westerbork überstellt werden sollten – dies in Erwartung ihrer Deportation nach Auschwitz. Dabei wurden sie von der niederländischen Polizei unterstützt. Nach der Ankunft in Westerbork wurden die Sinti und Roma unverzüglich in der Strafbaracke interniert und kahlgeschoren.
Am Morgen dieser Razzia war ich nicht zu Hause. Ich hatte bei meiner Tante übernachtet, die sich mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf versteckt hatte. Das Gefühl, das einen durchfährt, wenn man erfährt, dass der eigene Vater, die eigene Mutter, die Schwestern und der Bruder von den Nazis aufgegriffen worden sind, ist nicht zu beschreiben. Man wird von Angst, Verzweiflung und Panik ergriffen. Wir mussten so schnell wie möglich untertauchen. Wir trugen ein wenig Kleidung zusammen, nahmen das Essen, das wir noch hatten, und tauchten in den Wäldern unter und versteckten uns bei Bauern. Eine kleine Gruppe von neun Menschen. Unsere Angst und Ungewissheit waren unbeschreiblich.
Nach drei bangen Tagen und Nächten wurden auch wir festgenommen und zum Abtransport ins Durchgangslager Westerbork verbracht, wo wir mit unserer Familie zusammengeführt werden sollten. Der 19. Mai war der Tag, an dem der sogenannte „Zigeunertransport“ von Westerbork abging. Meine Damen und Herren, der Zufall wollte es, dass dies der einzige Transport aus Westerbork war, von dem Filmaufnahmen angefertigt wurden. Vermutlich kennen Sie das Bild des zwischen den Waggontüren stehenden Mädchens. Das Mädchen trug eine Kopfbedeckung, vermutlich weil es sich für seinen kahlgeschorenen Kopf schämte.
Dieses Bild war für viele Jahre das Bild der Judenverfolgung, bis ein niederländischer Journalist, Ad Wagenaar, entdeckte, dass es sich bei dem Mädchen nicht um eine Jüdin, sondern eine Sintezza, ein Sinti-Mädchen mit Namen Settela Steinbach handelte. Dieser „Zigeunertransport“ hatte Westerbork bereits verlassen. Es war nicht möglich, uns noch rechtzeitig auf diesen Transport zu bekommen. Man brachte uns also zu einem dreißig Kilometer entfernt gelegenen Bahnhof, um uns dort auf den Transport zu setzen und uns so gemeinsam mit den anderen Sinti, Roma und Juden nach Auschwitz zu deportieren.
Ich erinnere mich an jedes kleinste Detail dieses Bahnhofs. Wir warteten auf dem Bahnsteig, als der Zug einlief. Soldaten und Polizei liefen umher, stampften mit den Füßen auf und brüllten: „Schnell, schnell, einsteigen!“ Ich sah sofort, wo unsere Familie war. Mein Vater hatte den blauen Mantel meiner Schwester vor die Gitterstäbe des Viehwaggons gehängt, ich erkannte ihn sofort. Es war ein Mantel aus einem weichen blauen Stoff. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich heute noch, wie herrlich weich sich der Mantel meiner Schwester anfühlte. Auch wir sollten mit auf diesen Transport nach Auschwitz gehen.
Meine Damen und Herren, in manchen Fällen übertrifft die Realität die Vorstellungskraft. Mit Hilfe eines „guten“ Polizeibeamten, wahrscheinlich ein Mitglied der Widerstandsbewegung, ist es uns gelungen, der Deportation zu entgehen – wie in Gottes Namen war dies möglich? Der Polizist hatte uns vorher eingeschärft: „Ich gebe euch ein Zeichen, dann lauft um euer Leben.“ Hier stand der Zug nach Auschwitz: die Viehwaggons und darin meine ganze Familie. Auf der anderen Seite vom Bahnsteig stand ein normaler Personenzug. Als der Polizist seinen Hut abnahm, sind wir losgerannt und konnten in all dem Durcheinander auf den losfahrenden Personenzug aufspringen und so entkommen.
Das letzte Bild, das ich vor mir sehe, ist der Zug nach Auschwitz auf dem anderen Bahngleis. In diesem Augenblick sah ich, wie der Zug nach Auschwitz abfuhr. Mein Vater schrie voller Verzweiflung aus dem Viehwaggon meiner Tante zu: „Moezla, pass gut auf meinen Jungen auf“. Das war das Letzte, was ich von meinen Lieben sah. Dieses Bild hat sich für immer in meine Netzhaut eingebrannt.
Ich war allein. Als Kind von sieben Jahren hatte ich alles verloren und fiel in ein unermesslich tiefes Loch. Leider geschieht dies jetzt, heute, in großen Teilen der Welt immer noch, und Kinder werden Opfer von Gewalt.
Nach dieser wundersamen Flucht folgte eine Zeit der Entbehrungen und der Angst im Versteck. Tag für Tag die Angst, aufgegriffen zu werden. Versteckt in Wäldern, bei Bauern, in alten Fabriken und schließlich bei meinen Großeltern – bis zum Augenblick der Befreiung durch die Alliierten im Frühjahr 1945.
Nach der Befreiung kam die Unsicherheit. Vielleicht war sie noch schlimmer als die Angst während des Krieges. Lebte meine Familie noch, würde sie zurückkehren? Das Durchforsten der endlos langen Listen des Roten Kreuzes mit den Namen der ermordeten Menschen. Sie alle waren in Nazi-Konzentrationslagern ermordet worden. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern, mein kleiner Bruder und 21 Familienangehörige.
Nach der Befreiung gab es keine Stellen, die sich mit dem Schicksal der Sinti und Roma befassten oder Hilfe boten. Die Juden hatten mit der Betreuung der eigenen Leute alle Hände voll zu tun und konnten uns keine Hilfe bieten. Die Behörden taten nichts. Später beschrieb die niederländische Regierung dies wie folgt, ich zitiere: „Die Betreuung, wenn es sie denn gab, war frostig und distanziert“.
Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs sind innerhalb unserer Gemeinschaft heute noch ganz klar zu spüren. Unsere zweite und sogar noch die dritte Generation spürt die Last dieser Vergangenheit. Wir wurden unserem Schicksal überlassen. Die jahrhundertelange Geschichte von Stigmatisierung, Ablehnung und Ausgrenzung wiederholte sich. Nach dem Krieg mussten Sinti und Roma versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen. Vielen hatte man ihren gesamten Besitz genommen. Hilfe gab es nur sporadisch. Diejenigen, die die Nazi-Lager überlebt hatten, wurden innerhalb der eigenen Gemeinschaft aufgefangen. Langsam kam das Leben wieder in Gang, konnten Musikinstrumente gekauft und konnte Handel getrieben werden.
Meine Damen und Herren, schon in recht jungen Jahren habe ich begriffen, dass nur Bildung und Entwicklung der Weg in eine bessere Zukunft ist. Nach der Grundschule studierte ich Gartenbau, Floristik, Garten- und Landschaftsarchitektur sowie Kunstgeschichte. Alles über Abendschulen und spezielle Kursangebote.
1962 eröffnete ich mein eigenes Blumengeschäft in Amsterdam und gründete kurz danach eine Ausstellungs- und Veranstaltungsfirma. Alles mit großer Unterstützung meiner Frau, die mir auch noch zwei wunderbare Kinder schenkte. Für vier Generationen unseres Königshauses durfte ich arbeiten. Unter anderem habe ich bei der Krönungsfeier von Königin Beatrix und der Hochzeit unseres Kronprinzen Willem Alexander den Blumenschmuck entworfen.
Im Laufe der Jahre habe ich zahlreiche große Ausstellungen geplant und durchgeführt und in den USA, Kanada und den meisten europäischen Ländern niederländische Blumen und Pflanzen vermarktet. In Anerkennung und Wertschätzung meiner Tätigkeit für die niederländische Blumenindustrie sowie meines Einsatzes für die Sinti und Roma in den Niederlanden und auch darüber hinaus wurde mir im Jahre 2002 aus den Händen von Königin Beatrix eine hohe königliche Auszeichnung zuteil: Ich wurde Offizier des Ordens von Oranje-Nassau.
Heute erinnern wir an die Schrecknisse der Nazi-Ära, doch erlauben Sie mir, etwas zur Stellung von Sinti und Roma, meinem Volk, im heutigen Europa zu sagen. In zahlreichen Ländern sind wir die älteste Minderheitengruppe. Es ist menschenunwürdig, wie Sinti und Roma, insbesondere in vielen ost- und südosteuropäischen Ländern wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien, behandelt werden. Der weitaus größte Teil ist chancenlos, hat keine Arbeit, keine Ausbildung und steht ohne ordentliche medizinische Versorgung da. Die Lebenserwartung dieser Menschen ist wesentlich geringer als die der dort lebenden „normalen“ Bürger. Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung sind an der Tagesordnung.
In Ungarn ziehen Rechtsextremisten wieder in schwarzer Kluft umher und schikanieren und überfallen Juden, Sinti und Roma. Neonazis haben Roma ermordet, darunter einen fünfjährigen Jungen. Es gibt in Gaststätten und Restaurants wieder Schilder mit der Aufschrift „Für Zigeuner verboten“. Die Geschichte wiederholt sich. Diese Länder sind vor Kurzem erst der Europäischen Gemeinschaft beigetreten, bezeichnen sich selbst als kultiviert. Schon im Oktober 2000 hat Günther Grass in seiner vor dem Europarat gehaltenen Rede vor dem aufkommenden Rechtsradikalismus gewarnt – Gruppierungen, die vor Gewalt gegenüber Minderheiten nicht zurückschrecken. Er sprach auch über die Vorurteile, über die Diskriminierung und die Benachteiligung von Sinti und Roma. Vorurteile, die seit dem Beitritt der neuen EU-Staaten in der Summe nur zugenommen haben.
Es ist kein Wunder, dass seit einigen Jahren insbesondere Roma auf der Suche nach einem besseren Leben und nach Zukunft für ihre Kinder nach Westeuropa kommen. In manchen Ländern Westeuropas wie Italien und Frankreich wird man dann wieder diskriminiert, ausgegrenzt und lebt unter menschenunwürdigen Umständen in Ghettos.
Man wird wieder des Landes verwiesen und in das Herkunftsland abgeschoben. Diese Menschen sind jedoch Einwohner von Ländern, die der Europäischen Gemeinschaft angehören. Die Europäische Kommission hat in Person ihrer Vizepräsidentin Viviane Reding mit deutlichen Worten gegen diesen nicht hinnehmbaren Zustand Stellung bezogen. Ich hoffe, dass man die betreffenden Regierungen darauf auch weiterhin ansprechen wird. Wir sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte wie jeder andere Einwohner haben, mit gleichen Chancen, wie sie für jeden Europäer gelten.
Es kann und darf nicht sein, dass ein Volk, das durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte enden, indem ich die Hoffnung ausspreche, dass unsere Lieben nicht umsonst gestorben sind. Wir müssen ihrer auch künftig gedenken, wir müssen auch weiterhin die Botschaft des friedlichen Miteinanders verkünden und an einer besseren Welt bauen – damit unsere Kinder in Frieden und Sicherheit leben können.
Ich danke Ihnen.
Zur ausführlichen Biografie von Zoni Weisz als PDF-Datei zum Herunterladen: Zoni_Weisz
Kurzinfo zu Zoni Weisz: „Wir haben das Leben wieder in die Hand genommen.“
Zoni (Johan) Weisz wurde am 4. März 1937 in Den Haag geboren. Er war das älteste Kind von Jacoba und Johannes Weisz und hatte zwei Schwestern – Augusta und Johanna – sowie einen kleinen Bruder mit Namen Emil. Sein Vater arbeitete als angesehener Musiker und Instrumentenbauer. Ende der 1930er Jahre zog die Familie nach Zutphen, einer
Kleinstadt in der Mitte des Landes, wo der Vater ein Musikgeschäft eröffnete.