Seit einigen Wochen ist Thilo Sarrazin mit seinen Ausfälligkeiten gegen MigrantInnen in aller Munde. Die Bild-Zeitung hat sich von Anfang an die Verbreitung von dessen Botschaft zur eigenen Sache gemacht.
Von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Bild schürt Ängste vor vermeintlicher Überfremdung
In einer mehrtägigen Kampagne verbreitete die im Axel-Springer-Verlag erscheinende Zeitung mit dicken Balkenüberschriften einem Millionenpublikum die von Sarrazin geschürten Ängste vor vermeintlicher Überfremdung in Deutschland. Damit wurde systematisch Wut und Ressentiments ihrer überwiegend weniger wohlhabenden Leserschaft gegen angeblich schmarotzende Ausländer und gegen kulturell und genetisch angeblich minderwertige Einwanderer aus muslimischen Ländern angeheizt. Nach einer Woche Kampagne verkündete „Bild“ dann lauthals, dass fast 90 Prozent ihrer Leser der Meinung sind: „Er hat Recht!“. „Bild am Sonntag“ konnte Anfang September – ganz objektiv – stolz das Ergebnis einer Umfrage verkünden, wonach 18 Prozent der Befragten sich vorstellen können, eine Partei zu wählen, deren Vorsitzender Thilo Sarrazin heißt.
Regierungspolitiker surfen auf Sarrazin-Welle
Inzwischen scheint Sarrazins Saat aufzugehen. Immer mehr Politiker der Regierungsparteien surfen auf der von ihm ausgelösten Welle. Und die Bild-Zeitung trägt durch immer neue Artikel, die dieselben Ressentiments fördern, dazu bei, dass diese Welle an Kraft gewinnt.
Halbwahrheiten und Unsinn
Sarrazin erweckt durch die Verwendung einer Unzahl von Zahlen, Statistiken und Tabellen den Anschein von Seriosität. Aber selbst der SPIEGEL schreibt dazu: „Es enthält Fehlschlüsse und irrige Annahmen, unbewiesene Behauptungen und Scheinzusammenhänge“. Seine Ausführungen über den Zusammenhang von Genen und Intelligenz ignorieren konsequent alle modernen Erkenntnisse zur Intelligenz- und Genforschung. Stand der Forschung ist, dass es eben kein „Intelligenz-Gen“ gibt. Es wirken zahllose Gene auf das Gehirn ein – und ob sie überhaupt aktiviert werden, hängt wesentlich von äußeren Anregungen ab (siehe dazu einen informativen Artikel im SPIEGEL vom 6. September 2010).
Chef des Berliner Landeskriminalamts: Sarrazins Zahlen sind unzutreffend
Bei seinen Ausführungen zur Integration bezieht er sich sehr einseitig auf die Texte der „Multikulti ist gescheitert-Schule“. Er ignoriert konsequent Fachleute wie den Migrationsforscher Klaus Bade oder den Islamexperten Werner Schiffbauer, die zu ganz anderen Ergebnissen kommen. Was die von Sarrazin angeführten Zahlen zur Kriminalität von türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen angeht, werden diese sogar vom Chef des Berliner Landeskriminalamts, Peter Michael Haberer, als unzutreffend bezeichnet. Sarrazins Behauptungen, so Haberer, seien „weder bei enger Auslegung der Nationalitäten noch bei weiterer Auslegung der Staatszugehörigkeit mit Zahlen der offiziellen Kriminalitätsstatistik“ zu belegen (siehe SPIEGEL 6.9.2010).
Schriller Tonfall
Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. KritikerInnen wie die TAZ-AutorInen Ulrike Herrmann und Alike Wierth kommen nach der Lektüre von Sarrazins Buch zu den Ergebnis: „Thilo Sarrazin vermischt in seinem neuen Buch Halbwahrheiten mit Unsinn – das mit einem schrillen Tonfall.“ (TAZ 30.08.2010).
Bedienung von rassistischen Ressentiments
Wir vermuten, dass die überwiegende Mehrzahl der Bild-Leserschaft das über 400 Seiten umfassende Sarrazin-Werk weder gelesen hat, noch je lesen wird. Es reichte, dass mit plakativen Sprüchen die vorhandenen Ressentiments bedient wurden. Mit seinen Tiraden gegen MigrantInnen muslimischen Glaubens knüpft Sarrazin an vorhandene fremdenfeindliche Stimmungen in Teilen der Gesellschaft an. Schon eine 2006 publizierte Studie „Vom Rand zur Mitte“ und eine Erhebung aus dem Jahr 2008 mit dem Titel „Bewegung in der Mitte, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ machten deutlich, dass bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein faschistoide Einstellungen verbreitet sind. So meinten schon lange vor Sarrazin 15,4 Prozent der Deutschen, ein „Führer“ der Deutschland mit starker Hand regiert, wäre durchaus „zum Wohle aller“. Dass Ausländer nur hierher kämen, um den Sozialstaat auszunutzen, hielten 36,9 Prozent für eine zustimmungsfähige Aussage. Und gar 39,1 Prozent meinten, Deutschland sei „in einem gefährlichen Maß überfremdet.“
Kahlschläger gegen Sozialleistungen
Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Bild-Leserschaft bei Thilo Sarrazin keine besonders hohe Wertschätzung erfährt. Der Mann, der bevorzugt Nadelstreifenanzüge trägt und am liebsten mit hochgereckten Kinn und verschränkten Armen posiert, hat bei zahlenlosen Anlässen gezeigt, dass er für die niedrigen Stände dieser Gesellschaft wenig übrig hat. Er ist ein Sohn aus gutem Hause, der sich schon früh zielstrebig nach Oben orientierte und sich als Spitzenbeamter, als Manager staatlicher Unternehmen, Minister und Vorstand der Bundesbank seinen Platz unter den „oberen Zehntausend“ dieser Gesellschaft gesichert hat. Er zeichnet sich durch standesbewusstes elitäres Denken, zur Schau gestellte eitle Überlegenheitsgefühle und intellektuellen Dünkel aus. Nicht nur für die Unterschichten mit Migrationshintergrund, sondern durchaus auch für jene sozial Schwachen, die auf viele Generationen teutonischer Ahnen verweisen zu können glauben, hat er wenig übrig. Als Finanzminister in Berlin war er Verfechter einer gnadenlosen Sparpolitik zu Lasten der sozial Schwachen. Er hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass in Berlin immer mehr Menschen immer ärmer wurden. In wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen vertritt Sarrazin ein Programm „Westerwelle XXL“. Er hält die Hartz IV-Empfänger für „arbeitsunwillig und unbrauchbar“ und Löhne von 5 Euro pro Stunde für angebracht. Angesichts steigender Heizkosten im Winter verwehrt er Hartz IV-Empfängern Heizkostenzuschüsse und gibt ihnen stattdessen den Rat, einfach die Temperatur in den Wohnungen zu reduzieren und dicke Pullover anzuziehen. Als intellektueller Scharfrichter gibt er verächtlich machende Beschreibungen der vermeintlichen „Unterschicht“ zum Besten und versteigt sich zu Thesen, es mache keinen Sinn mehr Geld für Bildung von „Unterschichtkindern“ auszugeben.
Sarrazins Steilpass für Merkel
Für die Bundesregierung ist das rechtpopulistische Herumlärmen von Sarrazin so etwas wie ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Angesichts ihrer offenkundigen Klientelpolitik zugunsten der reichen Minderheit hat sie stark an Popularität eingebüßt. Ihre Umfragewerte sind dramatisch in den Keller gegangen. Vier von fünf Bundesbürgern halten das „Sparpaket“ für sozial unausgewogen. Momentan sieht sie sich mit der Ungewissheit konfrontiert, ob es nicht anlässlich der im Herbst vorgesehen Verabschiedung der Spargesetze im Parlament nicht doch zu größeren sozialen Protesten kommt. Da kommt die von Sarrazin provozierte Debatte äußerst gelegen. Kein Wunder, dass dort der von Sarrazin gespielte Ball sofort aufgegriffen wird.
Teile und herrsche
Wenn alle Welt sich über angeblich integrationsunwillige Einwanderer erregt, rücken die von der Bundesregierung geplanten sozialen Grausamkeiten aus dem Blickfeld. Dieses Muster funktioniert in einigen anderen europäischen Ländern wie Holland, Österreich oder Dänemark ja bereits ganz gut. Es ist das alte und in der Geschichte oft betriebene zynische Spiel der Geld- und Machteliten: Der Zorn der Menschen über reale Ungerechtigkeiten wird auf Sündenböcke abgelenkt. Solange die sozial Benachteiligten sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, sind sie, die Herrschenden, fein raus.
Trennlinie verläuft zwischen Arm und Reich
Wenn ArbeiterInnen, kleine Angestellte oder gar Arbeitslose der fremdenfeindlichen Hetze auf den Leim gehen, schießen sie sich selbst ins Knie. Denn die Person Sarrazin verkörpert wie kaum ein anderer, was Dichtung und was Wirklichkeit ist. Die Trennlinie in unserer Gesellschaft verläuft nicht zwischen Türken und Deutschen, Schwarz und Weiß, Muslimen und Christen, sondern zwischen Arm und Reich.
Bundesregierung lässt Integrationskurse finanziell aushungern
Anfang September war die Bundesregierung voll des Lobs auf sich selbst. Sie pries die vom „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ organisierten Integrationskurse als Königsweg zur Integration an und drosch gleichzeitig verbal auf MigrantInnen ein, weil diese angeblich die ausgestreckte Hand nicht annähmen.
Von Paul Michel, Schwäbisch Hall
Zerrbild der Wirklichkeit
Innenminister Thomas DeMaiziere wiederholte in diesem Zusammenhang die von Sarrazins in die Welt gesetzte Behauptung, wonach es „vielleicht 10 bis 15 Prozent wirklichen Integrationsverweigerern“ gebe. Dass Sarrazin niemals einen Beleg für seine Behauptung vorgelegt hat, war für DeMaiziere und andere Politiker kein Grund, diesen Unsinn nicht zu wiederholen. Damit die Stammtische das bekamen, wonach es ihnen dürstete, schob der Innenminister die populistische Drohung hinterher: Wer sich den Integrationskursen entziehe, müsse mit „konsequent angewandten“ Strafen rechnen. Das von der Bundesregierung gezeichnete Bild ist ein Zerrbild der Wirklichkeit. Fakt ist: Die Nachfrage nach den Integrationskursen ist sehr hoch, gerade bei länger in Deutschland lebenden Migranten. 94 Prozent aller zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichteten türkischen Neuzuwanderern haben an den entsprechenden Sprachkursen teilgenommen. Die anderen konnten etwa wegen Schwangerschaft, Erkrankung oder ähnlichem nicht teilnehmen.
Zugelassene Teilnehmer müssen monatelang auf Kurse warten
Bei seinen von der Presse begierig aufgegriffenen PR-Auftritten verlor der Innenministers kein Wort über einen Umstand, auf den zunächst der Paritätische Wohlfahrtverband und dann die ARD-Politsendung „Report Mainz“ hinwiesen: Im Juli 2010 hatte eben er, der Bundesinnenminister, für 2011 drastische Kürzungen bei den Integrationskursen verfügt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte quasi im Vorgriff auf diese Kürzungen bereits im Juli 2010 mit, dass zugelassene Teilnehmer zu den Integrationskursen künftig mindestens drei Monate bis zum Kursbeginn warten müssten. In vielen Fällen könnte die Zulassung sogar erst 2011 erfolgen.
Bei Politikern hat Integration keinen hohen Stellenwert
Nach Angaben des Deutschen Volkshochschulverbandes warten rund 20 000 MigrantInnen in Deutschland seit Monaten auf einen Platz in einem Integrationskurs. Längere Wartezeiten wegen Sparmaßnahmen Bildungsträger, die Integrationskurse anbieten, übten daraufhin Kritik an dieser Maßnahme. „Es gibt Schwierigkeiten bei den Integrationskursen“, sagte etwa Mark Zychski von der Berliner Sprachenschule BSI zu Spiegel Online. Report Mainz zitiert eine Lehrerin, die in Integrationskursen unterrichtet: »Was sollen die Leute diese sechs Monate machen? Sie sollen sich doch integrieren. Sie müssen auch kommunizieren. Und wenn sie jetzt allein zu Hause sechs Monate sitzen, dann gibt es keine Kommunikation. Nina Helma vom Münchner Integrationskursträger Klartext stellte gegenüber Spiegel Online fest: „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erschwert mit neuen Maßnahmen die Teilnahme an Integrationskursen. Die Verschärfungen stehen konträr zu der Aussage von Politikern, dass Integration einen extrem wichtigen Stellenwert haben soll“.
Bundesregierung agiert scheinheilig
Der Paritätische Wohlfahrtsverband bezeichnet die allerorts gegen Einwanderer vorgebrachte Anschuldigung der mangelnden Integrationsbereitschaft seitens der Bundesregierung als scheinheilig. Im Gegensatz zu den von De Maiziere vorgetragen Anschuldigungen an die Adresse der Zuwanderer waren diese Meldungen den Medien lediglich Kurzmeldungen auf den hinteren Seiten wert:
Streichungen bei Fahrtkostenzuschüssen und Lehrerfortbildung
Auch die Fahrtkostenerstattung für MigrantInnen wurde zusammengestrichen. Künftig wird nur noch die Fahrt zum nächstgelegenen Träger erstattet. Falls diese Schulen ausgebucht sind, müssen die Teilnehmer warten, statt auf andere Schulen ausweichen zu können. Was das bedeutet, zeigte Report Mainz am Beispiel der Zuwanderin Karmara Maureen aus Neuwied: Ihre nächste Schule hat in diesem Jahr keine freien Plätze mehr. Im nahen Koblenz könnte die Hartz-IV-Empfängerin schon jetzt einen Deutschkurs belegen, um danach studieren zu können. Das wäre bis vor kurzem noch möglich gewesen, dank der Sparmaßnahmen von Minister De Maiziere jetzt aber nicht mehr. »Das versteh ich absolut. Und ich weiß, dass Sie angewiesen sind auf die Fahrtkosten, aber Sie bekommen die Fahrtkosten definitiv nicht mehr«, kommentiert das eine in diesem Bereich tätige Lehrerin. Nicht genug damit. Außerdem wird die vorgeschriebene Qualifizierung der Lehrer von Integrationskursen nicht mehr bezuschusst. Die meisten der in Integrationskursen tätigen Lehrer sind schlicht nicht in der Lage, die Kosten für ihre Weiterbildung selbst zu tragen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlingen hat in einer Studie festgestellt, dass die Bezahlung dieser Lehrkräfte weit unter der jener Kollegen liegt, die regulär im staatlichen Schuldienst beschäftigt sind. Laut dieser Studie verdienen Deutschlehrer für MigrantInnen durchschnittlich 18,35 Euro brutto – ohne Vorbereitungszeit und ohne Sozialversicherung. Da bleiben schon mal nur knapp über sieben Euro netto übrig. Report Mainz lässt einen Lehrer zu Wort kommen: »Das ist ein Hungerlohn, was wir bekommen, ganz klar. Das entspricht überhaupt nicht der Aufgabe. Man sagt immer, Integration ist ein wichtiges Thema, Bildung ist Topthema Nummer eins. Das sagen alle. Wir machen diese Aufgabe und bekommen im Prinzip nichts dafür.«
Regierungsparteien schweigen – das spricht Bände
Der GEW-Vorsitzende Thöne sagte dazu gegenüber REPORT MAINZ: „Die Tatsache, dass bei einer so qualifizierten Tätigkeit so hundsmiserabel bezahlt wird, ist ein Skandal. Mit der Streichung der Zuschüsse drücke ich eine ohnehin unhaltbare Situation noch tiefer. Und das mit der Begründung, es ist kein Geld da.“ Die Koalition verweigerte in einer Debatte im Innenausschuss des Deutschen Bundestages eine Klarstellung des Sachverhaltes: Ein von den Oppositionsparteien geforderter Bericht über die geplanten Kürzungen im Bereich der Integrationskurse wurde ebenso wie eine Debatte über die geplanten Kürzungen mit der Stimmenmehrheit von der CDU, CSU und FDP abgelehnt. Ein Schweigen, das Bände spricht.