Jochen Dürr aus Schwäbisch Hall war gestern (Samstag, 5. Juni 2010) bei der Free-Gaza-Kundgebung in Stuttgart. Er verschickte anschließend eine „Argumentationsgrundlage“ von Christine Buchholz, der friedenspolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE zur Free-Gaza-Bewegung.
Von der Partei Die Linke
Diskussionsveranstaltung in Schwäbisch Hall geplant
Für Jochen Dürr gibt es nach eigenen Angaben „keine unkritische Unterstützung der Proteste gegen den Angriff der israelischen Armee gegen die GAZA-Hilfsflotte“. Ein wichtiger Punkt sei die gegenseitige Anerkennung eines eigenes Staates. Das Existenzrecht von Irsael ist „aus seiner Sicht als Antifaschist ausdrücklich eingeschlossen“. Nach Jochen Dürrs Angaben gibt es in Schäbisch Hall derzeit Bemühungen, eine Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema zu organisieren. Dazu möchte er schon heute alle Leserinnen und Leser von Hohenlohe-ungefiltert einladen.
Argumente zur Free-Gaza-Bewegung von Christine Buchholz, friedenspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE:
Wer sind die Organisatoren der Free-Gaza-Bewegung?
CHRISTINE BUCHHAOLZ: Die Free-Gaza-Bewegung hat zahlreiche internationale Unterstützerinnen und Unterstützer aus verschiedenen Ländern. Menschen aus unterschiedlichen politischen Bewegungen, Sprachen und Religionen eint das Ziel, die Blockade Gazas zu beenden. Unter den 700 internationalen Aktivisten befand sich unter anderem der schwedische Krimiautor Henning Mankell. Auf einem weiteren Schiff der Free-Gaza-Bewegung versuchen derzeit der irische Nobelpreisträger Mairead Corrigan-Maguire and der ehemalige UN-Koordinator für humanitäre Hilfe im Irak, Denis Halliday, die Blockade Gazas zu durchbrechen. Der türkischen Hilfsorganisation IHH, Stiftung für Menschenrecht und Freiheit, die das von Israel angegriffene Boot „Mavi Marmara“ gechartert hatte, wird von einigen Medien vorgeworfen, eine islamistische Organisation zu sein. Die IHH unterhält unter anderem ein Büro im Gaza-Streifen, das auch mit der seit 2006 gewählten Hamas-Regierung in Kontakt steht. Auch die EU, die Türkei und die UN unterhalten Beziehungen zur Hamas. Als Regierung ist die Hamas für die IHH der Ansprechpartner für die Hilfslieferungen im Gaza. Die IHH berät unter anderem den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Die zur Hilfe für die Opfer des Bosnien-Krieges in den 1990er Jahren gegründete Stiftung ist in mehr als 120 Ländern weltweit aktiv – auch in Regionen, wo der Islam keine Rolle spielt. Sie hat unter anderem 30.000 Augenerkrankungen in Afrika behandelt, unterstützt Nichtregierungsorganisationen in den kurdischen Gebieten und schickte dieses Jahr 33.000 Tonnen Hilfsgüter nach Haiti. „Dort haben wir Hilfsgüter für eine Million Dollar verteilt“, sagt IHH-Vize Dede. „Und zwar in einer Kirche.“
Warum haben sie die Hilfsgüter nicht auf dem Landweg geliefert, was Israel den Organisatoren angeboten hatte? Täglich werden doch tonnenweise Hilfsgüter nach Gaza geliefert?
Die Free Gaza-Flotte hatte nicht den Anspruch, die Versorgungslage im Gaza-Steifen signifikant zu verbessern. Es ging darum, durch eine große symbolische Aktion auf die anhaltende Blockade des Gaza-Streifens aufmerksam zu machen, und einen Beitrag zu leisten, sie zu beenden. Dass nebenbei auch noch dringend benötigte Waren geliefert werden sollten, war ein praktischer Seiteneffekt – angesichts der Lage im Gaza-Streifen aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Flotte hatte rund 10.000 Tonnen Güter an Bord, aber der tägliche Bedarf an humanitärer Hilfe liegt bei über 20.000 Tonnen. Die UNO liefert täglich im Schnitt rund 15.000 Tonnen Hilfsgüter in den Gazastreifen. Diese Waren kommen über Israel in den Gaza-Streifen. Israel verlangt für die Sicherheitsüberprüfung pro Container 1.500 US-Dollar. Die Prüfung kann Wochen dauern. Während dieser Zeit verlangt Israel weitere Lagerungsgebühren. Leicht verderbliche Ware, wie frisches Obst und Gemüse, kann unter diesen Umständen praktisch nicht geliefert werden.
Letzten Endes entscheiden dann die israelischen Beamten vor Ort, was durch kann und was nicht. In letzter Zeit wurden zum Beispiel gefrorene Lachshälften durchgelassen, Instantkaffee aber als Luxus zurück gewiesen. Aber die entscheidende Frage ist nicht, ob humanitäre Hilfe durchgelassen wird oder nicht. Die Menschen im Gaza-Streifen sind auf diese nur deshalb angewiesen, weil Israel sie seit über drei Jahren belagert. Israels Blockade unterbindet einen normalen Warenaustausch mit der Außenwelt. Selbst die Baumaterialien, die gebraucht werden, um die Schäden der israelischen Bombardierungen vor mittlerweile 18 Monaten zu beheben, lässt Israel nicht durch. Die gelieferten Mengen Treibstoff hält Israel willkürlich gering, so dass Fahrzeuge nicht regelmäßig benutzt werden können, Baumaschinen nicht funktionieren, die Stromversorgung regelmäßig unterbrochen ist. Deswegen sind etwa 80 Prozent der Bevölkerung von UNO-Hilfen abhängig. Deswegen liegt die Arbeitslosigkeit bei über 70 Prozent. Deswegen müssen die Menschen dort Wasser trinken, das nach internationalen Standards kein Trinkwasser ist.
Gegen Verbrechen zu protestieren war das wichtigste Ziel
Gegen dieses Verbrechen zu protestieren, das war das wesentliche Ziel der Free Gaza Flotte. Die Behauptung, die Waren hätten auch nach Israel und von dort auf dem Landweg nach Gaza gebracht werden können, ist falsch. Das Angebot war, die Waren der UNO zu übergeben, wo sie das selbe Schicksal aller anderen Hilfslieferungen erlitten hätten – ohne die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Da die Schiffe zu einem Großteil Beton und andere Baumaterialien geladen hatten, wäre diese eben nicht nach Gaza gekommen. Jetzt, wo die Welt auf diese Lastwagen blickt, haben sie tatsächlich angeboten, sie durch zu lassen. Aber was ist mit all den anderen Waren, die am Grenzübergang warten? Auf die schaut niemand und deshalb ändert sich für diese Lieferungen nichts. Die einzige wirkliche Hilfe für die Palästinenser wäre es, wenn die internationale Gemeinschaft den Druck auf Israel so erhöht, dass Israel endlich die Blockade und die militärische Sperrzone aufhebt und aufhört, Gaza wie eine Kolonie zu behandeln.
Warum richtet sich die Free-Gaza-Bewegung nicht gegen Ägypten, das doch auch die Blockade Gazas unterstützt?
Richtig ist, dass Ägypten an der Blockade des Gaza-Streifens beteiligt ist. Das haben die rund 1.400 Aktivisten aus über 50 Ländern der Gaza Freedom Bewegung am eigenen Leib erfahren müssen, die sich im Dezember 2009 in Kairo versammelten, um von dort aus nach Gaza zu fahren. Die Regierung hat sie mit Polizeigewalt daran gehindert. Ägypten ist eine Diktatur, in der jeder 14. Erwerbstätige für die staatlichen Unterdrückungsorgane arbeitet. Die ganzen letzten Wahlen ließen den Wählern nur einen Kandidaten zur Wahl. Gleichzeitig ist Ägypten ein wesentlicher Verbündeter des Westens, eines der wenigen arabischen Länder, das enge Beziehungen zu Israel pflegt. Ägypten ist drittgrößter Empfänger von US-Militär- und Wirtschaftshilfen, Israel steht da auf Platz eins, Kolumbien belegt den zweiten Platz. Als die Aktivisten zum Jahreswechsel 2009/2010 in Kairo festgehalten wurden, haben sie selbstverständlich auch gegen diese Maßnahme der ägyptischen Regierung demonstriert. Aber klar ist auch, dass nicht Ägypten, sondern Israel die Blockade verhängt hat. Ägypten ist dabei nur ein Erfüllungsgehilfe. Das Mubarak-Regime stützt sich auf die Wirtschafts- und Militärhilfe der USA und Israels, um die eigene Bevölkerung in Schach zu halten und ihre Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Und Israel, nicht Ägypten, hat völkerrechtswidrig palästinensische Territorien besetzt, Siedlungen darauf gebaut, die palästinensische Bevölkerung mit Checkpoints, Ausgangssperren, Häuserabrissen und Landenteignungen drangsaliert. Israel, nicht Ägypten, hat den Gazastreifen bombardiert und dabei rund 1.400 Menschen umgebracht. Es ist die Verantwortung des Mubarak-Regimes, den Rafah-Übergang nach Gaza zu öffnen. Aber es ist die Verantwortung Israels, die (wenn auch in anderer Form) anhaltende Besatzung des Gaza-Streifens endlich zu beenden. Und darum geht es der Free Gaza Bewegung.
War die Aktion der israelischen Armee nicht Selbstverteidigung oder Notwehr, wie die israelische Regierung behauptet?
Die israelischen Soldaten waren die Angreifer. Sie kamen aus Hubschraubern und Kriegsschiffen, um eine Fähre mit hunderten von Passagieren zu entern. Bereits bevor die Soldaten auf den Schiffen landeten, töteten sie einen Schiffspassagier aus der Luft. Einige Passagiere wehrten sich offensichtlich mit Stöcken gegen die auf das Schiff dringende Armee. Die Passagiere hatten jedes Recht, sich gegen diesen Akt der Piraterie zu verteidigen. Es wäre sogar legitim gewesen, wenn die türkische Regierung, unter deren Flagge das Schiff fuhr, Kriegsschiffe geschickt hätte, um den Angriff in internationalen Gewässern mit Waffengewalt abzuwehren.
Aber wie sollten sich die Passagiere verteidigen?
Die Angreifer hatten modernste Militärausrüstung, die Verteidiger waren unbewaffnete Zivilisten. Das israelische Militär präsentierte uns Bilder von Kämpfen an Bord des Schiffes. Passagiere hatten versucht, den Soldaten die Waffen abzunehmen, die enternden Soldaten von Deck zu drängen. Dabei konnte man auch zwei Personen sehen, die mit Stangen oder Latten zuschlugen. Das war Selbstverteidigung, nicht andersherum. Von einem Akt der Notwehr zu sprechen dagegen ist unverhältnismäßig, denn das Leben der israelischen Soldaten war nicht in Gefahr. Die Free-Gaza-Passagiere brachten die verletzten israelischen Soldaten selbst in das eigene Schiffslazarett. In Gefahr dagegen war das Leben der Aktivisten. Leider haben wir nur das israelische Filmmaterial zur Verfügung. Alle Kameras an Bord wurden konfisziert. Deswegen gibt es keine Bilder von den Schüssen, von der Brutalität der Soldaten, von den Toten.
Trotz der Durchsuchungen haben die israelischen Soldaten keine Waffen auf der „Mavi Marmara“ gefunden. Die israelische Armee wusste, dass die Schiffe bereits von den türkischen Zollbehörden durchsucht worden waren. Die Organisatoren hatten sich zudem öffentlich auf Gewaltfreiheit verpflichtet. Die israelische Armee präsentierte den Fernsehteams der Weltöffentlichkeit das „Waffenarsenal“, das sie an Bord gefunden hatte und das beweisen sollte, mit welch bösartigen Absichten die Aktivisten angereist waren. Darunter fanden sich Messer, abmontierte Geländerstangen und Holzlatten. All das sind Gegenstände, die auf jedem größeren Schiff zu finden sind. Nicht zu sehen waren Pistolen, obwohl die israelische Armee behauptet hatte, zwei Pistolen seien an Bord gewesen. Die Passagiere waren schlicht und einfach unbewaffnet. Warum hätten sie sich auch bewaffnen sollen? Hätten sie annehmen sollen, dass sie die israelische Armee militärisch schlagen, sich ihren Weg durchkämpfen könnten?
Unterstützt die Free-Gaza-Bewegung nicht mit der Aktion die Hamas?
Das Ziel der Free Gaza Bewegung ist es, die Besatzung durch Israel zu beenden. Das ist auch das wesentliche Ziel der Hamas. Zu diesem Zweck wurde die Hamas während der ersten Intifada Ende der 1980er Jahre gegründet. Hamas ist heute die stärkste politische Kraft in den besetzten Gebieten, Gaza wie Westjordanland.
Der Grund für die Wahl der Hamas im Jahr 2006 waren nicht die religiöse Agenda oder das Versprechen auf eine bessere Welt nach dem Tod. Der sogenannte „Osloer Friedensprozess“ hat den Palästinensern eine drastische Verschlechterung ihrer Lage gebracht. 16 Jahre lang hatten die Fatah und die PLO Zeit, zu zeigen, dass Verhandlungen mit Israel eine Perspektive haben. Statt dessen sind sie Kollaborateure der Besatzung geworden, korrupte Lakaien Israels und der westlichen Geldgeber. Hamas hat den „Osloer Friedensprozess“ immer abgelehnt und für die Fortführung des Kampfes argumentiert. Deswegen, nicht aus religiösen oder sonstigen weltanschaulichen Gründen, sind sie der israelischen Regierung ein Dorn im Auge. Und deswegen sind sie unter Palästinensern so beliebt. Das Ende der Besatzung hingegen wäre nicht nur moralisch erstrebenswert, juristisch erforderlich und eine ungeheure Erleichterung für alle Palästinenser – es würde auch Hamas das Alleinstellungsmerkmal nehmen und den Raum für politische Vielfältigkeit und interne Kritik an Hamas öffnen. Im Übrigen trägt die Free Gaza Bewegung, ebenso wie die gesamte Palästina-Solidaritätsbewegung, dazu bei, jeglichen Vorstellungen einen Riegel vor zu schieben, der Konflikt verlaufe zwischen Religionen oder „Kulturen“. Auch das ist ein Beitrag gegen Ignoranz und Fundamentalismus.
Ist die Blockade von Gaza nicht gerechtfertigt, um den Waffenhandel nach Gaza zu unterbinden?
Was die israelische Regierung letztlich sagt, ist: Wir machen seit dreieinhalb Jahren eine verschärfte Blockade, weil wir verhindern wollen, dass die Menschen sich gegen die seit Jahrzehnten anhaltende Blockade wehren. Das Problem ist die Besatzung. Sie ist unmenschlich und illegal. Widerstand, auch bewaffneter Widerstand, ist legitim. Die Tatsache, dass die israelischen Siedler im Jahr 2005 abgezogen sind, hat nichts an der vollständigen Kontrolle des Gaza-Streifens durch die israelische Armee geändert. Seit der Wahl im Jahr 2006, aus der Hamas als stärkste Partei hervorgegangen ist, hat Israel eine komplette Blockade verhängt. Nur eine eingeschränkte Menge an Hilfsgütern der UNO darf seitdem geliefert werden. Die Besatzung hat nicht aufgehört, nur die Form hat sich geändert. Der bewaffnete Widerstand ist nur ein Vorwand für die Blockade. 2008 gab es ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Hamas und Israel, das über ein halbes Jahr anhielt. Aber die Blockade wurde nicht aufgehoben, nicht einmal gelockert. Israel hat im November 2008 dann den Waffenstillstand gebrochen und in einer Kommandoaktion fünf Palästinenser getötet.
Israel will, dass die Palästinenser Gaza freiwillig verlassen
Das Ziel der israelischen Regierung ist es, jeglichen Widerstand, egal ob zivil oder militärisch, politisch oder ökonomisch oder wie auch immer, zu brechen. Der Gedanke an einen palästinensischen Staat alleine schon ist zu viel des Widerstandes. Denn ein solcher Staat auf dem von Israel 1967 eroberten Land, wäre natürlich eine Bedrohung für das Anliegen, Israel auf das ganze Gebiet vom Meer bis zum Jordan auszudehnen.
Die gesamte Politik aller israelischen Regierungen seit 1967 ist darauf ausgerichtet, sich so viel palästinensisches Land wie möglich einzuverleiben und dabei so viel palästinensische Bevölkerung wie möglich los zu werden. Auch die Blockade des Gaza-Streifens passt in dieses Bild. Die Verantwortlichen in Israel hoffen darauf, dass die ausgehungerte und demoralisierte Bevölkerung schließlich das Gebiet verlässt.