Wenn ein Kind Augenzeuge eines Mordes wird, vergisst es das sein Leben lang nicht. Als achtjähriges Mädchen hat eine Kirchbergerin vor über 75 Jahren mit eigenen Augen gesehen wie Angela Galczinski am 14. April 1945 von deutschen Soldaten erschossen worden ist. Vor kurzem hat die heute 84-Jährige erstmals mit dem Autor über ihre Beobachtungen gesprochen. Ihren Namen möchte sie in diesem Zusammenhang nicht in der Zeitung lesen.
Von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert
„Kinder schrieen wie am Spieß“
Sechs Menschen wurden wenige Tage vor Kriegsende 1945 in Kirchberg/Jagst von deutschen Soldaten erschossen (siehe Info unten). Eines der Hinrichtungsopfer am 14. April 1945 war Angela Galczinski, die Mutter von zwei kleinen Kindern. Die Augenzeugin war zum Zeitpunkt der Erschießung von Angela Galczinski acht Jahre alt. Sie hat das grausame Geschehen zusammen mit ihrer gleichaltrigen Freundin beobachtet. Besonders belastet sie noch heute, dass die zwei kleinen Kinder von Angela Galczinski „schrien wie am Spieß, als ihre Mutter mit den Soldaten das Haus verlassen musste“.
Zum Rathausbrunnen geschlichen
Die Augenzeugin berichtet: „Wir wohnten im Schloss im Langen Bau. Dort hatten meine Eltern eine Wohnung. Ich schaute aus dem Fenster. Vor dem Rathaus stand ein deutscher Jeep. Dann sind Leute aus dem Rathaus gekommen.“ Bei den Personen handelte es sich um den damaligen stellvertretenden Bürgermeister Georg Wirth und drei deutsche Soldaten. „Meine Freundin und ich sind zum Rathausbrunnen geschlichen und haben uns versteckt. Erst gingen die Soldaten raus aus dem Rathaus, dann Bürgermeister Wirth. Frau Galczinski stieg hinten ins Auto ein. Sie war eine offenherzige und freundliche Frau. Wirth ist mit den Soldaten ins Auto eingestiegen.“
Fahrer hat gelacht
Als das Auto losfuhr, sind die beiden Mädchen hinterhergerannt. „Der Fahrer hat uns im Rückspiegel gesehen. Er hat gelacht als er uns sah. Der Soldat ließ uns näherkommen und fuhr dann wieder schneller – so als ob er mit uns Spaß machen wollte.“ Etwa beim heutigen Café Alte Post hat der Fahrer Gas gegeben. Die Mädchen rannten weiter zum „Freien Platz“ – dem heutigen Frankenplatz. Dann sahen sie den Jeep unterhalb der heutigen Firma Botsch vor dem Wohnhaus von Frau Galczinski. „Wir sind bis zum Haus des Schäfers Frank gerannt“, erinnert sich die Augenzeugin. Dort haben sie sich an den „Staffeln“ (Treppen vor dem Haus) versteckt.
Beiges Kleid mit großen roten Blumen
Bei dem Wohnhaus von Frau Galczinski ging die Tür auf. „Frau Galczinski lief frisch und fröhlich raus“, erzählt die damals junge Augenzeugin. Sie hatte ein beiges Kleid mit großen roten Blumen an. Eine rote Strickjacke hat sie sich unter der Haustür angezogen. Auffallend waren auch die roten Schuhe der Frau. Als die beiden Kinder von Angela Galczinski merkten, dass ihre Mutter weggehen wollte, hingen sie sich an ihr Kleid und schrieen wie am Spieß.
Die drei Soldaten und Frau Galczinski stiegen wieder in das Auto ein und fuhren hoch zur alten Turnhalle – etwa 100 Meter weit. „Wir rannten bis zu dem Haus, unterhalb der alten Turnhalle. Dort haben wir uns an der Mauer versteckt. Der Jeep ist nach der Turnhalle rechts abgebogen. Auf dem Platz hinter der Turnhalle hat das Auto angehalten.
„Niemandem etwas erzählen“
Die drei Soldaten – einer war wohl ein Offizier – stiegen aus. Frau Galczinski stieg auch aus. Sie liefen dann zu viert ein Stück weit in Richtung Crailsheim. Zwei Soldaten hatten lange Gewehre dabei. Der Offizier ging mit Frau Galczinski vorne weg. Sie unterhielten sich und lachten sogar. Die zwei bewaffneten Soldaten waren aber ernst. Sie liefen dahinter. Wir schlichen ihnen vielleicht 20 Meter davon entfernt hinterher. Der eine Soldat hat plötzlich etwas gesagt. Er ist zurückgetreten. Die beiden anderen Soldaten legten an. Es knallte einmal. Wir sind dann weggerannt, querfeldein zum See’lesbrunnen am Ortsrand von Kirchberg Richtung Eichenau, dann zu den Flüchtlingsgärten. Dort haben wir uns versteckt. Dann rannten wir zum Hofgarten. Dort haben wir uns eine Weile versteckt. Wir hatten große Angst. Zu Hause sagte meine Mutter, dass wir „niemandem etwas davon erzählen sollen, sonst werden wir auch noch erschossen.“
Mädchen gingen noch einmal raus
Die beiden Mädchen sind dann aber doch noch einmal raus. Als sie nachschauten, lag Frau Galczinski noch da, wo sie erschossen worden war. Erst später ist sie am Straßenrand vergraben worden. „Ich weiß bis heute nicht, wer sie dort vergraben hat. Das war etwa einen Meter von der Straße weg. Dann hat man gar nichts mehr gehört“, sagt die Augenzeugin. „Außer uns war niemand draußen. Die Soldaten hatten uns schon bemerkt. Sie haben eigentlich immer gelacht. Ich glaube nicht, dass Frau Galczinski wusste, dass sie erschossen wird. Sie galt als lebenslustige junge Frau. Am gleichen Tag vormittags haben wir auch die Erschießungen der Ausländer auf dem Freien Platz (siehe Infokasten) gesehen. Da haben vor allem Kinder zugeschaut.“
Info:
Denunziationen
Angela Galczinski wurde am 27. Mai 1912 in Kösingen bei Neresheim geboren. Am 1. Oktober 1939 heiratete sie den österreichischen Färbergesellen Karl Bruno Galczinski. Die Familie hatte zwei Kinder: Roswitha und Benno. Die Kinder waren bei Kriegsende 1945 sechs Jahre und drei Jahre alt. Angela Galczinski wurde am 14. April 1945 von deutschen Soldaten in der Nähe der Feldscheune Weinmann in Kirchberg erschossen. Nach der Erschießung lag Frau Galczinski zwei Tage lang unbeerdigt am Rand der Straße nach Lobenhausen. Danach hat sie der Stadttagelöhner Georg Österreicher auf Anweisung des Amtsdieners Friedrich Gögelein an einer Hecke bei der Feldscheune Weinmann begraben. Einige Wochen später musste sie von Kirchberger Nazis auf Anweisung der Amerikaner ausgegraben und auf den alten Friedhof von Kirchberg umgebettet werden. Dort hielt der katholische Pfarrer von Großallmerspann am Sonntag nach Fronleichnam 1945 die Beerdigung.
Johann Heigl in Eichenau wegen weißer Fahne erschossen
Bereits in der Nacht zum 14. April 1945 wurde in Eichenau der 47-jährige deutsche Hilfsarbeiter Johann Heigl von deutschen Feldgendarmen zu Hause abgeholt und an der Straße nach Kirchberg erschossen. Er soll eine weiße Fahne aufgehängt haben.
Drei Zwangsarbeiter und ein Kriegsgefangener
Am Vormittag des 14. April 1945 erschossen deutsche Soldaten auf dem Kirchberger Frankenplatz vier Männer: den französischen Kriegsgefangenen Ernest Bonne, die Zwangsarbeiter Michael Kubicky (Pole) sowie Wasil Petryczka und Josef Hepak (beide aus der Ukraine).
Vorwurf: Kontakt zu Amerikanern
Emil Schmidberger, von 1938 bis 1950 Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Großallmerspann, schreibt in seiner Pfarrchronik im Jahr 1945 über die Erschießungen in Kirchberg im Wortlaut: „Den Erschossenen wurde vorgeworfen, sie hätten sich beim ersten Einmarsch der Amerikaner mit diesen verbrüdert und wären mit ihnen beisammen gewesen. Schuld an den Erschießungen waren Denunziationen von Seiten von Kirchberger Bürgern.“
Dokumentarfilm im Internet über die Erschießung von sechs Menschen am 14. April 1945 in Kirchberg an der Jagst
NARBEN DER ERINNERUNG – Ein Film von Ralf Garmatter über das Kriegsende in Kirchberg/Jagst und die Erschießung von sechs Menschen am 14. April 1945 durch Angehörige deutscher Truppen. Filmlänge: 40 Minuten.
Film „Narben der Erinnerung“ in der rechten Spalte von Hohenlohe-ungefiltert anklicken. Der Film startet dann automatisch.