Die Wallfahrtskirche in Schöntal-Neusaß. FOTO: Ralf Garmatter
Nicht schlecht gestaunt hat im vergangenen Sommer eine 63 Jahre alte Frau aus der Gemeinde Mulfingen, als sie aus dem Urlaub zurück kam. Polizisten des Polizeireviers Krautheim hatten ihre Wohnung durchsucht und persönliche Schriftstücke der Frau mitgenommen. Die Polizei hatte nach einer entwendeten Osterkerze, zwei halbvollen Kartons mit Teelichtern, fünf weißen Kerzen und handschriftlichen Aufzeichnungen für „die Durchführung eines Schriftvergleichs mit einem aufgefundenen Drohbrief“ gesucht.
Von Ralf Garmatter, Freier Journalist aus Kirchberg/Jagst
Benutzte Windeln im Beichtstuhl abgelegt, Sprengung der Orgel angedroht
Die Polizei verdächtigte die Frau laut Durchsuchungsbefehl des Ermittlungsrichters vom Amtsgericht Schwäbisch Hall (dieser liegt Hohenlohe-ungefiltert vor) zwischen 14. April 2008 und 21. Juli 2008 mehrfach in der Wallfahrtskirche in Kloster Schöntal-Neusaß benutzte Baby-Windeln, mit Kot verschmierte Papiertaschentücher, benutzte Damenbinden und mit Kot gefüllte Papiertaschentücher im Beichtstuhl und auf der Empore abgelegt, einen Drohbrief geschrieben und dadurch die Religionsausübung gestört zu haben. Insbesondere soll die Frau neben der Osterkerze des Jahres 2008 noch weitere Kerzen und Teelichter gestohlen haben. Die Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall, eine Außenstelle der Staatsanwaltschaft Heilbronn, bewertete dies als Diebstahl in einem besonders schweren Fall. (Strafgesetzbuch § 242, 243, Absatz 1 Nr. 4). Die Staatsanwaltschaft begründete den Antrag auf die Hausdurchsuchung damit, dass diese ein Auffinden der gesuchten Gegenstände erwarten lasse. Dem war aber nicht so.
Hausdurchsuchung, als die unschuldige Frau im Urlaub war
In Abwesenheit der Frau durchsuchten zwei Krautheimer Polizisten am 30. Juli 2008 von 8.50 Uhr bis 10 Uhr deren Wohnung einschließlich sämtlicher Nebengebäude und auch die persönlichen Sachen der Beschuldigten. Dies geht aus dem Durchsuchungsbericht hervor, der Hohenlohe-ungefiltert ebenfalls vorliegt. Als Zeugen hatte die Polizei bei der Hausdurchsuchung einen Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung Mulfingen mitgenommen. Gefunden wurden in einem Aktenschrank im Wohnzimmer und in einer Aktentasche in der Küche 15 Zettel mit handschriftlichen Aufzeichnungen und Vermerken, die aber nichts mit der ihr vorgeworfenen Tat zu tun hatten. Bei den weiteren Ermittlungen stellte sich heraus, dass sich die Polizei bei ihren Ermittlungen geirrt hatte. Die 63-jährige Frau aus Mulfingen war fälschlicherweise verdächtigt worden, weil die strenggläubige Katholikin regelmäßig in die Kapelle nach Neusaß zum Beten gefahren war. Nach Polizeiangaben habe sie Ähnlichkeit mit einer Frau gehabt, die durch eine Überwachungskamera in der Kapelle bei einer der Taten gefilmt worden war. Durch diesen Irrtum bei der Auswertung der Aufnahmen der Überwachungskamera ist sie ins Visier der Ermittler gekommen.
Polizist aus Krautheim hatte schon Anfang August starke Zweifel an der Täterschaft der Frau
Einer der ermittelnden Polizisten aus Krautheim hatte offensichtlich bereits Anfang August 2008 gemerkt, dass die Frau unschuldig ist. Dies geht aus einem aufgezeichneten Telefongespräch auf dem Anrufbeantworter (AB) der Tochter der Verdächtigen hervor. Der Ermittler hatte der Tochter eine mündliche Nachricht zu dem Fall auf dem AB hinterlassen. Eine Abschrift des Anrufs liegt Hohenlohe-ungefiltert vor. Der Autor dieses Artikels hatte das Telefonat zuvor auch auf dem Anrufbeantworter persönlich angehört. Die AB-Aufzeichnung im Wortlaut: „Frau (…) können Sie mich mal zurückrufen, nochmal in der Sache von Ihrer Mutter. Wenn Sie die Möglichkeit haben, Ihre Mutter zu erreichen, dann können Sie ihr auch signalisieren, dass die Ermittlungen gegen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit fallen gelassen werden. Wir sollten trotzdem einen Termin mit ihr vereinbaren, um ihr die Sache zu erläutern. Das war und das ist auch nachvollziehbar, denke ich, ein bedauerlicher Irrtum, ein Riesenzufall, der …, ja halt so war. Sie können mich auch gerne zurückrufen, dass ich Ihnen das näher erläutern, beziehungsweise, dass Sie das an Ihre Mutter auch so weiter geben können. Trotzdem sollte sie sich, wenn sie vom Urlaub zurück ist, unverzüglich mit uns in Verbindung setzen, dass man ihr das Ganze erläutert und mit ihr einen Vernehmungstermin macht, um das Ganze dann auch so der Staatsanwaltschaft vorzulegen. Ich bedanke mich, auf Wiederhören.“
Der Fall wurde von der Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall erst im Januar offiziell abgeschlossen
Obwohl schon im August mit großer Wahrscheinlichkeit feststand, dass die verdächtigte Frau mit dem Delikt in der Kapelle nichts zu tun hat, ist das Ermittlungsverfahren nach Angaben der Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall erst im Januar 2009 abgeschlossen worden. Auch hatte die Frau monatelang auf die Rückgabe ihrer persönlichen Aufzeichnungen durch die Polizei warten müssen. Sie ist nach Angaben ihrer Tochter inzwischen aus ihrer damals durchsuchten Wohnung ausgezogen.
Staatsanwaltschaft Hall und Polizeidirektion Künzelsau verschickten Ende September 2008 eine Pressemitteilung über „pietätlose Straftatenserie“
Die Täterin drohte, die Orgel zu sprengen.
Die Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall und die Polizeidirektion Künzelsau haben am 30. September 2008 unter der Überschrift „Pietätlose Straftatenserie in der Wallfahrtskirche von Neusaß aufgeklärt. 61-jährige Frau als dringend Tatverdächtige ermittelt.“, einen gemeinsamen Pressebericht an die Medien der Region Hohenlohe geschickt. Diese wurde zumindest von der Hohenloher Zeitung veröffentlicht. Dieser „Medien-Info“ zu Folge seien „mindestens zwölf Straftaten der Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, der Störung der Religionsausübung sowie des schweren Diebstahls“ von Beamten des Polizeipostens Krautheim aufgeklärt worden. Laut Medien-Info wurde eine „61-jährige Jagsttalerin“ – nicht die 63-Jährige aus Mulfingen – als wahrscheinliche Täterin ermittelt. Zum zeitlichen Ablauf: Mitte Juni 2008 hatte das katholische Pfarramt Kloster Schöntal beim Polizeiposten Krautheim eine Strafanzeige wegen Diebstahls von Opferkerzen aus der Wallfahrtskirche Neusaß bei Schöntal erstattet. „Die Serie dieser Straftaten setzte sich danach bis zum 4. August fort“, heißt es im Pressebericht der Ermittlungsbehörden weiter. Höhepunkt der Taten sei Mitte Juli ein anonymes Drohschreiben gewesen, in dem die Sprengung der neu eingebauten Orgelanlage angekündigt worden sei. Daraufhin hatte der Polizeiposten Krautheim die Installation einer Überwachungsanlage angeregt. Diese Maßnahme wurde von der Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall angeordnet. Die weiteren Ermittlungen ergaben laut Pressebericht der Ermittler zunächst einen Tatverdacht gegen eine 63-jährige regelmäßige Besucherin aus einer Hohenloher Jagsttalgemeinde. Diese Frau habe eine „erhebliche Ähnlichkeit mit der auf den Videoaufzeichnungen erkennbaren Täterin aufgewiesen.“ Das Amtsgericht Schwäbisch Hall habe dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung der Beschuldigten ausgestellt, mit dem Ziel, mögliche Beweismittel aufzufinden und diese für das weitere Verfahren sicherzustellen. Bei der Durchsuchung seien diverse Schriftstücke sichergestellt worden. Eine entsprechende Auswertung habe jedoch ergeben, dass die 63-jährige Frau mit großer Wahrscheinlichkeit als Tatverdächtige ausscheiden dürfte. Die weiteren Auswertungen der Bildaufzeichnungen führten dann auf die Spur einer 61-jährigen Frau aus einer Heilbronner Jagsttalgemeinde, die „markante Übereinstimmungen mit der Tatverdächtigen auf den Videoaufzeichnungen aufwies“. Bei einer weiteren richterlich angeordneten Durchsuchung ist in ihrer Wohnung umfangreiches Beweismaterial aufgefunden und sichergestellt worden. Die Auswertung dieser Beweismittel habe ergeben, dass es sich bei der 61-jährigen Frau mit „sehr hoher Wahrscheinlichkeit um die Täterin der festgestellten Verunreinigungen, des Drohschreibens sowie auch des Diebstahls von Opferkerzen handeln dürfte“. Die Ermittler weiter: „Die offenbar unter psychischen Störungen leidende Tatverdächtige bestreitet bislang jede Tatbeteiligung. Seitdem sie mit den gegen sie gerichteten Vorwürfen konfrontiert worden war, wurden jedoch keine gleichgelagerten Taten mehr registriert. Die Verantwortlichen der betroffenen Kirchengemeinde haben mittlerweile im Hinblick auf die persönlichen Umstände der Beschuldigten die gestellten Strafanträge zugunsten einer weiteren seelsorgerischen Betreuung zurückgezogen. Die letztendliche Bewertung und Entscheidung über den weiteren Verfahrensverlauf obliegt als Herrin des Verfahrens der zuständigen Staatsanwaltschaft.“
Staatsanwaltschaft sieht von einer öffentlichen Klage ab – Erhebliche Zweifel an strafrechtlicher Verantwortlichkeit
Im Beichtstuhl wurden verkotete Windeln abgelegt.
Die Staatsanwaltschaft Schwäbisch Hall berichtete auf Nachfrage von Hohenlohe-ungefiltert, dass von einer öffentlichen Klage gegen die Frau abgesehen wird. Die persönlichen Auffälligkeiten im Verhalten der Frau seien derart gravierend, dass erhebliche Zweifel an einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit bestünden.
Wallfahrtskapelle wird laut Polizei nicht mehr videoüberwacht
Die Polizeidirektion Künzelsau gab auf Nachfrage von Hohenlohe-ungefiltert bekannt, dass Beamte des Polizeipostens Krautheim mit der falsch verdächtigten 63-jährigen Frau aus Mulfingen später mehrere Gespräche geführt hätten, in denen die Polizisten den Fall „in sehr ausführlicher Form richtiggestellt“ hätten. Nach aktuellen Kenntnissen der Polizeidirektion Künzelsau laufen in der Sache keine weiteren Ermittlungen mehr. Die Wallfahrtskapelle werde nach Polizeiangaben auch nicht mehr videoüberwacht.
Weitere INFOs zum Nachlesen:
– Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 13: Die Wohnung ist unverletzlich
– Strafprozessordnung (StPO) §§ 102 und folgende (bis §110) zum Thema Durchsuchung der Wohnung und Beschlagnahme von Gegenständen
– Strafgesetzbuch §243 Besonders schwerer Fall des Diebstahls
– Thema Durchsuchung im Internetlexikon Wikipedia de.wikipedia.org/wiki/Durchsuchung_(Recht)