„Flüchtlinge und gewaltsam Vertriebene werden immer im Herzen der Kirche sein“, schreibt Bischof Gebhard Fürst von der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart in seinem Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 2019.
Bischof Gebhard Fürst, Diözese Rottenburg-Stuttgart
Trost und Hoffnung
Die Erfahrungen, die viele Menschen in den biblischen Geschichten gemacht haben, können Trost und Hoffnung für all jene sein, die heute Heimatlosigkeit erfahren. Denn sie zeigen: Inmitten größter Hoffnungslosigkeit kann uns Gott in ein neues Leben führen.
Ein Zeichen unserer Zeit
Flucht – Vertreibung – Migration
Flüchtlinge und gewaltsam Vertriebene werden immer im Herzen der Kirche sein.
(Cor unum Art. 16)
Liebe Schwestern und Brüder!
Am Beginn der österlichen Bußzeit grüße ich Sie herzlich. Für Ihr vielfältiges Wirken in den Kirchengemeinden und in den vielen Bereichen unseres Lebens – in Familie, Freizeit, Beruf und Schule – bedanke ich mich bei Ihnen sehr! Besonders möchte ich all jenen danken, die sich für die Menschen einsetzen, die unserer Solidarität ganz besonders bedürfen: Das sind Menschen, die in unserem Land Not leiden; Menschen, die krank sind; Menschen, die hungern und durstig sind – nach Nahrung und Zuwendung; Menschen, die frieren – an Leib und Seele. All jenen soll unsere Zuwendung und Liebe gelten.
Flüchtlinge, Vertriebene und Zugewanderte
Danken möchte ich sodann allen, die sich nach wie vor für die Menschen einsetzen, die aus anderen Ländern und Kontinenten geflohen und zu uns gekommen sind: die Flüchtlinge, die Vertriebenen und die Zugewanderten.
Leider geht die Aufmerksamkeit und die Achtsamkeit gegenüber Menschen auf der Flucht zurück. Besonders bedrückend ist dies angesichts des Schicksals vieler Flüchtlinge im Mittelmeer, wo fast täglich Menschen ertrinken.
Deshalb bedanke ich mich besonders und ausdrücklich bei den Menschen, die hier helfen. Ebenso herzlich bedanke ich mich bei Ihnen für die Unterstützung der Menschen, die bei uns angekommen sind. Danke, dass viele von Ihnen Menschen helfen, in unserem Land Schutz und Beheimatung zu finden.
Liebe Schwestern und Brüder!
Menschen, die gezwungen sind zu fliehen, leiden nicht nur körperlich unter den Strapazen der Flucht. Auch ihre Seelen leiden. Sie sehnen sich nach Frieden, nach neuer Beheimatung und Gemeinschaft. Sie sehnen sich nach Sicherheit für ihr Leben, nach Freiheit von Unterdrückung und Gewalt. Nicht zuletzt suchen sie Sicherheit für ihr Leben und für das Leben ihrer Familien.
Erzählungen von Heimatlosigkeit und Verlust, von Flucht und Vertreibung gehören zum Kernbestand der Erzählungen der Heiligen Schrift. Denken wir an die Flucht der Israeliten aus Ägypten unter ihrem Anführer Mose, an das Volk Israel im Babylonischen Exil, aber auch an die Erfahrungen der Heiligen Familie auf ihrer Flucht vor dem Morden des Königs Herodes.
Zusammenleben in einem neuen Land
Doch ebenso sprechen die Schriften der Bibel vom Ankommen der Menschen an Orten ihrer Sehnsucht, vom Zusammenleben in einem neuen Land und von einem neuen und glückenden Miteinander. Die Erfahrungen, die viele Menschen in den biblischen Geschichten gemacht haben, können Trost und Hoffnung für all jene sein, die heute Heimatlosigkeit erfahren. Denn sie zeigen: Inmitten größter Hoffnungslosigkeit kann uns Gott in ein neues Leben führen.
Flucht und Vertreibung prägen. Sie hinterlassen ein Leben lang Spuren in den Seelen der Betroffenen. Sie prägen nicht nur die Menschen, die sich auf den Weg machen müssen, sondern auch die Gesellschaften, in denen sie ankommen und in denen sie eine neue Zukunft suchen. Deutlich sehen wir dies heute daran, dass die Geflüchteten oft zum Spielball von Interessen gemacht werden. Gerade im Hinblick auf die im Mai stattfindenden Europawahlen ist es wichtig, Ursachen und Folgen von Flucht und Migration selbstkritisch wahrzunehmen.
Es braucht helfende Hände
Für eine gelingende Integration der zu uns Gekommenen ist noch viel zu tun. Dazu braucht es helfende Hände. Allen, die sich hier oft in kleinen Dingen des Alltags engagieren, gilt unser Dank.
Zum Gelingen der Integration gehört auch der Beitrag derer, die zu uns gekommen sind. Auch wenn unsere Gesellschaft heute weitestgehend säkular erscheint, beruhen unsere Kultur, unser Bild vom Menschen und seine unantastbare Würde auf jüdisch-christlichem Fundament. Ich möchte deshalb die, die bei uns in Deutschland und Europa neue Heimat finden oder schon gefunden haben, bitten, diese unsere Werte und Grundorientierungen kennenzulernen, wertzuschätzen und zu achten. Gerade auch unsere religiösen Grundlagen wie die christliche Liebe zum Nächsten und die Bereitschaft, im Geist des heiligen Martin von Tours mit denen in Not zu teilen, bilden die Voraussetzung und schaffen die Möglichkeit, dass sie bei uns willkommen sind.
Eine einzige Familie
Flucht, Vertreibung und Migration sind „Zeichen unserer Zeit“[1]. Sie anzunehmen und verantwortungsvoll zu gestalten, sind eine Chance zur Gestaltung des neuen Miteinanders in unserer Gesellschaft.
Ein Dokument des „Päpstlichen Rates der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs“ aus dem Jahr 2004 bezeichnet die menschlichen Leiden, die die Wanderungsbewegungen begleiten, als „Ausdruck der Geburtswehen einer neuen Menschheit“.[2] 2013 schreibt der Päpstliche Rat: „Die Menschheit ist eine Familie; daher sind alle Männer und Frauen Brüder und Schwestern in Menschlichkeit und sie sind durch die Gnade dazu bestimmt so zu sein, im Sohn Gottes, Jesus Christus.“[3] Deshalb bilden Flüchtlinge, Migranten, Menschen unterwegs und die ortsansässige Bevölkerung zusammen eine einzige Familie. Solidarität und Nächstenliebe dürfen deshalb weder Einzelne, noch Kulturen oder Völker ausschließen. Die besonders schutzbedürftigen Menschen brauchen nicht nur unsere Solidarität, sie sind Mitglieder unserer Menschheitsfamilie. Deshalb ist es unsere Pflicht, die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, mit ihnen gerecht zu teilen. Dabei müssen wir immer wieder in Erinnerung rufen, wie sehr Europa selbst in die Ursachen von Flucht und Migration verstrickt ist und daher für deren Lösung mitverantwortlich ist.
Für eine gerechte Teilhabe der Zugewanderten
Zu den zentralen sozialen und pastoralen Aufgaben der Gemeinschaft der Glaubenden in den Kirchen gehört es heute, sich für eine gerechte Teilhabe der Zugewanderten an den materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Einheimischen zu engagieren. Darüber hinaus sollten wir uns als Christinnen und Christen bemühen, Begegnung und Dialog zu fördern und dazu beizutragen, dass alle Menschen in einer religiös und kulturell pluralen Gesellschaft friedlich zusammenleben.[4]
Liebe Schwestern und Brüder,
ich weiß auch um die Ängste vieler Menschen in unserem Land. Angst vor sozialer Armut, vor Überfremdung und Fremdheit. Diese Ängste nicht zu überspielen und sensibel mit ihnen umzugehen, ist mir wichtig. Unsere Kirchengemeinden können Orte sein, die Brücken bauen zwischen Menschen. Sie sollen Gastfreundschaft und Nachbarschaft fördern und Heimat geben. Wir wollen als Christen den Flüchtlingen, den Vertriebenen und den Opfern des Menschenhandels helfen, wieder menschenwürdig leben zu können, indem sie beispielsweise gute Arbeit finden.
Abschiebung soll gerecht und achtsam geschehen
Integration gelingt am besten, wenn die Familie zusammen ist. Das Leiden der Flüchtlinge ist unendlich groß, wenn die Familien getrennt sind und die Zukunft ungewiss ist. – Die Abschiebepraxis in unserem Land wird immer schärfer. Dass Kinder und Jugendliche aus dem Kindergarten und Jugendliche aus der Schule geholt und abgeschoben werden, ist unmenschlich und eine tiefe Verletzung der Menschenwürde. Dass Flüchtlinge abgeschoben werden und es dafür einsichtige Gründe gibt, ist verständlich. Dennoch soll Abschiebung gerecht und achtsam geschehen. Ich bin mir bewusst, dass dies eine sehr große Herausforderung ist, dennoch möchte ich sie an dieser Stelle benennen.
Fluchtursachen bekämpfen
Gleichzeitig müssen wir alles uns Mögliche tun, um die Ursachen, die zur Flucht führen, zu bekämpfen. Friedensentwicklung ist hierzu ein wichtiger Schlüssel. Dazu gehören: Unterstützung von Bildung, Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien und die Förderung der Demokratie und Menschenrechte. Aber auch eine nachhaltige Klimastrategie, die sich global auswirkt, ist dringend notwendig. Viele gute Ansätze sind bereits vorhanden in Politik und Gesellschaft, in den verschiedenen Hilfswerken kirchlicher und nichtkirchlicher Träger. Auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart unterstützt zahlreiche Projekte über ihre weltkirchliche Arbeit. Fluchtursachen zu bekämpfen kostet Zeit und Geld. Ohne Ihre großzügige Unterstützung, liebe Schwestern und Brüder, wäre diese Arbeit nicht möglich. Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Herzlichen Dank!
Manches, was seit 2015 im Zusammenhang mit den Fluchtbewegungen geschehen ist, haben wir nicht vorhergesehen. Manche Ereignisse haben uns verstört und die Augen geöffnet für Probleme, die wir nicht übersehen oder beiseitelegen dürfen. Diesen Problemen müssen wir uns – fest verwurzelt im christlichen Glauben – stellen und mutige Antworten finden.
Integration als Aufgabe beider Seiten
Bekennerbischof Joannes Baptista Sproll, von 1927 bis 1949 Bischof unserer Diözese, hat sich bereits vor 70 Jahren mit deutlichen Worten für die Integration von Vertriebenen eingesetzt. Bischof Sproll, dessen 70. Todestag wir am vergangenen Montag, den 4. März begangen haben, musste selbst vor dem nationalsozialistischen Terrorregime fliehen und lebte einige Jahre im Exil. Zwei Jahre nach Kriegsende appellierte er in einer seiner bewegenden Predigten an die Gläubigen, an die Einheimischen und die Vertriebenen mit den Worten: „Habt Mut und Vertrauen.“[5] Er forderte aus seiner zutiefst christlichen Überzeugung Integration als Aufgabe beider Seiten: als Aufgabe der hier Wohnenden und als Aufgabe der zu uns Gekommenen. Dieses Anliegen möchte ich heute in unseren Tagen an Sie weiterreichen und Sie um Ihre weitere Mithilfe bitten. „Habt Mut und Vertrauen!“
Menschendienliche Kirche sein
Diakonische, also menschendienliche Kirche zu sein, weil alle Armen und Bedrängten Glieder des Leibes Christi sind, das ist der Maßstab, an dem wir unser Handeln und unsere Hilfen immer wieder neu überprüfen und ausrichten müssen. Denn, so der Päpstliche Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs: „Flüchtlinge und gewaltsam Vertriebene werden immer im Herzen der Kirche sein!“[6]
Rottenburg, am Fest der Darstellung des Herrn, 2. Februar 2019
Ihr
Bischof Dr. Gebhard Fürst
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[1] Gaudium et spes Art. 4.
[2] Päpstlicher Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs: Instruktion Cor unum, Vatikanstadt 2004, Art. 12.
[3] Päpstlicher Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs, Instruktion Cor unum, Vatikan 2013, Art. 10.
[4] Zeichen setzen in der Zeit – Pastorale Prioritäten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Bischöfliches Ordinariat der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hg.), Rottenburg 20072, hier: Pastorale Priorität Nr 3: „Anderen begegnen – Gemeinschaft und Solidarität stärken“, S. 24-27.
[5] Bischof Joannes Baptista Sproll: Predigt für die Flüchtlinge, anl. der Wallfahrt der Heimatvertriebenen in Ulm-Wiblingen, 11. Mai 1947, Diözesanarchiv Rottenburg.
[6] Cor unum Art. 16.
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