„BRD: Zahlmeister oder Absahner ?“ – Kommentar von Paul Michel zur Eurokrise und Griechenland

Es ist das immer gleiche Lamento bei deutschen Marktradikalen. »Deutschland zahlt, Europa kassiert«. Der Klage folgt stets die Warnung vor einer »Transferunion« bei Fuß. Mit der Realität hat das freilich wenig zu tun.

Kommentar von Paul Michel aus Schwäbisch Hall

Deutsche Konzerne erwirtschaften im EU-Gebiet nahezu zwei Drittel der Außenhandelsüberschüsse

Die EU und die Einführung des Euro erwiesen sich für die bundesdeutsche Industrie als äußert einträgliches Projekt. Dabei ist der Exportweltmeister vor allem ein Exporteuropameister. Nicht nur gehen die meisten Exporte in die Nachbarländer und Mitgliedsstaaten der EU – auch der gigantische Außenhandelsüberschuss entsteht vor allem im Handel in der EU. Die Europäische Union nimmt gut zwei Drittel der deutschen Exporte auf. Obwohl »nur« 40 Prozent der Exporte der BRD in die Eurozone gehen, erwirtschaften deutsche Konzerne hier nahezu zwei Drittel der Außenhandelsüberschüsse.

Leistungsbilanzüberschuss von 672,1 Milliarden Euro gegenüber den Euro-Ländern

Seit Einführung des Euro 2002 konnte die Bundesrepublik bis zum zweiten Quartal 2010 einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuss von 672,1 Milliarden Euro gegenüber den Euro-Ländern erzielen. In den 10 Jahren der Euro-Existenz sind die deutschen Exporte in diese Zone um 48 Prozent gestiegen. Die größten Exportüberschüsse konnte die deutsche Industrie gegenüber den südeuropäischen Staaten erzielen. Laut des Statistischen Bundesamts betrug der Exportüberschuss allein gegenüber Spanien im Jahr 2007 – also vor der Krise – 26,9 Milliarden Euro, bei einem Gesamtexportvolumen von 47,6 Milliarden. Beim Italien-Handel erzielte Deutschlands Exportindustrie im gleichen Jahr einen Überschuss von 19,8 Milliarden Euro, in Portugal waren es 4,2 Milliarden, in Griechenland 5,8 Milliarden. 1)

Erfolgsmodell mit Folgen

Deutschlands Wirtschaft ruht mehr denn je auf dem Export und der beruht seinerseits auf dem Euro und Deutschlands Dominanz in der Euro-Zone. In der Vor-Euro-Zeit konnten sich die anderen Länder durch Abwertung etwas vor der deutschen Exportdampfwalze schützen und mittels Währungsabwertungen ihre eigene Konkurrenzfähigkeit zumindest ansatzweise wiederherstellen. Jetzt, wo der freie Wettbewerb garantiert ist, kann sich die Macht des Stärkeren gegenüber den Schwächeren ungehemmt durchsetzen. Verschärfend kommt hinzu, dass sich die deutsche Exportindustrie durch ihre Niedriglohnpolitik (eine Folge der Hartz-Gesetze) weitere Kostenvorteile verschaffen konnte. Von 2000 bis 2009 sanken in Deutschland die Reallöhne um 4,5 Prozent, während sie im Rest Europas anstiegen. Das Ergebnis ist, dass die starken deutschen Konzerne auf den Märkten in Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland die einheimischen Firmen immer mehr verdrängen.

Deutscher Siegeszug hat eine destabilisierende Wirkung

Der Siegeszug der deutschen Exportindustrie hat aber gleichzeitig destabilisierende Wirkung auf das ganze System. Denn das Gegenstück zu den Außenhandelsüberschüssen der BRD sind die Defizite der Partner. Entsprechend stiegen die Schulden der Verliererstaaten im südlichen Teil Europas in einem solchen Ausmaß, dass nun einige Länder diese Schulden nicht mehr refinanzieren können. Damit nicht ein Land in den Staatsbankrott geht und eine Kettenreaktion mit schwer kontrollierbaren Folgen in weiteren Ländern auslöst, sahen sich die EU-Staaten gezwungen, milliardenschwere Rettungspakete zu schnüren. Bei der Finanzierung dieser Pakete sieht sich die BRD als die wirtschaftlich stärkste Nation natürlich mit dem Anspruch konfrontiert, hier auch den höchsten finanziellen Beitrag zu leisten. Genau das ist es, was den neoliberalen Falken in Deutschland das Blut in Wallung geraten lässt. In völliger Verkennung der Wirklichkeit jammern einschlägig bekannte Gestalten aus CDU/CSU (Bosbach, Seehofer) und FDP sowie Hardcore-Ökonomen wie Ifo-Chef Hans-Werner Sinn darüber, dass Deutschland der Zahlmeister Europas sei und toben herum, dass für sie eine Transferunion nicht in Frage kommt. Kreativ rechnen und fantasieren sie astronomische Zahlen über die angebliche Belastung Deutschland durch die Einführung des Euro herbei.

Verhältnis wie das von Dritte-Welt-Staaten zu den imperialistischen Metropolen

Vergeblich sucht man bei ihnen nach Berechnungen darüber wie hoch die Vorteile sind, die deutsche Unternehmen eingefahren haben, indem sie in anderen Ländern die dort heimische Industrie niederkonkurriert und verdrängt haben. Die EU soll keine Transferunion werden, fordern neoliberale Politiker und Ökonomen. In Wahrheit existiert sie schon längst – wenn auch in einem ganz anderen Sinne. In den Beziehungen zwischen europäischer Peripherie zur Vormacht der BRD hat sich ein Verhältnis entwickelt, das bereits fatal an das von Dritte-Welt-Staaten zu den imperialistischen Metropolen erinnert. Es findet ein massiver Transfer von Reichtum von der europäischen Peripherie ins Zentrum, vor allem nach Deutschland statt. Darüber schweigen Sinn und Co. Sie wollen absahnen, aber sie blasen sich auf, wenn sie einen gewissen Ausgleich für die sozialen Verwerfungen beisteuern sollen, die das bundesdeutsche Kapital mit seinen Exporterfolgen in anderen Ländern verursacht hat

The Winner takes it all

Solch selbstverordneter Realitätsverlust kommt nicht von ungefähr. Er ist erforderlich für die politische Legitimation eines gnadenlosen Konkurrenzsystems, das zum Teil immer irrationaler anmutende Züge annimmt und immer schlimmere soziale Verwerfung schafft. Seit Beginn der sogenannten Euro-Schuldenkrise zeichnet sich die Politik der schwarz-gelben Regierung, dadurch aus, dass sie auf rücksichtsloses Ausnutzen der eigenen Stärke nach dem Motto „The Winner takes it all“ setzt und jegliche Verantwortung für die dadurch entstandenen sozialen und ökonomischen Verwüstungen in anderen Ländern ablehnt. Die neoliberale Hardcore-Linie der deutschen Regierung hat damit in der jüngsten Vergangenheit wesentlich zur Verschärfung der Probleme in Europa beigetragen. Lucas Zeise, Kommentator bei der „Financial Times Deutschland“ (FTD) ist der Meinung, dass die deutsche Bundeskanzlerin mit ihrer sturen Hardcore-Politik vor der Verabschiedung des ersten „Rettungspakets“ für Griechenland mit dazu beigetragen hat, dass die Probleme sich verschärften. „Hätte Merkel gesagt: »Selbstverständlich, wenn das Land Probleme hat, dann bekommen sie einen Überbrückungskredit von so und so viel Milliarden Euro«, dann hätte es für das Hochtreiben der Zinsen und Spekulation gar keinen Raum gegeben. Das wurde nicht gemacht, weil die deutsche Regierung dachte, das wäre zu teuer. Die Idee war, den Sanierungsdruck auf Griechenland zu erhöhen und zu hoffen, dass die Sache vorbeigeht. Das Gegenteil ist jedoch passiert: Die griechische Wirtschaft klappte infolge der Sanierung zusammen, die Rückzahlung der Schulden wurde dadurch immer unwahrscheinlicher und die vermeintlich billige Lösung ist jetzt eine sehr teure. Die Bundesregierung wollte beides: Einerseits die schöne Eurozone, die ihr aufgrund des Wegfallens von Währungsgrenzen einen enormen Markt für den sehr wettbewerbsfähigen Export bietet. Anderseits wollte sie nur Einnahmen, aber keine Kosten. Doch beides zusammen geht in einer solchen Situation nicht.“

Neokoloniales Gehabe

In der politischen Arena geht das von deutschen Politikern zur Schau gestellte Überlegenheitsgefühl („Am deutschen Werten soll die Welt genesen“) oft mit einem anmaßenden Gehabe einher, das im Umgang mit den „Partnern“ kaum ein Fettnäpfchen auslässt und häufig offen neokoloniale Attitüden sichtbar werden lässt. Neuestes Beispiel sind die Ausfälle des Oberschwaben Öttinger, der schwäbische Sparkommissare in die Behörden Griechenlands einmarschieren lassen will, um den Griechen den Schlendrian auszutreiben. Zu Recht führt solch anmaßender deutscher Egoismus bei den Menschen in anderen europäischen Staaten zu Empörung. Es kommt aber durchaus auch bei Teilen des politischen Führungspersonals anderer europäischer Staaten zu Widerständen gegen die deutsche Machtversessenheit und Vorteilsheischerei. Erinnert sei hier an die Kontroverse zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem luxemburgischen Ministerpräsident Jean-Claude Junker um die Einführung von Eurobonds im Dezember 2010.

Keynesianer in der Minderheit

Eher auf Ausgleich bedachte Teile innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Eliten geht die Durchzock-Mentalität des neoliberalen Falkenlagers zu weit. Sie fürchten, dass die Merkel Regierung damit die Probleme nur unnötigerweise verschärft. Sie sehen sich ab und zu genötigt, in verschiedenen Expertisen darauf hinzuweisen, dass Deutschland durchaus Vorteile aus dem Euro zieht. Deswegen finden sich in der FTD oder auch vereinzelt in Spiegel Online Artikel mit Überschriften wie „Der Mythos vom Zahlmeister“. Jüngstes Ergebnis solcher Bemühungen ist eine von der staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) erstellte Studie, über die die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet. Darin heißt es: „Der Euro verschaffe der Republik jährlich einen Wohlstandsgewinn von bis zu 30 Milliarden Euro. In den vergangenen zwei Jahren habe die Mitgliedschaft in der Währungsunion der deutschen Volkswirtschaft somit 50 bis 60 Milliarden Euro beschert, sagte der Chefvolkswirt der Bank, Norbert Irsch, der Frankfurter Rundschau. „Um diesen Betrag wäre die wirtschaftliche Leistung weniger gestiegen, wenn wir die D-Mark gehabt hätten….Die Exportwirtschaft profitiere von dem Umstand, dass der Euro weniger stark aufwerte als es die Mark tun würde – mithin deutsche Produkte im Ausland billiger seien. Zudem wären die Zinsen in den vergangenen beiden Jahren höher gewesen, hätte sie noch die Bundesbank allein mit Blick auf die deutsche Situation festgelegt.“ (http://www.sueddeutsche.de/thema/Bundesbank)

Chauvinistischen Schreihälse geben den Ton an

Festzustellen bleibt allerdings, dass die eher auf Ausgleich mit den europäischen Nachbarn bedachten Teile des wirtschaftlichen und politischen Führungspersonals deutlich in der Minderheit sind. Die offen chauvinistischen Schreihälse sind es, die den Ton angeben. Leidtragende ihres ultra-neoliberalen Kurses sind momentan primär die lohnabhängigen Menschen in den südeuropäischen Peripheriestaaten. Sollte auch die Ökonomie des Exportweltmeisters Deutschland in die Rezession abgleiten, werden wir mit einiger Wahrscheinlichkeit auch hierzulande mit ähnlichen Lohn- und Sozialraubmaßnahmen Bekanntschaft machen, wie sie jetzt auf Geheiß von Merkel und Co in Griechenland, Portugal oder Irland durchexerziert werden.

Anmerkungen:

1) Diese Passagen sind aus einem lesenswerten Artikel von Thomasz Konicz übernommen: „Exportstrategie der verbrannten Erde,“ Junge Welt vom 15.12.2010

2) „Volle Fahrt voraus in die Weltwirtschaftskrise“ Interview mit Lucas Zeise in: marx21 Heft 22 September/Oktober 2011

3) Europrofiteur Deutschland: Schön gerechnet, Süddeutsche Zeitung 08.09.2011

http://www.sueddeutsche.de/thema/Bundesbank

 

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