„Die Macht der Konzerne einschränken“ – Rede der Globalisierungskritikerin Naomi Klein bei Occupy Wallstreet

„Wir veröffentlichen die komplette Rede, die Naomi Klein, die bekannte kanadische Autorin und Globalisierungskritikerin, bei Occupy Wall Street halten wollte, aber nur in Kurzform halten konnte, weil Lautsprecher verboten waren.

Zugesandt von Globalisierungskritikern

Deutsch: http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_11/LP18111_141011.pdf

English: http://www.thenation.com/article/163844/occupy-wall-street-most-important-thing-world-now

Occupy Wall Street: Das ist jetzt die wichtigste Bewegung der Welt

Von Naomi Klein

Ich fühle mich geehrt, dass ich eingeladen wurde, am Donnerstagabend bei Occupy Wall Street zu sprechen. Es ist ein Skandal, dass Euch die Benutzung von Lautsprechern verboten wurde. Weil das, was ich zu sagen habe, von Hunderten von Menschen wiederholt werden muss, damit es alle hören können – man nennt das auch das „menschliche Mikrofon“ – wird das, was ich hier auf dem Liberty Square (Platz der Freiheit in New York) sagen werde, sehr kurz sein müssen. Deshalb werde ich die längere, ungekürzte Version meiner Rede veröffentlichen.

Ich liebe Euch.

Und ich sagte das nicht nur, damit Hunderte von Euch „Ich liebe Dich“ zurückrufen, obwohl sich das als schöner Zug des menschlichen Mikrofons erweist: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, nur etwas lauter. (Wir haben die scherzhafte Bemerkung aus dem englischen Text durch ein deutsches Sprichwort mit dem gleichen Sinngehalt ersetzt.) Gestern sagte einer der Sprecher auf der Gewerkschaftskundgebung: „Wir haben zueinander gefunden.“ Diese emotionale Äußerung spiegelt die Schönheit dessen wider, was hier geschaffen wird. Ihr schafft einen weit offenen Raum – wobei die Euch bewegende Idee so groß ist, dass sie eigentlich kein Raum fassen kann – einen Raum für alle Menschen, die eine bessere Welt wollen, in der alle zueinander finden können. Wir sind euch so dankbar.

Das eine Prozent (das uns beherrscht) liebt die Krise

Eins weiß ich genau, das eine Prozent (das uns beherrscht) liebt die Krise. Wenn Menschen in Panik geraten, verzweifelt sind und keiner mehr zu wissen scheint, was getan werden muss, dann ist das die ideale Gelegenheit für die Herrschenden, ihre Wunschliste für eine noch konzernfreundlichere Politik durchzusetzen: die Privatisierung des Bildungssystems und der Sozialversicherung, die Beschneidung des öffentlichen Dienstes und die Beseitigung der letzten Einschränkungen der Konzernmacht. In dieser Wirtschaftskrise geschieht das auf der ganzen Welt.

„Nein, wir werden nicht mehr länger für eure Krise bezahlen“

Und es gibt nur eine Macht, die diese Taktik durchkreuzen kann, und zum Glück ist das eine sehr große Macht – es sind die anderen 99 Prozent. Und diese 99 Prozent gehen von Madison bis Madrid auf die Straße und rufen: „Nein, wir werden nicht mehr länger für eure Krise bezahlen.“ 2008 ertönte diese Parole zum ersten Mal in Italien. Dann sprang sie über auf Griechenland, Frankreich und Irland, und jetzt hat sie den Platz erreicht, von dem die Krise ausging.

„Seid bei uns willkommen!“

„Warum protestieren die?“, fragen die verwirrten Experten im Fernsehen. Und die übrige Welt fragt zurück: „Warum habt Ihr so lange abgewartet? Wir haben uns oft gefragt, wann Ihr endlich aufbegehrt.“ Und die meisten rufen uns zu: „Seid bei uns willkommen!“ Viele Menschen haben Parallelen gezogen zwischen Occupy Wall Street und den so genannten Antiglobalisierungsprotesten in Seattle, die 1999 die Aufmerksamkeit der Welt erregten. Schon damals hat sich eine globale, von der Jugend angeführte, dezentralisierte Bewegung direkt mit der Konzernmacht angelegt. Und ich bin stolz, an diesen Protesten, die wir die „Bewegung der Bewegungen“ nannten, beteiligt gewesen zu sein. Zwischen damals und heute gibt es wichtige Unterschiede. Damals waren Gipfeltreffen unsere Ziele; diese Treffen sind aber zeitlich begrenzt und dauern höchstens eine Woche. Deshalb trafen wir uns auch immer nur vorübergehend. Wenn wir auftauchten, bestimmten wir für kurze Zeit die Schlagzeilen der Weltpresse und verschwanden dann wieder. Und in der Raserei des Superpatriotismus und Militarismus, die auf die Anschläge am 11.09. folgte, war es leicht, uns zumindest in Nordamerika einfach wegzufegen.

Alle mitbestimmen zu lassen und tief demokratisch zu sein, ist wunderbar

Occupy Wall Street hingegen hat sich ein festes Ziel gewählt. Und Ihr habt euch nicht auf ein Enddatum für Eure Anwesenheit hier festgelegt. Das war klug. Nur wenn Ihr hierbleibt, kann Eure Bewegung Wurzeln schlagen. Das ist von entscheidender Bedeutung. Es ist eine Erscheinung des Informationszeitalters, dass zu viele Bewegungen wie schöne Blumen aufblühen, aber schnell wieder verwelken, weil sie keine kräftigen Wurzeln haben. Und sie haben auch keine langfristigen Pläne, wie sie sich am Leben erhalten könnten. Wenn dann Stürme aufkommen, werden sie einfach weggeweht. Alle mitbestimmen zu lassen und tief demokratisch zu sein, ist wunderbar. Diese Grundsätze solltet Ihr auch beibehalten, wenn Ihr Euch an die schwierige Arbeit macht, Strukturen und Einrichtungen aufzubauen, die stark genug sind, um die kommenden Stürme abzuwettern. Ich glaube fest daran, dass Ihr das schaffen werdet.

Deregulierung war der Preis für den Rausch

Wichtig ist auch, dass diese Bewegung nichts Unrechtmäßiges tut: Ihr habt Euch für die Gewaltlosigkeit entschieden und den Medien nicht die Bilder von zerbrochen Fensterscheiben und Straßenkrawallen geliefert, nach denen sie lechzen. Eure enorme Disziplin hat dazu geführt, dass immer nur der unprovozierte brutale Einsatz der Polizei gezeigt werden konnte, der sich letzte Nacht noch einmal wiederholt hat. Inzwischen wächst und wächst die Unterstützung für diese Bewegung. Verhaltet Euch auch weiterhin so weise! Der größte Unterschied zu 1999 besteht darin, dass der Kapitalismus damals einen außergewöhnlichen Wirtschaftsboom erlebte. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, und die Aktien stiegen. Die Medien berauschten sich an dem billigen Geld. Damals ging es nur um Wachstum und nicht um Firmenpleiten. Schon damals wiesen wir darauf hin, dass die Deregulierung der Preis für den Rausch war. Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich, und die Umweltgesetze wurden missachtet. Konzerne wurden mächtiger als Regierungen, und das zerstörte die Demokratie (in den kapitalistischen Ländern). Aber um ehrlich zu Euch zu sein, auch als die Wirtschaft boomte, ließ sich ein auf Habgier aufgebautes Wirtschaftssystem schlecht verkaufen, zumindest in den reichen Staaten.

Heute gibt es keine reichen Staaten mehr, sondern nur noch reiche Leute

Zehn Jahre später scheint es so, als gäbe es überhaupt keine reichen Staaten mehr, sondern nur noch reiche Leute. Und diese Leute wurden reich durch die Plünderung des öffentlichen Eigentums und durch die Ausbeutung der Bodenschätze der ganzen Welt. Heute kann jeder sehen, dass dieses System zutiefst ungerecht ist und zunehmend außer Kontrolle gerät. Ungehemmte Habgier hat die Weltwirtschaft zerrüttet. Sie zerstört auch unsere Umwelt. Unsere Ozeane werden überfischt und durch Hydraulic Fracturing (siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Hydraulic_Fracturing) und Tiefwasser-Bohrungen verschmutzt; auch durch die Ausbeutung der Teersände von Alberta, die zu den schmutzigsten Energiereserven unseres Planeten gehören (siehe http://www.greenpeace.de/themen/oel/nachrichten/artikel/kanada_oelsande_verursachen_unabsehbar_grossen_umweltschaden/), wird unser Wasser vergiftet. Die Atmosphäre kann die großen Mengen von Kohlendioxyd nicht mehr aufnehmen, die wir produzieren, und das führt zu der gefährlichen Erderwärmung.

Die Welt ist aus den Fugen

Die neue Normalität beschert uns ganze Serien von ökonomischen und ökologischen Katastrophen. Die Probleme auf unserer Erde sind so groß und so offensichtlich, dass es heute viel leichter als 1999 ist, mit den Menschen in Verbindung zu kommen und sie für eine Bewegung zu mobilisieren. Wir alle wissen oder ahnen wenigstens, dass die Welt aus den Fugen ist: Wir tun so, als sei alles unbegrenzt – auch die begrenzten fossilen Brennstoffe und die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für Emissionen. Gleichzeitig lassen wir uns aber einreden, dass es bei den Finanzmitteln, die wir benötigen, um die Gesellschaft aufzubauen, die wir dringend bräuchten, starre und unverrückbare Limits gibt, obwohl reichlich Geld dafür da ist. Die Hauptaufgabe unserer Zeit ist es, dieses Verhalten umzudrehen: Wir müssen nachweisen, dass es die behauptete Geldknappheit nicht gibt, und darauf bestehen, dass wir es uns sehr wohl leisten können, eine menschenwürdige, solidarische Gesellschaft aufzubauen und gleichzeitig die Begrenztheit unsere Erde zu respektieren.

Wir müssen den Klimawandel stoppen

Vor allem müssen wir den Klimawandel stoppen. Dieses Mal darf unsere Bewegung nicht, gespalten, ausgebremst oder durch irgendwelche Ereignisse in den Hintergrund gedrängt werden. Dieses Mal müssen wir erfolgreich sein. Und ich spreche nicht nur die Regulierung der Banken und die Erhöhung der Steuern für die Reichen an, obwohl auch das wichtig ist.

Mein Lieblingsplakat trägt die Aufschrift „Ich kümmere mich um Dich“

Ich spreche über die Veränderung der Werte, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Das ist schwer in einer einzigen medienwirksamen Forderung unterzubringen und auch schwierig umzusetzen. Aber es ist trotzdem dringend, obwohl es hart werden wird. Ihr auf diesem Platz habt damit angefangen. Wie Ihr Euer Essen teilt, Euch gegenseitig wärmt, freimütig Eure Informationen austauscht, medizinische Betreuung organisiert, Meditationskurse veranstaltet und Ertüchtigungsprogramme durchführt, das ist beispielhaft. Mein Lieblingsplakat trägt die Aufschrift „Ich kümmere mich um Dich“. In einer Gesellschaft, in der es die Menschen vermeiden, einander anzusehen, und in der die Devise gilt, „Lasst sie doch sterben“, ist das ein ziemlich radikales Statement.

Am Ende möchte ich auf ein Einiges hinweisen, was in diesem großartigen Kampf wichtig ist und worauf es dabei nicht ankommt.

Unwichtig ist,

– wie wir uns kleiden,

– ob wir unsere Fäuste ballen oder das Peace-Zeichen tragen,

– ob unsere Träume von einer bessere Welt den Medien passen.

Nur Weniges ist wirklich wichtig:

– unser Mut,

– unser moralischer Kompass

– und wie wir einander behandeln.

Kampf gegen die mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräfte unseres Planeten aufgenommen

Wir haben den Kampf gegen die mächtigsten wirtschaftlichen und politischen Kräfte unseres Planeten aufgenommen. Das kann schon Angst machen. Und weil diese Bewegung immer stärker wird, könnte die Angst (vor möglichen Repressionen) noch größer werden. Stellt Euch darauf ein, dass Ihr in Versuchung kommen werdet, Euch leichter erreichbaren Zielen zuzuwenden – wie zum Beispiel der Person, die auf diesem Treffen neben Euch sitzt. Diese „Schlacht“ wäre ja auch leichter zu gewinnen. Gebt dieser Versuchung nicht nach. Ich sage nicht, dass Ihr Euch nicht streiten sollt. Aber dieses Mal müssen wir so miteinander umgehen, als planten wir, den Kampf, der viele, viele Jahre dauern wird, Seite an Seite miteinander durchzustehen, weil die vor uns liegende Aufgabe uns das abfordern wird. Lasst uns diese wunderbare Bewegung so behandeln, als ob sie die wichtigste Sache der Welt wäre. Weil sie das auch wirklich ist.

Weitere Informationen im Internet über Naomi Klein:

http://de.wikipedia.org/wiki/Naomi_Klein

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