Interview von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert:
Sie sagten, dass Sie vor etwa zwei Wochen von einer Veranstaltung in Wolpertshausen ausgeladen worden seien: Um welche Veranstaltung handelte es sich dabei? Bei welcher Veranstaltung in Wolpertshausen durften Sie entgegen vorheriger Absprachen nicht sprechen?
Heide Rühle: Ich wurde vom Europabüro Wolpertshausen als Gastrednerin für die Festveranstaltung zur Wiedereröffnung des Europabüros eingeladen. Nachdem mit dem Europabüro sowohl der Titel meines Eingangsstatements als auch der organisatorische Ablauf besprochen war, erhielten wir vom Landrat eine Einladung zur Wiedereröffnung – im beigefügten Programm bin ich im Gegensatz zu meinen Kolleginnen Gräßle (CDU) und Gebhardt (SPD) allerdings von der Rednerliste gestrichen worden. Wir sind weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt informiert worden, dass bzw. geschweige denn, warum ich plötzlich nicht mehr als Gastrednerin vorgesehen war.
Trotzdem habe ich selbstverständlich das bereits geplante Rahmenprogramm mit der Unabhängigen Grünen Liste Kirchberg (UGL) durchgeführt und zusammen mit dem Bundestagskandidaten Harald Ebner (Grüne) verschiedene Gespräche geführt und Projekte in Kirchberg besucht. Am Abend habe ich selbstverständlich am Festakt „25 Jahre UGL Kirchberg“ teilgenommen.
Was tun Sie in Straßburg und Brüssel dafür, dass bei der öffentlichen Daseinsvorsorge das Gemeinwohl Vorrang vor den Wettbewerbsregeln erhält?
Heide Rühle: Da eine Vielzahl von EU-Regelungen die Kommunen direkt oder indirekt betrifft, setzen wir uns für sinnvolle ökologische und soziale Rahmenbedingungen für die Kommunen ein. Beispielsweise haben wir Grüne uns im Europäischen Parlament erfolgreich dafür eingesetzt, dass sich die Kommunen bei der Auftragsvergabe nicht mehr allein für den kostengünstigsten Anbieter entscheiden müssen. Sie können nun auch ökologische, soziale und ethische Kriterien geltend machen. Statt des Wettbewerbs um das billigste Angebot können so Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit, Klimaschutz und Gleichstellung der Geschlechter stärker ins Zentrum gerückt werden.
In der Daseinsvorsorge kämpfen wir für die Anerkennung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts. Die Zuständigkeit nationaler, regionales und lokaler Behörden für so genannte „Dienste von allgemeinem Interesse“ – wie etwa Wasserversorgung, öffentlicher Personennahverkehr, Krankenhäuser oder soziale Dienste – schreibt zwar der hoffentlich bald in Kraft tretende Vertrag von Lissabon erstmalig im Primärrecht fest. Bis der Reformvertrag in Kraft tritt, wehren wir aber eine überzogene Liberalisierung der Daseinsvorsorge ab, die zu Leistungsverschlechterung und Preiserhöhung führt. Wir forderten daher bereits seit langem zusammen mit Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Akteuren eine Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse zum Schutz dieser Dienste vor dem europäischen Wettbewerbsrecht. Wir setzen uns auch für eine Weiterentwicklung des Europäischen Beihilferechts ein, da unserer Meinung nach z.B. Beihilfen für Frauenhäuser oder andere gemeinnützige Institutionen nicht mit wirtschaftlichen Subventionen gleichzusetzen sind.
Für uns ist aber auch klar, dass die Daseinsvorsorge zeitgemäß gestaltet werden muss: In vielen Initiativen forderten wir daher z.B. Breitbandanschlüsse auch für strukturschwache und ländliche Regionen.
Wichtig ist auch unser Engagement für die interkommunale Zusammenarbeit, die in den letzten Jahren immer wieder vom europäische Wettbewerbsrecht bedroht war, damit auch in Zukunft mehrere Gemeinden zusammen z.B. eine Kläranlage, Mülldeponie oder die Wasserversorgung betreiben können.
Einer Ihrer politischen Schwerpunkte waren nach Ihren eigenen Aussagen in den vergangenen Jahren „Die Fehler der europäischen Liberalisierungspolitik“. Welche besonders schwerwiegenden Fehler wurden bei der Liberalisierungspolitik in der Vergangenheit begangen? Wie können diese Fehler wieder ausgebügelt werden?
Heide Rühle: Die großen Liberalisierungsprojekte der EWU: Energie, Gas, Telekommunikation, Post und Bahn haben nicht wirklich zu mehr Wettbewerb und besseren Angeboten für die Verbraucher geführt. Am besten schneidet in Deutschland noch der Bereich Telekommunikation ab, doch schon im Bereich Energie sieht man, dass wir heute statt staatlichen Monopolen, private haben, dass ein immenser Konzentrationsprozess eingesetzt hat und die privaten Konzerne sich den Markt untereinander teilen. Und spätestens wenn es um große Investitionen in die Infrastruktur, die Netze geht, ist wieder der Staat/der Steuerzahler gefragt. Ohne Druck durch den Gesetzgeber gibt es auch keine Öffnung der Netze für Mitbewerber, werden verbraucherrechtliche Standards unterlaufen.
Die Kommission hätte zum einen viel stärker auf diese Markt- und Machtkonzentrationen achten müssen, zum anderen hätten Kommission und Mitgliedstaaten von vorneherein nicht die Netze in die Liberalisierung und Privatisierung mit ein beziehen dürfen. Netze müssen in öffentlicher Hand bleiben, nur so ist eine flächendeckende Versorgung und eine entsprechende Instandhaltung- und Ausbau der Netze langfristig zu gewährleisten.
Als grüne Europaabgeordnete müssen Sie rund 17 Millionen Menschen in den Bundesländern Baden-Württemberg und Hessen politisch betreuen. Das ist viel mehr als ein Bundestagsabgeordneter betreuen muss. Angesichts der Tatsache, dass Sie als EU-Parlamentarierin auch noch mehr Sitzungswochen haben als Ihre Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, ist eine effektive Betreuung im „Wahlkreis“ doch gar nicht zu schaffen – oder wie sehen Sie das?
Heide Rühle: Europaabgeordnete können sicher nicht in der gleichen Weise präsent sein wie beispielsweise Landtagsabgeordnete, viele Empfänge und feierliche Eröffnungen finden ohne uns statt. Wir müssen Schwerpunkte setzen und einer meiner Schwerpunkte in den vergangenen Jahren war der Bereich Jugend und Schule. Wenn man den Umfragen Glauben schenken kann, sind vor allem Jugendliche skeptisch gegenüber der EU und fühlen sich schlecht informiert. Ich habe war deshalb in vielen Schulen und habe Schulklassen auch nach Strassburg ins Parlament eingeladen. Meine Erfahrungen waren gut, man kann Jugendliche von Europa begeistern. Ich biete auch regelmäßig Informationsveranstaltungen zu Europa im baden-württembergischen Landtag an, die gut besucht sind.
Warum stehen so viele Menschen dem Projekt Europa skeptisch oder gleichgültig gegenüber? Abzulesen ist die Gleichgültigkeit immer wieder an der niedrigen Wahlbeteiligung. Diese wäre in Baden-Württemberg sicher noch geringer, wenn die Europawahl terminlich nicht mit den Kommunalwahlen zusammengelegt wäre.
Heide Rühle: Viele Menschen fühlen sich von Europa nicht genügend informiert. Andererseits sagen uns Journalisten, das Thema sei nicht „interessant“ genug. Und auf Veranstaltungen findet man auch eher die schon Interessierten und Informierten, so beißt sich die Katze in den Schwanz. Wichtig wäre sicher, dass auch Landes- und Bundespolitiker das Thema Europa ernster nehmen und nicht nur zu durchsichtigen Wahlkampfzwecken instrumentalisieren würden. Nach dem Motto: Positives von Brüssel habt ihr mir zu verdanken – für Negatives ist die Brüssler Bürokratie verantwortlich.
Haben Sie Verständnis dafür, dass die Iren den Lissabon-Vertrag in einer Volksabstimmung abgelehnt haben? Wie geht das mit dem Lissabon-Vertrag jetzt weiter? Welche zentralen Vorteile hätten die Menschen in Europa, wenn der Lissabon-Vertrag umgesetzt werden würde?
Heide Rühle: Ich habe Verständnis, denn die Informationen waren schlecht, wenn selbst ein amtierender irischer Kommissar öffentlich erklärt, er habe den Vertrag zwar nicht gelesen, das sei aber auch nicht wichtig und die Iren sollten einfach mit Ja stimmen…
Allerdings hat sich die Meinung in Irland geändert, denn die Menschen haben in der Finanz- und Wirtschaftskrise die Vorteile Europas erkannt. Gerade in Irland hat der Euro enorm zur Stabilisierung beigetragen. Wir gehen davon aus, dass nach den Europawahlen ein neues Referendum in Irland statt finden wird und hoffen diesmal auf ein Ja.
Was macht so überzeugt von diesem Vertrag? Nun zum einen wird die EU sehr viel demokratischer, mit einer Million Stimmen kann ein Bürgerbegehren angestoßen werden, dass es den Menschen ermöglichen würde, direkten Einfluss auf die Politik der EU zu nehmen. Die Grundrechtecharta würde endlich rechtsverbindlich und würde damit auch die sozialen Grundrechte der Bürger und Bürgerinnen in Europa schützen. Das von den Bürgern direkt gewählte Parlament bekommt mehr Rechte. Der Rat, das heißt die Versammlung der Regierenden tagt öffentlich, wenn er über Gesetze verhandelt, das macht Europa transparenter. Und die Subsidiarität, das heißt die Selbstverwaltungs- und Gestaltungsrechte der Regionen und Kommunen werden besser geschützt.
Weitere Informationen über Heide Rühle:
de.wikipedia.org/wiki/Heide_Rühle
Die Grundrechtecharta ist KEIN Fortschritt:
http://works.bepress.com/jakob_cornides/3/