Nähern sich Wanderer dem Ort Michelbach an der Lücke im östlichen Landkreis Schwäbisch Hall, nahe der bayerischen Grenze, fällt ihnen zunächst die St. Michael-Kirche mit ihrem spitzen Turm auf. Das christliche Gotteshaus ist weithin zu sehen. Die ehemalige jüdische Synagoge im Dorf ist nicht so leicht zu finden. Das schlichte Gebäude mit Walmdach und kleiner Apsis nach Osten steht in der Judengasse, ein paar Meter abseits der Hauptstraße. Es ist eines der ältesten Synagogengebäude in Baden-Württemberg.
Von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert
Jeden ersten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr geöffnet
Vor etwa 35 Jahren wäre die ehemalige Synagoge fast abgerissen worden. Doch dazu kam es durch den engagierten Einsatz verschiedener Menschen glücklicherweise nicht. Seither ist das Gebäude mehrfach gerichtet worden. In den vergangenen Jahren sanierte die Gemeinde Wallhausen als Eigentümerin die Synagoge für rund 120.000 Euro. Auch eine neue Heizung wurde eingebaut. Etwa 50.000 Euro konnten durch öffentliche Zuschüsse abgedeckt werden. Beim Internationalen Museumstag 2013 wurde die Gedenkstätte Synagoge Michelbach/Lücke wieder eingeweiht. Nun ist sie wieder jeden ersten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Führungen werden auch außerhalb der Öffnungszeiten angeboten.
Ehemalige Synagoge ist Gedenkstätte
Landesrabbiner Netanel Wurmser zeigte sich bei der Wiedereinweihung „sehr bewegt, diesen Ort zu sehen“ und freute sich darüber, „dass die ehemalige Synagoge als Gedenkstätte dient, und nicht als Werkstatt oder Lager benutzt wird“.
Ausstellung neu konzipiert
Der rührige „Förderverein Synagoge Michelbach“ wollte die Ausstellung nach der Sanierung „neu konzipieren, um sie auch für Schülergruppen ansprechender zu machen“, berichtet die stellvertretende Vorsitzende Christel Pfänder. Ein Teil der neuen Ausstellung, gestaltet von der Historikerin Sonja Hosseinzadeh, kann bereits besichtigt werden. Im Mittelpunkt steht das Landjudentum mit seinem religiösen Leben, seinen privaten und öffentlichen Feiern. Im Innenraum ist ein für die Schabbatfeier gedeckter Tisch zu sehen, ebenso ein Toraschrein mit geschmückten Torarepliken. Diese Stücke lassen etwas von jüdischer Tradition spüren, die jahrhundertelang auch in Michelbach gelebt wurde.
Genisa-Dokumente von einer Müllkippe gerettet
Eine historische Rarität sind Teile der Genisa (Bücherfriedhof). Die Genisa zeugt von den Lesegewohnheiten der Michelbacher Juden. An einer Bildschirmstation berichtet der frühere Michelbacher Bürgermeister Karl Müller in einer Videoaufzeichnung darüber, wie er die alten Genisa-Dokumente von einer Müllkippe gerettet hatte.
Schicksal jüdischer Bürger nahebringen
Am Beispiel konkreter Einzelpersonen soll den Besuchern auch das „Schicksal jüdischer Bürger nahe gebracht werden“, schreibt Pfarrerin Elke Hahn aus Reubach, erste Vorsitzende des Fördervereins, über die neue Konzeption. Dazu ist unter anderem eine Vitrine mit Ausstellungsstücken aus dem Leben Moritz Eichbergs geplant. Eichberg hatte die Gefangenschaft in mehreren Konzentrationslagern überlebt und kehrte nach der Befreiung aus Theresienstadt nach Michelbach/Lücke zurück. Dort lebte der Viehhändler bis 1961. Er starb 1968 in Crailsheim im Alter von 73 Jahren.
In der Reichspogromnacht wurde die Inneneinrichtung völlig zerstört
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 war die Michelbacher Synagoge zwar nicht angezündet, doch die Inneneinrichtung völlig zerstört worden. Das Gebäude durfte von den Gläubigen fortan nicht mehr benutzt werden. Während des Zweiten Weltkriegs hatte der Fliegerhorst Crailsheim darin ein Munitionslager. Später diente es einer Firma als Getränkelager.
Bereits 1938 wurden die ersten Michelbacher Juden deportiert
Bereits am 27. November 1938 wurden die ersten Michelbacher Juden über Crailsheim nach Stuttgart abtransportiert. Nicht Arbeitsfähige wurden von den Nazis sofort umgebracht, die anderen kamen in Konzentrationslager. 1941 und 1942 deportierten die NS-Schergen die letzten 19 Juden aus Michelbach nach Riga und Theresienstadt. Damit ging die fast 450-jährige Geschichte der kleinen jüdischen Gemeinde im Nordosten Württembergs zu Ende. Mindestens 17 jüdische Bewohner Michelbachs fielen während des Dritten Reichs der nationalsozialistischen Judenverfolgung zum Opfer. Nur zwei haben die Deportation überlebt: Thea Gundelfinger und Moritz Eichberg.
Jahrzehntelange unsachgemäße Nutzung
Im Jahr 1978 wäre es in Michelbach beinahe zu der bereits erwähnten bauhistorischen Katastrophe gekommen. Um ein Haar wäre eines der ältesten Synagogengebäude Baden-Württembergs abgerissen worden. Dass dies nicht passierte, ist vor allem Hans-Helmut Dieterich, einem jungen Beamten der Schwäbisch Haller Landratsamtsaußenstelle in Crailsheim zu verdanken. Dieterich, später Oberbürgermeister der Stadt Ellwangen/Jagst, hatte seinen Vorgesetzten Albert Rothmund, zu diesem Zeitpunkt Erster Landesbeamter des Kreises Hall, auf das dringend sanierungsbedüftige ehemalige jüdische Gotteshaus in Michelbach aufmerksam gemacht. Durch jahrzehntelange unsachgemäße Nutzung seit dem Zweiten Weltkrieg war die Synagoge „einsturzgefährdet“, erinnerte sich Rothmund später. Die Außenwände mussten mit Balken abgestützt werden. „Ein Fußtritt hätte genügt, dann wären die Wände eingebrochen“, erzählte der historisch interessierte ehemalige Landesbeamte.
Synagoge sollte einem neuen Lagerhaus weichen
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die ehemalige Synagoge in Privatbesitz und wurde schließlich von einer Mostkellerei als Abfüll- und Lagerraum genutzt. Der Eigentümer wollte das mittlerweile verwahrloste Gebäude Ende der 1970er Jahren abreißen lassen und an gleicher Stelle ein neues Lagerhaus errichten. Dieses Vorhaben verhinderte jedoch das Landratsamt Schwäbisch Hall. Der erste Schritt für die Rettung und eine angemessene Nutzung des Gebäudes war somit getan. 1978 kaufte die Gemeinde Wallhausen das Haus mit Mitteln des Landkreises. Ein Jahr später wurde es in das Schwerpunktprogramm Denkmalpflege des Landes Baden-Württemberg für besonders erhaltenswerte Baudenkmäler aufgenommen. 1982 begann die Sanierung. 500.000 D-Mark (rund 255.000 Euro) investierte das Land in die Rettung der ehemaligen Synagoge.
Seit 1984 Gedenkstätte zur Geschichte der Juden in der Region Franken
Seit der Einweihung im Jahr 1984 befand sich darin eine Gedenkstätte zur Geschichte der Juden in der Region Franken. Träger der Gedenkstätte sind die Landkreise Schwäbisch Hall, Heilbronn, Hohenlohe, Main-Tauber sowie die Stadt Heilbronn. Für die Konzeption und Umsetzung der ersten Dauerausstellung war der ehemalige Haller Kreisarchivar Hans-Peter Müller verantwortlich. „Wir leisteten damit landesweit echte Pionierarbeit“, sagte der promovierte Historiker im Rückblick. Für ihn geriet das Vorhaben zu einer Herzensangelegenheit. Durch die Synagogenarbeit bekam er „zahlreiche freundschaftliche Kontakte zu jüdischen Menschen in den USA, Israel und Australien“.
Wertvolle Schriftstücke wurden unterm Dach des Rathauses vergessen
Seit 1999 besitzt die Michelbacher Synagoge mit Teilen der „Genisa“ wieder eine echte historische Rarität. Bei den Renovierungsarbeiten zu Beginn der 1980er Jahre waren im Dachgebälk rund 70, etwa 200 Jahre alte hebräische Schriften aus Michelbach gefunden worden. Vom Dachstuhl gelangten die wertvollen Fragmente über Umwege ins Michelbacher Rathaus, wo sie jahrelang „vergessen“ wurden. Erst als Kreisarchivar Müller in den 1990er Jahren das Michelbacher Ortsarchiv ordnete, kamen die seltenen biblischen und profanen Schriftstücke wieder zum Vorschein. Anschließend wurden sie aufwändig restauriert. „Der Genisa-Fund enthält die einzigen authentischen Materialien aus der gewaltsam ausgelöschten jüdischen Gemeinde Michelbachs“, machte Hans-Peter Müller schon vor einigen Jahren den historischen Wert deutlich.
Seit 1555 lebten Juden in Michelbach
Jüdisches Leben lässt sich in Michelbach bis ins Jahr 1555 nachweisen. Die Gottesdienste fanden bis 1757 in Privathäusern statt. Auf dem jüdischen Friedhof Michelbach, der 1840 außerhalb des Orts im Gewann „Judenwasen“ angelegt worden war, wurden bis 1938 etwa 371 Juden aus den Ortschaften Michelbach, Hengstfeld und Wiesenbach bestattet. Der Friedhof liegt etwa eineinhalb Kilometer von der Synagoge entfernt, auf freiem Feld zwischen Michelbach, Reubach und Roßbürg.
Bis 1840 wurden Michelbacher Juden in Schopfloch begraben
Bis 1840 wurden die jüdischen Einwohner Michelbachs im knapp 20 Kilometer entfernten Schopfloch beerdigt. Weil jüdische Gräber aus Glaubensgründen nur einmal belegt werden, musste der Michelbacher Friedhof schon bald erweitert werden. Der Friedhof ist für Juden ein heiliger Ort. Die Männer dürfen ihn auch heute noch nur mit einer Kopfbedeckung betreten.
Ein Drittel der Einwohner waren jüdischen Glaubens
In Michelbach kümmert sich der „Förderverein Synagoge Michelbach“ mit rund 60 Mitgliedern seit 13 Jahren darum, dass die jüdische Geschichte der heute etwa 540 Einwohner zählenden Ortschaft nicht in Vergessenheit gerät. Immerhin 225 der einst etwa 700 Bewohner Michelbachs im Jahr 1858 waren Juden. 1933 gab es noch 33 jüdische Bewohner im Ort. Die meisten von ihnen verdienten ihren Lebensunterhalt durch Hausieren oder Viehhandel. Der Großteil lebte in ärmlichen Verhältnissen.
Weitere Informationen im Internet:
http://www.alemannia-judaica.de/michelbach_synagoge.htm
http://www.synagoge-michelbach-luecke.de/
http://www.crailsheim.de/87.0.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Synagoge_(Michelbach_an_der_Lücke)