Bei der Demonstration „Für eine Welt ohne Ausgrenzung und Menschenverachtung“ am Samstag, 22. März 2014, in Sinsheim hat auch der Schwäbisch Haller Jochen Dürr gesprochen. Dürr ist Landessprecher der VVN-BdA Baden-Württemberg. Die Demonstration richtete sich vor allem gegen die rassistische Hetze gegen Flüchtlinge durch die regionalen Neonazi-Zirkel im Kraichgau und der Rhein-Neckar-Region.
Hohenlohe-ungefiltert veröffentlicht Jochen Dürrs Rede in voller Länge
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
ich stehe hier für die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der AntifaschistInnen), die älteste antifaschistische Organisation, die seit Jahrzehnten konsequent gegen die Nazis und Krieg arbeitet und deswegen vom Verfassungsschutz (VS) überwacht wird. Da stellt sich für mich die Frage: Was macht dieser VS eigentlich?!
NSU: Braune Terroristen
In meinem kurzen Redebeitrag konzentriere ich mich auf die Rolle des Inlandsgeheimdienstes im Zusammenhang mit der NSU, den braunen Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrundes. Es gibt gut recherchiertes Material von Journalisten: Von Thomas Moser aus Stuttgart und Thumilan Selvakumaran aus Schwäbisch Hall. Jeden Tag werden von den mutigen Journalisten neue Fakten in die Öffentlichkeit gezerrt.
„Michele Kiesewetter war kein Zufallsopfer“
Die Ergebnisse der Ermittlungsgruppe des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg lassen alle Fragen offen. War die ermordete Michele Kiesewetter nur ein Zufallsopfer?! Nein, liebe FreundInnen, der VS lässt die Katze bewusst nicht aus dem Sack.
Unterschriftenaktion der VVN-BdA Baden-Württemberg
Es müssen die richtigen Fragen gestellt. Seit Ende Januar 2014 gibt es eine Unterschriftenkampagne der VVN-BdA Baden-Württemberg für einen parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss im baden-württembergischen Landtag. Es geht um die Aufarbeitung von neuen Merkwürdigkeiten, Unklarheiten und Ungereimtheiten.
Neue Fakten werden tagtäglich bekannt:
– Im NSU Prozess in München
– Durch die Untersuchungsausschüsse im Bundestag, den Landtagen von Thüringen, Bayern und Sachsen
– Presseberichte über die Verstrickungen vom VS mit den V-Leuten in den Nazistrukturen
Nur einige Beispiele für aufklärungsbedürftige Sachverhalte seien genannt:
In der ausgebrannten „NSU“-Wohnung in Zwickau wurden Stadtpläne und andere Dokumente gefunden, die Hinweise auf ausgespähte Anschlagsziele und Fluchtrouten in Baden-Württemberg enthielten. Die größten Rätsel gibt der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese auf. Trotz des hohen Nachdrucks, mit dem Morde an Polizeiangehörigen sonst aufgeklärt werden, tappten die Behörden von einer Ermittlungspanne in die nächste und immer im Dunkeln.
Strafanzeigen gegen ermittelnde Beamte der Polizei
Der rassistische Verdacht auf Sinti und Roma veranlasste Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrates der Sinti und Roma zu Strafanzeigen gegen ermittelnde Beamte der Polizei. Erst als beim Auffliegen des Terrortrios am 4. November 2011 in Eisenach im ausgebrannten Wohnmobil die Waffen der ermordeten Polizistin und ihres Kollegen sowie deren Handschellen gefunden wurden, ging die Polizei von einem rechts terroristischen Hintergrund aus und ordnete die Taten dem „NSU“ zu.
Hinweise einer V-Frau wurden ignoriert
– Warum spielte bei den Ermittlungen nie der Hinweis eine Rolle, den eine „V-Frau“ dem baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz schon kurz nach der Tat gegeben hatte, wonach Neonazis aus Schwäbisch Hall in die Ereignisse verwickelt waren?
– Warum wurde niemals nachdrücklich vier Phantombildern der Täter nachgegangen, die kurz nach dem Heilbronner Mord von Zeugen erstellt wurden? Keines ähnelt den Mitgliedern des Terrortrios, eines aber verblüffend einem polizeibekannten Nazifunktionär, ehemaligen Söldner, einschlägig Vorbestraften und mutmaßlichen „V-Mann“ aus der Region?
– Warum hielten sich am Tag des Heilbronner Mordes mindestens fünf Mitarbeiter von Geheimdiensten auf oder in der Nähe der Theresienwiese auf?
– Welche Verbindungen bestehen zum baden-württembergischen „Ku-Klux-Klan“, dessen Gründer und Leiter, wie jetzt vom Innenministerium bestätigt wurde, ein „V-Mann“ des baden-württembergischen Verfassungsschutzes war? Der Gruppenführer der ermordeten Polizistin war zusammen mit mindestens einem weiteren Polizisten ebenfalls Mitglied dieser rassistischen Gruppe.
„Neoschutzstaffel – NSS“
– Was hat es mit dem Todesfall am 16.9.2013 auf dem Cannstatter Wasen auf sich? Dort wurde ein junger Neonazi angeschnallt und verbrannt in seinem Auto gefunden. Er war an diesem Tag nach Stuttgart gefahren, um beim Landeskriminalamt zum Mordfall in Heilbronn auszusagen. Zuvor schon hatte er Hinweise auf eine ihm bekannte weitere Naziterrorgruppe namens „Neoschutzstaffel – NSS“. gegeben, die in Baden-Württemberg aktiv sei.
– Warum weicht der Heilbronner Polizistenmord vom sonstigen Tatschema des „NSU“ so offensichtlich ab? Warum wurde die Mordserie an Gewerbetreibenden mit Migrationshintergrund (mit immer derselben Waffe!) nach der Heilbronner Tat abgebrochen?
Aufruf zur Unterschriftenaktion:
Unseren Aufruf der VVN-BdA Baden-Württemberg haben als ErstunterzeichnerInnen über 80 Menschen aus der Politik, den Gewerkschaften und anderer Organisationen unterzeichnet!
Wie verhält sich die grün-rote Landesregierung zur Einrichtung eines NSU-Untersuchungsausschusses?
Die SPD-Landtagsfraktion steht voll hinter Innenminister Reinhold Gall, der keinen Untersuchungsausschuss haben möchte. Der SPD-Landesvorstand hat sich in einem Antrag auf eine Enqueteausschuss geeinigt, der am kommenden Samstag in Wiesloch bei einem Sonderparteitag der SPD Baden-Württemberg diskutiert und verabschiedet wird. Als VVN-BdA Baden-Württemberg werden wir mit einem Infostand vertreten sein und mit den Delegierten intensiv für einen Untersuchungsausschuss werben.
Gewünscht werden mutige Delegierte
Ich wünsche mir am kommenden Samstag in Wiesloch, nur wenige Kilometer von hier entfernt, mutige Delegierte, die für einen NSU-Untersuchungsausschuss stimmen werden.
Mit einem Untersuchungsausschuss ist Schluss mit dem Kurs der Kaschierung und Vernebelung der intensiven Kontakte des Inlandsgeheimdienstes mit den Nazistrukturen in Baden-Württemberg. Liebe SPD … das ist eine klare Aufforderung von hier aus … von dieser Demonstration!
Lasst mich abschließend etwas zur NPD sagen:
Alexander Neidlein, derzeit NPD-Landesvorsitzender, ist vorbestraft wegen Bankraub, war mehrfach als Söldner in Südafrika und Bosnien und sieht einem der Männer mutmaßlich den Fahndungsfotos aus Heilbronn ähnlich. Ist Neidlein mutmaßlich ein V- Mann des Inlandsgeheimdienstes ?! Diese Frage wäre zu klären.
Der NPD den finanziellen Boden entziehen
Ich wünsche, dass das NPD-Verbotsverfahren des Bundesrates zu einem guten Abschluss kommt und die NPD dann keine Steuermittel und Parlamentsstrukturen mehr zur Verfügung stehen. Den offensichtlichen Verstrickungen der NPD und der rechten Kameradschaften wie hier auch in Sinsheim und ihrem offensiven Auftreten in der Sinsheimer Öffentlichkeit wäre damit zumindest der finanzielle Boden entzogen.
Noch ein letztes Wort zur Hetze gegen Flüchtlinge:
Ich erinnere an das Jahr 1992, wo nach rassistischen Übergriffe gegen Flüchtlinge wie in Rostock-Lichtenhagen und anderen Orten in der Republik der Grundgesetzartikel zum Asylrecht geändert wurde … durch die Parteien CDU, CSU, FDP und SPD … das darf nicht vergessen werden. Daraufhin wurden die Grenzen nach Deutschland dicht gemacht und es kommt nur noch ein Promille überhaupt zu uns. Durch kriegerische Ereignisse in vielen Ländern verlassen viele Menschen ihr Herkunftsland und kommen aber oft nicht weit. Durch die Agentur Frontex saufen viele Flüchtlinge im Mittelmeer ab und werden durch eine militärische Außenpolitik die EU-Außengrenzen abgeschottet werden.
Gegen die alten Ressentiments gegen Flüchtlingsunterkünfte kämpfen
Wir müssen auch 2014 gegen die alten Ressentiments gegen Flüchtlingsunterkünfte kämpfen. Es bedarf einer geschlossenen Gegenwehr aller demokratischen Kräfte in Orten, wo rassistische Stimmungen gegen Flüchtlingsunterkünfte wieder hochgezogen werden.
Es muss aber auch eine massive Gegenwehr geben, gegen homophobe Demonstrationen auf unseren Straßen, angeführt von Rechtsradikalen und rechten Kirchenkreisen. Sie machen mobil gegen einen Bildungsplan an baden-württembergischen Schulen, der dafür sorgen soll, dass Menschen als Menschen geachtet und beachtet werden.
Gegen Rassismus, Hetze gegen Flüchtlinge und Homophobie
Der alltägliche Kampf gegen Rassismus, Hetze gegen Flüchtlinge und Homophobie braucht einen gesellschaftlichen Konsens und breitere Bündnisse, als sich heute in Sinsheim hier zusammengefunden hat.
Nehmen wir das als Hausaufgabe mit nach Hause:
in unserem Freundeskreis,
in unsere gewerkschaftlichen Strukturen
in unsere Antifastrukturen
Der Konsens kann zusammengefasst werden:
Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!
Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!
Weitere Informationen und Kontakt:
https://linksunten.indymedia.org/de/node/102781