1895 erscheint Gustave Le Bons >Psychologie Des Foules< (dt. Psychologie der Massen). Sein Buch über die Seele der Massen und die Gesetze ihrer Beeinflussung und Führung zählt mit "zu den größten Leistungen der Psychologie und Soziologie" (wie uns der Text auf dem Umschlag vollmundig aufklärt). Passend zum Wahltag ein kleiner Auszug aus dem Kapitel "Die Wählermassen".
Von Axel Wiczorke, Hohenlohe-ungefiltert
„Die Wählermassen, d.h. die Gesamtheiten, die zur Wahl der Inhaber gewisser Ämter berufen sind, bilden ungleichartige Massen; da sie aber nur in einer ganz bestimmten Frage ihre Wirksamkeit entfalten, nämlich bei der Wahl zwischen mehreren Kandidaten, so lassen sich bei ihnen nur einige der früher beschriebenen Merkmale beobachten. Besonders hervorragend ist die geringe Urteilsfähigkeit, dann der Mangel na kritischem Denken, die Erregbarkeit, Leichtgläubigkeit und Einfalt der Massen. Auch entdeckt man in ihren Entscheidungen den Einfluss der Führer und die Wirkung der bereits angeführten Triebkräfte: Behauptung, Wiederholung, Nimbus und Übertragung.
Sehen wir nun zu, wie sie zu gewinnen sind. Ihre Psychologie lässt sich nach bewährter Methode klar ableiten. Als erste Eigenschaft muss der Bewerber einen Nimbus haben. Persönlicher Nimbus kann nur durch Reichtum ersetzt werden. Talent und selbst Genie sind keine Vorbedingungen für den Erfolg. (…)
Das geschriebene Programm der Kandidaten darf nicht sehr entschieden sein, weil seine Gegner es ihm später entgegenhalten könnten, aber sein mündliches Programm kann nicht übertrieben genug sein. Die außerordentlichsten Reformen dürfen in Aussicht gestellt werden. Für den Augenblick erzielen diese Übertreibungen große Wirkung und für die Zukunft verpflichten sie zu nichts. Der Wähler kümmert sich später tatsächlich nie darum, ob der Gewählte sein Glaubensbekenntnis, dem man begeistert zustimmte und das angeblich die Voraussetzung für das Zustandekommen der Wahl war, auch wirklich befolgt hat.“
(Gustave Le Bon: Psychologie der Massen. Kröner Verlag, Stuttgart 1973)