Zwei Arbeitsgerichtsurteile dieser Woche legen den Verdacht der Klassenjustiz am Arbeitsgericht nahe. In Radolfzell befand das Gericht, dass die fristlose Kündigung einer Altenpflegerin, die sechs Maultaschen mit nach Hause nahm, rechtmäßig gewesen sei. In Frankfurt am Main hat ein Richter der Klage eines für Milliardenverluste verantwortlichen Investmentbankers auf Zahlung einer Abfindung von 1,5 Millionen Euro stattgegeben.
Leserbrief von Jochen Dürr, Mitglied des ver.di-Bezirksvorstands Heilbronn-Neckar-Franken
Milliardenraub am Gesellschaftsvermögen bleibt weitgehend folgenlos
Man/frau könnte das als Einzelfälle abtun. Das Urteil zugunsten des Bankers war tatsächlich das erste seiner Art, wird aber vorraussichtlich nicht das letzte bleiben. Kündigungen wegen eines Bagatelldeliktes – wie das der Altenpflegerin – aber werden schon langsam zum Gewohnheitsrecht eines bar jeden sozialen Gewissens agierenden Unternehmertums und einer erbarmungslosen Richterschaft. Wer Bagatelldelikte verübt, weil er (oder meistens sie) sich Kavaliersdelikte nicht leisten kann, findet keine Gnade. Dass sich die Klassenjustiz gegen die sozial Schwachen austobt, wie schon lange nicht mehr, ist gewiss kein Zufall,. Ihr liegt die ideologische Prämisse zugrunde, dass jegliches Vergehen gegen seine Heiligkeit, das Privateigentum, mit drakonischen Strafen zu ahnden ist, während umgekehrt der Milliardenraub am Gesellschaftsvermögen weitgehend folgenlos zu bleiben habe, um das gewinnorientierte Unternehmertum bei Laune zu halten. Mit der drastischen Strafe für „Mundraub“ der Altenpflegerin soll die Umverteilung nach unten gleich mit kriminalisiert werden. Die Umverteilung nach oben, die Rückerstattung verzockter Gelder durch die Steuerzahler, erscheint hingegen als notwendige „Tributleistung der Gesellschaft“ an das risikobereite Management.