Folgendes Schreiben des SPD-Kreisverbands Schwäbisch Hall ist vor kurzem bei Hohenlohe-ungefiltert angekommen: Antrag an den Bildungspolitischen Ausschuss der Landes-SPD Baden-Württemberg – Schulpolitische Leitlinien der SPD im Landtagswahlkampf 2011. Hier: Fortführung der Positionen der SPD in „Bildungsaufbruch in Baden-Württemberg 2007“
Vom SPD-Kreisverband Schwäbisch Hall
Begründung: Die Grundlagen, wie sie in unserem „Bildungsaufbruch in Baden-Württemberg“ aus dem Jahr 2007 vorliegen, hatten den Sinn, zu einer allgemeinen Diskussion zur Schulpolitik anzustoßen, um auf der Basis der dann erzielten Ergebnisse ein Wahlkampfkonzept der SPD zu formulieren. Wir unterstützen die grundsätzlichen Positionen, die darin enthalten sind, und sind froh über die gedankliche Klarheit und ihre inhaltlichen Aussagen. Wir haben uns mit den Thesen auseinandergesetzt, und schlagen auf ihrer Grundlage Formulierungen vor, die die theoretischen Grundlagen deutlicher herausstreichen, und Aussagen, die uns zu sehr ins Detail zu gehen scheinen, herausstreichen. Im Hinblick auf ein Wahlkampfkonzept bedarf die endgültige Formulierung und Darstellung weiterer redaktioneller Überarbeitung.
Eine bessere Schule für alle
Schule als Teil unserer liberalen, sozialen und demokratischen Werteordnung, wie sie sich im Grundgesetz und der Landesverfassung Baden-Württemberg niedergeschlagen hat, ist diesen Werten in ihrer täglichen Arbeit verpflichtet. Sie orientiert sich an einem Menschenbild, wie es in Artikel 1 Grundgesetz formuliert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Daraus ergeben sich vier Grundaussagen für die Bildung:
1. Jeder Mensch ist einmalig und mit einem eigenen Rechtsanspruch auf Bildung ausgestattet.
2. Jeder Mensch hat den gleichen Anspruch auf eine optimale Förderung ohne Ansehen von Geschlecht, Rasse, sozialer Herkunft, Unterschiedlichkeit und Religion.
3. Jeder Mensch hat das Recht auf seine persönliche Entwicklung zu einem freien, demokratisch gesinnten und verantwortlichen Bürger unseres Staates.
4. Jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, optimal auf das Leben in der Gesellschaft und in seinem Beruf seinen Fähigkeiten und Wünschen gemäß vorbereitet zu werden.
Ausgehend von den Grundwerten unserer Verfassungsordnung weiß sich die SPD folgenden Forderungen an das Schulsystem verpflichtet:
1. Individuelle Chancengerechtigkeit. Kein Schüler und keine Schülerin dürfen auf ihrem Entwicklungsweg benachteiligt werden.
2. Schutz der Person. Jeder Schüler und jede Schülerin haben einen Anspruch auf körperliche und seelische Unverletzlichkeit ihrer Person.
3. Persönliche Freiheitsrechte. Die Schule muss sich als Polis Schule, bzw. als Lebensraum Schule, verstehen, in dem die demokratischen, freiheitlichen und sozialen Werte eines verantwortlichen Umgangs miteinander gelebt und Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden.
4. Erziehungsauftrag der Eltern. Artikel 6 Grundgesetz betont den hohen verfassungsrechtlichen Rang des Elternrechts
in der Erziehung. In der Frage des Schulbesuchs kann dieses Recht nicht auf eine einfache, schulische Standortwahl reduziert werden. Deshalb müssen die Schulen und ihre Träger innerhalb einer staatlichen Rahmengesetzgebung über ihre inhaltliche, strukturelle und personelle Ausgestaltung frei entscheiden können.
5. Erziehungspartnerschaft. Eine echte Partnerschaft in der Erziehung unserer Kinder erfordert ein professionelles Unterstützungssystem für alle, die mit der Schule zu tun haben: Schüler, Eltern und Lehrer. Deshalb muss ein Schulbegleitsystem angeregt werden, das unabhängig von staatlichen Aufsichtsorganen auf eigene Rechnung arbeitet. Sie bedienen als Anbieter auf einem allgemeinen, pädagogischen Ausbildungsmarkt die Nachfrage nach ihren Produkten. Den Schulen werden dafür die Finanzmittel direkt zur Verfügung gestellt, die bereits bisher in den staatlichen Haushaltsplänen vorgesehen sind.
Das Recht auf Chancengerechtigkeit unter den Kindern und deren Anspruch auf ein leistungsfähiges, besseres Schulsystem für alle Schülerinnen und Schüler, müssen allen gleichermaßen zugute kommen.
Folgende Punkte charakterisieren die neue Schule:
1. Freude stärkt – eine Pädagogik der Vielfalt
Damit jeder Schüler und jede Schülerin ihren Fähigkeiten gemäß lernen können, muss sich die Pädagogik den Schülerinnen und Schülern anpassen und nicht umgekehrt die Schüler der Pädagogik. Diese Reformpädagogik – wie sie bereits seit über 80 Jahren in einzelnen Schulen Deutschlands praktiziert, und in den meisten Ländern in Europa in der einen oder anderen Form umgesetzt wird – verändert den Lehrer zum Lernbegleiter und den Schüler vom passiv Zuhörenden zum aktiv Lernenden. Damit lernen jeder Schüler und jede Schülerin mit ihren jeweils eigenen Tempi die Inhalte, die für sie im Augenblick jeweils angemessen sind. Die bestehende soziale Ungerechtigkeit in unserem Schulsystem kann dadurch abgebaut werden.
2. Angst lähmt – eine lebensbejahende Schule
Schule muss auch Schutzraum für die leicht verletzlichen Seelen der Kinder sein. Bewertungen, Abstufungen, Auslese und Benotung können sehr schmerzhaft sein und als Demütigung und psychische Gewalt empfunden werden. Sie dürfen deshalb nicht – wie auch die Androhung oder Anwendung körperlicher Gewalt – Bestandteil der schulischen Pädagogik sein. Eine Pädagogik der ständigen Auslese widerspricht diesen Grundsätzen und ist deshalb lebensfeindlich und für einen schulischen Erfolg hinderlich.
3. Ein Lebensraum Schule
Schule ist mehr als Unterricht. Schule ist der erste öffentliche Raum für Kinder, wo sie den sozialen Umgang, das Austragen von Konflikten, das Akzeptieren von Mehrheitsbeschlüssen und das fürsorgliche Miteinander erleben und erlernen können. Deshalb ist Schule nur als „echte Ganztagesschule“ sinnvoll und richtig. Hier gibt es den Raum und die Zeit für Gespräche und Begegnungen, die das Miteinander möglich und Werte wie Empathie erst erfahrbar machen. Die Schule muss, je nach ihren spezifischen Gegebenheiten, in die Lage versetzt werden, dass sie ein für sie geeignetes Betreuungskonzept selbst umsetzen kann.
4. Die Sekundarschule 1. Eine Schule für alle.
Gemeinsames Lernen mit unterschiedlichen Tempi und individueller Begleitung bis zum 10. Schuljahr. Eine Pädagogik der Vielfalt, eine lebensbejahende Schule und ein Lebensraum Schule, der die natürliche Vielfalt der ganzen Gesellschaft widerspiegelt, kann nur eine Schule des gemeinsamen Lernens sein. Die Schüler erleben Schule bis zum 10. Schuljahr ohne ständige Auslese, Sortierung und unnatürlichen Druck als ihre sehr persönliche Entwicklungschance. Ihre Neugier, ihr Ehrgeiz, positive Bestärkungen durch ihr Umfeld, die Anregungen durch andere ihrer Gruppe und die Begleitung durch ihre Lehrer sind Triebfedern ihrer persönlichen Entwicklung und Leistungsbereitschaft. Erst eine Sekundarschule für alle, wie hier angesprochen, ist strukturell in der Lage, die oben skizzierten pädagogischen, inklusiven und integrativen Aufgaben auf einem höheren Leistungsniveau für alle zu realisieren.
5. Vorschulische Förderungs- und Entwicklungschancen
Der spätere schulische Erfolg beginnt lange vor dem 1. Einschulungstermin. Die Eltern bleiben die wichtigste Instanz auf dem Weg ihrer Kinder zur Selbstfindung. Kindertagesstätten und Kindergärten sind wichtige Begleiter der Familien auf diesem Weg. Diese vorschulische Entwicklungsphase braucht höchste öffentliche Aufmerksamkeit, um allen Kindern einen optimalen Start in der Schule zu ermöglichen.
6. Weiterbildung: Beruf oder Gymnasium
Die schulische Ausbildung endet nicht mit der 10. Klasse. Entsprechend der Qualifikation der Kinder steht ihnen der Weg zu einer beruflichen Weiterbildung frei, oder sie besuchen das Gymnasium der beruflichen oder der allgemein bildenden Form.
Anhang: Organisatorische Konsequenzen
„Eine bessere Schule für alle“ kann nur funktionieren, wenn die Lehrer hinter der Neuausrichtung der Schule stehen und ausreichend Zeit haben, sich für die neue Pädagogik vorher gut vorzubereiten. Dafür müssen genügend Zeit und Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden, um dies gewährleisten zu können. Es macht deshalb auch keinen Sinn, die Einführung der neuen Schulform gleichzeitig für alle Schulen umzusetzen. Die Entscheidung für die neue Schulform Sekundarschule 1 kann deshalb nur in der Kommune getroffen werden, in der die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Einführung der neuen Schule gegeben sind. Lehrer, die sich nicht auf die neue Schule einlassen wollen oder können, müssen die Chance erhalten, sich an eine andere Schule weg bewerben zu können. Auch muss es möglich sein, dass sich Lehrer an eine Reformschule versetzen lassen können.
Das Lehrerstudium muss sofort an die neuen pädagogischen Herausforderungen angepasst werden.
Eine professionelle Weiterbildung für die bereits angestellten Lehrer muss sicherstellen, dass für die Veränderungen gut ausgebildete Lehrer zur Verfügung stehen und in ihrer Arbeit begleitet werden. Die Bereitschaft für diese Umstellung und das dafür nötige Engagement muss auch entsprechend honoriert werden.
Ebenso ist es wichtig, dass sofort mit einem Grundsatzbeschluss für das neue Schulsystem auch die Voraussetzungen für den Schulbegleitdienst geschaffen werden, damit der dann beginnende Erneuerungsprozess an den Schulen eine professionelle Unterstützung und Begleitung erhält.
Über einen Schulbedarfsplan müssen die finanziellen Bedingungen der neuen Schulen geregelt werden. Dies gilt auch für die Schaffung der neuen Räume und deren Ausstattung, wie auch dafür, die veränderten Schülerströme zu regulieren, beziehungsweise solche Gemeinden darin zu unterstützen, wenn es zu einer Überkapazität an Räumen kommen sollte.
Der Beruf des Lehrers beziehungsweise des späteren Unterrichtsbegleiters sollte sich einem breiteren Berufsspektrum auf dem Arbeitsmarkt öffnen. Eine erhöhte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt würde dazu beitragen, dass durch immer neue Herausforderungen an seine berufliche Karriere eine individuell bessere Platzierung im Arbeitsplatzangebot möglich wäre, als dies bei einer engen Festlegung auf das Tätigkeitsfeld des Lehrers der Fall sein kann. Dies wäre ein Gewinn für beide Seiten, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern. Voraussetzung dafür wäre, auch im Sinne einer Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer auf einem europäischen Arbeitsmarkt in Sachen Bildung, dass auf die Anstellungsform „Beamter“ mittelfristig verzichtet und die Lehrer als ausgebildete Pädagogen im Angestelltenverhältnis beschäftigt würden. Diese Maßnahme müsste so umgesetzt werden, dass die Studenten bei deren Studiumsbeginn bereits wissen, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern werden.
Es ist damit zu rechnen, dass auch in Baden-Württemberg entsprechende Widerstände gegen die neue Schule aus der Bevölkerung kommen werden, wie dies zur Zeit in Hamburg beobachtet werden kann. Es ist ein Thema, das Ängste, Emotionen und ständische Interessen anspricht, und deshalb leicht populistisch missbraucht werden kann. Es wäre deshalb gut, wenn es gelänge, die Entscheidung über die Einführung einer neuen Schule auf ein überparteiliches Gremium zu übertragen. In diesem Gremium müssten alle gesellschaftsrelevanten Verbände und Körperschaften aus Politik und Religion vertreten sein, die auch ein qualifiziertes Entscheidungsrecht haben sollten.
Hartmut von Hentig, der bereits die CDU-Bildungsministerin Schavan 2004 beraten hat, wird sich über seine SPD freuen. Hat sie doch, anknüpfend an die Maxime des Mannheimer Parteitags zum Thema „Sozialdemokratie und Volkserziehung“ – vorgetragen von der Genossin Calar Zetkin und dem Genossen Heinrich Schulz – das komplette Programm des Odenwald-Pädagogen abgebildet: Ganztägige Volkserziehung unter dem Schutzschirm der GEW mit dem Versprechen der Leistungsfreiheit und der Dauerbespielung durch GEW-Animateure. Gefordert wird ein Strauß von Rechten, ohne aber auch nur eine Pflicht zu nennen: Dem Recht auf Bildung steht die Pflicht zur Bildung gegenüber; dem recht auf Erziehung steht die Pflicht zur Erziehung gegenüber. Die antiquierten SPD-Vorstellungen spiegeln ein quasi totalitäres System wider: Wir versprechen Euch alle Rechte und übernehmen Eure Pflichten – in unserem Sinne. Das Ergebnis sind gut erzogene und ausgebildete Sozialisten – der neue Mensch eben, den schon Marx forderte.
Nachtrag:
Der besagt Mannheimer SPD-Parteitag fand im Jahre 1907 statt.