Das Rücktrittsfieber hat nun auch den ranghöchsten deutschen Politiker erfasst. Bundespräsident Horst Köhler ist heute (Montag, 31. Mai 2010) nach nicht ganz sechsjähriger Amtszeit zurückgetreten. Erst im Mai 2009 hatte er sich für seine zweite Amtszeit zur Verfügung gestellt. Im November 2009 besuchte Köhler die Stadt Schwäbisch Hall, was mit seinem Rücktritt aber wohl nichts zu tun haben dürfte.
Kommentar von Ralf Garmatter, Hohenlohe-ungefiltert
Köhler I: Militärischer Einsatz für freie Handelswege
Heute, am Montag, 31. Mai 2010, kurz nach 14 Uhr, erklärte Bundespräsident Köhler, dessen CDU-Mitgliedschaft während seiner Amtszeit als Bundespräsident ruhte, seinen sofortigen Rücktritt. Der neunte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland ist somit der erste, der zurückgetreten ist. Köhler zieht mit seinem überstürzten Rücktritt die Konsequenz aus seinen Äußerungen in einem Interview im Deutschlandradio Kultur vom 22. Mai 2010. Köhler hatte sich auf einem Rückflug von Afghanistan in einem Interview geäußert. Die viel kritisierte Passage im Wortlaut: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. Alles das soll diskutiert werden, und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.“
Köhler II: Deutschland führt in Afghanistan keinen Wirtschaftskrieg
Die Einschätzung seiner Worte, Deutschland führe in Afghanistan einen Wirtschaftskrieg, wollte Köhler danach aber nicht gelten lassen. „Die Unterstellung“, so Köhler, er habe einen grundgesetzwidrigen Einsatz der Bundeswehr im Ausland zur Sicherung von Wirtschaftsinteressen befürwortet, entbehre jeder Grundlage, meinte der 67-Jährige heute in seiner rund dreiminütigen Rücktrittsrede. „Sie (Anmerkung der Redaktion: die Kritik) lässt den notwendigen Respekt vor meinem Amt vermissen“, sagte Köhler wörtlich.
Köhler III: Er lässt den notwendigen Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten vermissen
Da scheint Köhler wohl etwas zu verwechseln. Nicht die Kritiker lassen den notwendigen Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten vermissen, sondern vielmehr er selbst. Köhler streift das Amt ab, wie ein schmutziges, abgetragenes Hemd. Es zeugt nicht gerade von Haltung, wenn sich der Kapitän bei der ersten steifen Brise von Bord des Staatsschiffs Deutschland fegen lässt – nein, nicht fegen lässt, sondern sich im Hechtsprung selbst über die Reling stürzt. Verantwortungsbewusstsein sieht anders aus. Beim letzten offiziellen Auftritt als Bundespräsident – seinem Rücktritt – wirkte Horst Köhler weinerlich, sogar etwas beleidigt. Zum Beleidigtsein hat er nun wirklich keinen Grund. Wenn er als Bundespräsident nur der Vorleseonkel sein wollte, den alle herzig und süß finden müssen, dann hat er seine Aufgabe gründlich missverstanden. Ein Staatschef in einem demokratischen Land kann nicht erwarten, dass ihn alle nur mit Samthandschuhen anfassen.
Köhler VI: Ein schwacher Abgang
Von einem „Ersten Mann“ in einem 80-Millionen-Einwohner-Staat muss man größere Nehmerqualitäten und mehr Kritikfähigkeit erwarten können. Mit seiner Einschätzung, Deutschland führe bewaffnete Einsätze auch aus wirtschaftlichen Gründen, liegt er ja nicht falsch. Nur sollte er auch den Mut besitzen und zu seinen Äußerungen stehen. Wenn er das nicht kann, ist es tatsächlich besser, er schmeißt den Bettel hin und macht Platz für einen Neuanfang. Weil er sich aus eigenen, freien Stücken vom Acker macht, muss ihm niemand eine Träne nachweinen. Auch nicht Roland Koch, ebenfalls ein Politiker, der nicht genügend Durchhaltevermögen besitzt. Der scheidende Ministerpräsident Hessens, er gab erst vor sechs Tagen seinen Rücktritt zum 31. August 2010 bekannt, bedauert Köhlers Rücktritt mit den Worten: „Bei seinen Besuchen im Land war immer wieder zu spüren, wie viel Sympathie ihm die Menschen entgegenbrachten. Und durch sein Auftreten außerhalb der Landesgrenzen hat er das Ansehen Deutschlands in aller Welt gemehrt.“ (Zitiert in der Online-Ausgabe der Financial Times Deutschland vom 31. Mai 2010).
Die Rücktrittsrede Horst Köhlers vom 31. Mai 2010 im Wortlaut:
„Meine Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 22. Mai dieses Jahres sind auf heftige Kritik gestoßen. Ich bedaure, dass meine Äußerungen in einer für unsere Nation wichtigen und schwierigen Frage zu Missverständnissen führen konnten. Die Kritik geht aber so weit, mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen. Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten – mit sofortiger Wirkung.
Ich danke den vielen Menschen in Deutschland, die mir Vertrauen entgegengebracht und meine Arbeit unterstützt haben. Ich bitte sie um Verständnis für meine Entscheidung.
Verfassungsgemäß werden nun die Befugnisse des Bundespräsidenten durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen. Ich habe Herrn Bürgermeister Böhrnsen über meine Entscheidung telefonisch unterrichtet, desgleichen den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages, die Frau Bundeskanzlerin, den Herrn Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und den Herrn Vizekanzler. Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen.“
Das gesamte Interview mit dem Deutschlandradio Kultur im Wortlaut auf der Internetseite http://www.dradio.de/aktuell/1191138/
Info:
Fast vier Tage nach der Rücktrittserklärung (Donnerstag, 3. Juni 2010, um 22.33 Uhr) war auf der offiziellen Internetseite von Bundespräsident Horst Köhler in dessen Lebenslauf noch nichts von seinem sofortigen Ausscheiden aus dem Amt zu lesen (http://www.bundespraesident.de/-,11050/Bundespraesident-Horst-Koehler.htm).
„Der Einfluss der Blogger auf den Rücktritt des Bundespräsidenten
Von petrapez | 3.Juni 2010
ZDF Heute-Journal: Köhler von Bloggern zu Fall gebracht
An dem Beispiel des Rücktritts des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler thematisiert das ZDF in einem Beitrag, dass das Monopol der Meinungsbildung des politischen Feldes nicht mehr den etablierten Medien vorbehalten ist….
Horst Köhler hat mit seiner Unterschrift zu den Finanzrettungspaketen ganze Generationen ruiniert und die Kommunen stehen vor dem Ausverkauf – der Spardruck führt überall zu drastischen Einsparungen im gesellschaftlichen Leben…“
http://www.radio-utopie.de/2010/06/03/der-einfluss-der-blogger-auf-den-rucktritt-des-bundesprasidenten/#more-20079
Ich stimme zu, Köhlers Abgang und seine Begründung ist des Amtes des Bundespräsidenten nicht würdig. Sie lassen den notwendigen Respekt für das Amt vermissen.
Die Nachbesetzung ebensowenig: Ob von der Leyen oder Wulff, wer auch immer. Der Bundespräsident ist von Merkels Gnaden, aus den Reihen der Regierung.
Interessante Stellungnahme von Ralf Garmatter.
Wenn man sich die Rücktrittserklärung anschaut und auf sich wirken lässt, kann man persönliche Betroffenheit erkennen. Das berührt menschlich.
Sehr interessante Überlegungen zu den Hintergründen kommen vom Abgeordneten Peter Gauweiler und Blogger Peter Ziemann:
„…Gauweiler vermutet, dass die Rücktritts-Gründe ganz andere Ursachen haben: Zum Rücktritt haben Sie sich in engem zeitlichen Zusammenhang mit Ihrer Unterschrift unter das sogenannte Euro-Schutzgesetz entschlossen. Er spricht wegen dieses extrem weit reichenden Gesetzes, das Ermächtigungen für die Regierung in dreistelliger Milliardenhöhe enthält, von einem Bürgschafts-Ermächtigungs-Gesetz…“
„…Peter Gauweiler äußert in seinem offenen Brief auch Details über den Prozess, mit dem Köhler praktisch zu seiner Unterschrift unter das Gesetz zwecks Verkündung im Bundesgesetzblatt genötigt wurde: Die Bundesregierung teilte mir auf meine Anfrage schriftlich mit, sie habe das Gesetz zur Euro-Stabilisierung am Nachmittag des 21. Mai 2010 nach Beendigung der Sitzung des Bundesrates dem Bundespräsidenten übermittelt. Sie wissen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits meine Klage beim Bundesverfassungsgericht vorlag. Tatsächlich waren Sie zu dieser Zeit noch auf dem Rückweg von Ihrem Truppenbesuch in Afghanistan, von dem Sie erst kurz vor Mittagnacht zurückkehrten und das Gesetz noch nicht persönlich in Augenschein nehmen konnten. Gleichwohl berichteten die Agenturen noch vor Ihrer Rückkehr, dass Sie am Samstag – 22. Mai 2010 – das Gesetz unterschreiben wollten.
Die Presseabteilung des Bundespräsidialamtes verschickte trotzdem am Freitag, angeblich versehentlich, eine fertig gestellte Pressemitteilung, wonach das Gesetz schon ausgefertigt wäre. Obwohl Köhler zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Rückweg gewesen ist.
Der Druck kam wohl von Angela Merkel persönlich, die Sarkozy, Trichet und Strauss-Kahn versichert hat, dass das Gesetz bis zur Eröffnung der Märkte am Montag früh in Asien in Kraft treten solle.
Köhler hat also nicht nur mit seiner Unterschrift zum Euro-Schutzgesetz praktisch seinen selbst verhandelten Stabilitäts-Vertrag von Maastricht zu Grabe getragen. Er war insbesondere während seiner Tätigkeit beim IWF für die praktisch grenzenlose Ausweitung der Globalisierung und weltweiten Verflechtung der Finanzmärkte beteiligt. Wohin uns das geführt hat, wissen wir spätestens nach der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008….“
Link am 22. 6. 2010: http://www.bullionaer.de/shop/showZiemann.php/action/latest
Die „amerikanischen Verhältnisse“, i.e. Abgeordnete (und Verantwortliche wie Herr Bundespräsident a.D. Köhler) werden massiv unter Druck gesetzt, für Gesetze zu stimmen/zu unterzeichnen, die sie noch nicht einmal lesen konnten, sind mittlerweile in Deutschland angekommen. Wer sich dafür interessiert und diese Sachverhalte recherchieren möchte, findet reichlich Material dazu im Zusammenhang mit den US-Ermächtigungsgesetzen nach dem 11.9. Das bezeichne ich nicht als „Demokratie“.
In Sachen „Horst weg“ (Zitat Bild-Zeitung) möchte ich auch Herrn Dr. Joachim Jahnke, Vizepräsident der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London a.D., zitieren, der mit Herrn Horst Köhler zusammenarbeitete. Er schildert hier seine persönlichen Eindrücke und Meinung:
„Schon in meinen persönlichen Erfahrungen mit Köhler zeichnete sich sein Sturz ab (ein Nachruf)
…Er hatte seine ganze berufliche Karriere lang an die Idee des Neoliberalismus geglaubt und sich dafür eingesetzt. Doch die war mit der Finanzkrise in die Brüche gegangen. Banker als „Monster“ zu bezeichnen, reichte für die Analyse und vor allem die Lösung nicht aus, zumal er selbst lange Jahre Banker gewesen war und nicht den Mut gehabt hatte, sich seiner eigenen Vergangenheit zu stellen…“ (Zitat Ende).
http://www.jjahnke.net/rundbr71.html#2024